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# taz.de -- Rassismus beim Rettungsdienst: Rechte Retter
> Hass auf Geflüchtete, Nazi-Geburtstage im Kalender, rassistische Chats:
> Rettungskräfte haben ein Problem mit Rechtsextremismus in den eigenen
> Reihen.
Köln und Berlin taz | Gleich neben der Tür im Aufenthaltsraum der Feuer-
und Rettungswache 9 in Köln hängt ein Kalender. An einem Sommertag im Jahr
2020 stehen darin plötzlich ein paar neue Namen, mit blauem Kugelschreiber
hineingekritzelt. Alle Sanitäter:innen der Johanniter, die sich hier
in der Pause einen Tee kochen oder auf den Sofas ausruhen, können sie
sehen. Joseph Goebbels, Eva Braun, und am 20. April: Adolf.
Die Johanniter Unfallhilfe ist eine der großen Hilfsorganisationen in
Deutschland. Evangelisch, der christlichen Nächstenliebe verpflichtet. Das
weiß-rote Johanniter-Kreuz prangt auf Krankenwagen, auf
Rettungshubschraubern, auf den Jacken von Sanitätern und Notärztinnen. In
ganz Deutschland übernehmen die Johanniter einen Teil des Rettungsdienstes,
6.000 Mitarbeitende auf rund 300 Wachen gibt es. Ihre Hilfe richte sich an
„Menschen gleich welcher Religion, Nationalität und Kultur“, heißt es im
Leitbild der Organisation. Und: „Unser Umgang miteinander ist geprägt von
Achtung und Respekt.“
Auf der Feuerwache 9 in Köln, wo die Johanniter unter anderem einen
24-Stunden-Rettungswagen besetzen, klaffen Leitbild und Wirklichkeit weit
auseinander. Die Nazi-Geburtstage im Kalender sind nur der plakative
Höhepunkt einer jahrelangen Entwicklung: Rechtsradikale konnten ihre
Weltanschauung hier ziemlich frei ausleben. Ein Mitarbeiter hingegen, der
das Problem ansprach, wurde gekündigt. „Ich wurde rausgemobbt“, sagt er.
In jüngerer Zeit ist der Rettungsdienst immer wieder in den Schlagzeilen.
[1][Es geht um Personalmangel, Überstunden, Überlastung.] Es geht darum,
dass etwa in Berlin von 140 Krankenwagen an einem Samstag nur 80 verfügbar
sind, oder darum, dass Sanitäter:innen im Dienst angegriffen wurden.
Darüber wird zu recht gesprochen.
Über Rassismus und Rechtsextremismus im Rettungsdienst reden die
Mitarbeiter:innen dagegen nicht so gerne. In diesem Job verbringt man
viel Zeit miteinander, auf engem Raum, in 12- oder 24-Stunden-Schichten.
Man rast zusammen mit Blaulicht durch die Stadt, man meistert emotionale
Einsätze gemeinsam – das verbindet, da verrät man einander nicht.
Korpsgeist. Selbst wer sensibel für problematische Entwicklungen ist,
schweigt oft lieber, aus Angst vor Konsequenzen am Arbeitsplatz.
Aber manche reden dann doch. In den vergangenen Monaten haben wir
ausführlich mit mehr als einem Dutzend Rettungsdienst-Mitarbeitenden
gesprochen. Die meisten wollen anonym bleiben. Sie arbeiten in
verschiedenen Organisationen, in verschiedenen Bundesländern und in
verschiedenen Positionen. Wir konnten Chatgruppen und interne Mails
einsehen, Berichte und Unterlagen aus arbeitsrechtlichen Streitigkeiten.
Wir stießen auf Rettungsdienst-Mitarbeitende, die sich gegenseitig ein
NS-Lied auf dem Handy vorspielen oder gegenüber Kolleg:innen äußern,
dass sie ein Flüchtlingsheim lieber anzünden würden, als den
Bewohner:innen dort zu helfen. Alles Fälle, von denen die
Öffentlichkeit bislang nichts weiß.
Aus den Schilderungen und Dokumenten wird deutlich: Rechte Retter sind
keine Ausnahme. Der Rettungsdienst in Deutschland hat ein Problem mit
Rassismus und Rechtsextremismus – und kaum ein:e Vorgesetzte:r
unternimmt etwas dagegen. Seit dem Flüchtlingssommer 2015 ist die Lage
offenbar schlimmer, oder zumindest offensichtlicher geworden. Leidtragend
sind der taz-Recherche zufolge vor allem Mitarbeitende mit
Migrationshintergrund – und Patient:innen.
## Üble Spielchen auf Wache 9
Guido Schäpe, 52 Jahre alt, seit 2003 als Sanitäter auf der Feuer- und
Rettungswache 9 in Köln-Mülheim, kann heute nicht mehr sagen, wann genau es
anfing. Es waren viele kleinere Dinge, die zusammen ein dunkles Bild
ergeben.
Da war der Anti-Islam-Aufkleber auf der Toilette. Der Kollege, der auf der
Außenwache gerne die Junge Freiheit las. Die Flyer der „Identitären
Bewegung“, die dort auslagen; zwei Mitarbeitende, die aus ihrer Nähe zur
rechtsextremen Organisation vor dem Kollegium keinen Hehl machten. Einer
der beiden hat schon vor Jahren ein Spiel geprägt, zum Zeitvertreib während
der Fahrt. Sie nannten es das „Möp-Spiel“: Immer wenn man eine schwarze
Person auf der Straße sieht, muss man „möp“ sagen. Gedanklich wurde dann
eine Strichliste geführt. Das alles berichtet nicht nur Schäpe, es
bestätigen auch mehrere seiner Kolleg:innen.
Fast 20 Jahre hat Guido Schäpe bei den Johannitern gearbeitet. Er hat sich
fortgebildet, war erst Rettungssanitäter, dann Rettungsassistent, und seit
2017 Notfallsanitäter. Das ist die höchste Qualifikation nach dem Notarzt.
Guido Schäpe ist ein großer Mann mit breitem Kreuz. Er ist politisch links
eingestellt, so sagt er es über sich selbst. Aber noch mehr sagen das seine
damaligen Kolleg:innen. Den langhaarigen Bombenleger aus Kreuzberg hätten
sie ihn früher scherzhaft genannt. Damit kam er klar. Mit seiner Biografie
war er auf der Wache eher der Außenseiter. Er hat jahrelang [2][auf dem
linken Musikfestival Fusion] mitgearbeitet. Später [3][war er für Sea
Watch] unterwegs und holte Geflüchtete aus dem Mittelmeer. „Wenn du einmal
mit dem Rettungsdienst angefangen hast, dann willst du nie wieder etwas
anderes arbeiten“, sagt Schäpe.
Nur habe das, was er mit dem Beruf verbunden hat – Menschen helfen, Leben
retten – irgendwann nicht mehr zu dem gepasst, was er im Alltag erlebt
habe. Verstärkt aufgefallen sei es ihm ab 2015, 2016, sagt Guido Schäpe.
Das, was manche Kolleg:innen in Köln von sich gaben, wurde eindeutiger,
beunruhigender. Einige bekannten sich als AfD-Fans. Andere sprachen
schlecht über Geflüchtete oder äußerten [4][Reichsbürger-Parolen].
Und dann stehen im Sommer 2020 plötzlich die Nazi-Größen im Wandkalender.
Der taz liegen Fotos davon vor. Es ist auf der Wache kein Geheimnis, wer
die Namen eintrug. Mehrere Personen haben den Mann nach taz-Recherchen
dabei beobachtet.
Am 11. August 2020 schreibt Guido Schäpe eine Mail an seine Vorgesetzten
bei den Johannitern, darunter der Regionalvorstand, der Wachleiter und der
Dienstgruppenleiter. Auch die Mitarbeitendenvertretung ist im Verteiler.
„Liebe Kollegen“, schreibt Schäpe, „leider muss ich euch von erschrecken…
Entwicklungen auf der FW 9 berichten. In dem Wandkalender, der im
Aufenthaltsraum des Containers hängt, wurden mehrere Geburtstage von
Nazigrößen eingetragen.“ Es gebe Zeugen dafür, wer das gemacht habe, aber
niemand wolle etwas sagen, aus Angst vor Ausgrenzung. Es gebe eine „Mauer
des Schweigens“, es herrsche ein „Klima der Angst“ auf der Feuerwache 9,
schreibt er und schildert in der Mail weitere rechte Vorfälle. „Die
Leitwerte [der] Johanniter und der Humanismus werden hier mit Füssen
getreten.“
Der Regionalvorstand Reinhold Lapp-Scheben antwortet Schäpe am nächsten
Tag, die Mail geht auch an den Wachleiter und den Dienstgruppenleiter. „Die
derzeit im Raum stehenden Vorwürfe“ verlangten eine „zeitnahe und
gründliche Aufklärung“, schreibt der Regionalvorstand. Und: „Als Johannit…
können und wollen wir, sollten sich die Vorwürfe erhärten, diese nicht
dulden.“ Er bittet um sachdienliche Hinweise. „Wichtig ist, dass wir
zeitnah agieren“. Er werde auch mit dem ärztlichen Leiter des
Rettungsdienst sprechen, gegebenenfalls müsse ein Rettungswagen außer
Dienst genommen werden. Weil man sich von einigen Mitarbeitenden
kurzfristig trennen müsse. Er klingt ziemlich entschlossen.
Doch dann eskaliert die Angelegenheit in eine unerwartete Richtung.
Der Regionalvorstand und der Wachleiter bekommen wieder Post, aber nicht
von Guido Schäpe. „Betreff: Personeller Konflikt Feuer-/Rettungswache 9“.
Unterschrieben haben den Brief 20 von gut 50 Mitarbeitenden der Wache, auch
der Dienstgruppenleiter soll darunter gewesen sein, erfährt Schäpe.
Formuliert hat das Schreiben offenbar der Mann, der die Namen der Nazis in
den Kalender eintrug.
In dem Brief üben die Unterzeichnenden Kritik an Guido Schäpe. Er habe nur
im Notarztfahrzeug eingesetzt werden wollen und nicht im Rettungswagen, er
habe Wohnungen nicht betreten wollen, aus Angst vor einer
Corona-Ansteckung. Dies sorge für „Unmut und Unverständnis bei der
Mitarbeiterschaft“. Nachdem Guido Schäpe darauf angesprochen worden sei,
heißt es im Brief weiter, habe er „als vermeintliche Ablenkung vom
eigentlichen Problem zu einem großen Paukenschlag ausgeholt, indem er einen
nicht vorhandenen ‚Rassismus-Eklat‘ ins Leben gerufen hat.“ Man werde es
nicht hinnehmen, dass hier „in unerträglicher Art und Weise das Personal
der Rettungswache 9 in Verbindung mit vermeintlichem ‚Rassismus‘ gebracht
wird“. Guido Schäpe, so die Forderung, solle die Wache verlassen.
Nicht im Brief steht, dass auf der Wache einige Mitarbeitende [5][als
Corona-Leugner aufgefallen] sind und Schutzmaßnahmen offenbar nicht immer
richtig eingehalten wurden. Mehrere Mitarbeiter verbreiten online
Querdenker-Parolen, einer bezeichnet Karl Lauterbach in seinem
WhatsApp-Status als „Hurensohn“.
Und jetzt? Sollen nicht die rechten Retter gehen, sondern der Mann, der
Rassismus und Rechtsextremismus angesprochen hat.
Es kommt zu Treffen auf unterschiedlichen Ebenen, zu 18 Einzelgesprächen
mit Mitarbeitenden. „Aber es gab keinen Willen, dass sich was ändert“, sagt
Guido Schäpe rückblickend. Der Wachleiter habe ihm empfohlen, die
„Umfeldbeleuchtung“ auszumachen, nicht mehr schauen, was die anderen so
machen. Und der Dienstgruppenleiter habe ihm nahegelegt, er solle nicht
„dauernd in alten Wunden rumdrücken“. So erinnert sich Schäpe.
Der Wachleiter will nicht mit der taz sprechen, der damalige
Regionalvorstand der Johanniter, Reinhold Lapp-Scheben, ist nicht zu
erreichen, er ist inzwischen in Rente. Die Pressesprecherin der Johanniter
Köln antwortet zunächst nur ausweichend auf Fragen. Der Mann, der die Namen
in den Kalender geschrieben haben soll, stimmt einem Gespräch mit der taz
erst zu, sagt dann aber wieder ab. Als wir ihm Fragen schicken, behauptet
er, er wisse nichts von einem Kalender. Er habe mit Nazis nichts zu tun. Er
schreibt: „Woher nehmen Sie diese schwachsinnigen Falschinformationen, wer
startet hier eine Hetzkampagne?“
Nicht alle Kolleg:innen auf der Wache sehen die Situation so dramatisch
wie Guido Schäpe. Der sei als Linker eben angeeckt, sei ein sehr
emotionaler Mensch, habe provoziert. Zur Entschuldigung führten manche an:
Auch die Geburtstage von Jesus und Stalin seien im Kalender vermerkt
gewesen.
## Lieber Hetze als Hilfe
Eine Rettungswache an einem anderen Ort in NRW, sie wird vom Malteser
Hilfsdienst besetzt, einer weiteren großen Hilfsorganisation in
Deutschland. Sie ist katholisch und hat das Motto: „… weil Nähe zählt“.…
Wache liegt in der Nähe eines Wohngebiets, grasfreie Pflasterfugen,
Vorstadtidylle. Mehrere Rettungswagen sind hier stationiert, 24 Stunden
Bereitschaft, dazu kommen Krankentransporte. Genauer können wir den Ort
nicht beschreiben, um unsere Quellen zu schützen.
Die Mitarbeitenden hier kommunizieren in mehreren Chatgruppen, eine hat
einen offiziellen Charakter, dort geht es zum Beispiel um Dienstpläne und
den Tausch von Einsatzschichten. In einer anderen Gruppe geht es um solche
dienstlichen Belange nur am Rande. Diese Chatgruppe konnte die taz
einsehen.
Die Kolleg:innen schicken sich dort Fotos und teilen private
Veranstaltungstipps. Vor allem machen sie Witze, posten [6][Memes aus dem
Internet.] Einige davon haben Bezug zu ihrem Job, etwa der Spruch: „Mit der
Leitstelle ist es wie mit Frauen. Wenn du glaubst, sie zu verstehen, bist
du sicher komplett auf dem Holzweg“. Manche Männer und Frauen aus der
Gruppe verschicken sexistische Motive, etwa eine Fotomontage von Greta
Thunberg mit riesigen Brüsten.
Und dann sind da die rassistischen Inhalte. Ein Foto von Schwarzen mit
Federschmuck, darüber steht, dass Kannibalen in Papua-Neuguinea Flüchtlinge
aufnehmen würden und der Satz „Damit ist das Thema gegessen“. Einer
verschickt das Foto von einem schwarzen Jungen, mit dem Text: „Das ist
Mabuto, sein Schulweg beträgt täglich 3 Stunden. Spende jetzt 5€ und wir
kaufen eine Peitsche und wir garantieren, dass der faule N***** es in 8 min
schafft“. Das N-Wort ist ausgeschrieben.
Niemand in der Gruppe reagiert darauf. Niemand sagt: Lasst das.
Der Rettungsdienst, das hören wir immer wieder, ist ein hartes Geschäft.
Aggressive Patientient:innen, anstrengende Einsätze, schlaflose Nächte. Da
braucht man etwas, um sich abzureagieren – deswegen hätten viele im
Rettungsdienst einen derben Humor. Nur ist das, was in den Chatgruppen
geteilt wird, eben keine harmloses Witzeln mehr.
Der Rassismus beschränkt sich nicht auf die Chatgruppe. Auf der
Malteser-Wache werden Mitarbeiter:innen von ihren eigenen
Kolleg:innen rassistisch beschimpft, ergibt unsere Recherche. Ein
Mitarbeiter, der aus Iran nach Deutschland gekommen ist, wurde als
„Kameltreiber“ bezeichnet, eine andere Mitarbeiterin mit
Migrationshintergrund als „scheiß Ausländerin“.
Rettungsdienst-Mitarbeitende aus ganz Deutschland berichten von solchen
Vorfällen. Eine junge Frau mit Migrationshintergrund, die ein Freiwilliges
Soziales Jahr beim Arbeiter-Samariterbund abgebrochen hat, sagte der taz:
„Es war die schlimmste Zeit meines Lebens.“ Wie sie sind es oft jüngere
Personen, die für Rassismus und Sexismus sensibilisiert sind. Dahinter
steht auch ein Generationenkonflikt beim Rettungsdienst: Die Jüngeren sind
oft besser ausgebildet, haben aber weniger zu melden, weil sie in dem
streng hierarchischen System weiter unten stehen.
Da ist der Sanitäter, der beim Einsatz im Fußballstadion die Spieler eines
türkischen Vereins als „Dreckskanacken“ bezeichnete. Da ist der
Dienstgruppenleiter, der einem Praktikanten sagte: „Deinen Nachname kann
ich eh nicht aussprechen, ab sofort heißt du Isis oder Taliban“. Und da ist
der Mann auf der Malteser-Rettungswache in NRW.
Ein Notfall in einem Flüchtlingsheim. Der Rettungsdienst-Mitarbeiter sagt:
„Ich würde die Flüchtlinge lieber anzünden, als einem von ihnen zu helfen.…
Drumherum hätte ein knappes Dutzend Kolleg:innen gestanden, so schildert
es eine Person, die dabei war. Die meisten hätten gelacht.
Der Landesverband der Malteser in Nordrhein-Westfalen teilt auf taz-Anfrage
mit, diese Vorfälle seien auf Landesebene nicht bekannt. Man gehe ihnen
„selbstverständlich unverzüglich“ nach. „Wir verurteilen so ein
menschenverachtendes Verhalten, generell und insbesondere in unseren
eigenen Reihen“, sagt ein Sprecher.
Die Sprüche unter Kolleg:innen sind das Eine. Sie sorgen dafür, dass
etliche Sanitäter:innen ihren Job weniger gern machen, besonders
natürlich diejenigen, die direkt von rassistischen Bemerkungen betroffen
sind. Sie kapseln sich auf der Wache ab, kündigen schließlich vielleicht.
Aber dabei bleibt es nicht. Die rassistische Einstellung der rechten Retter
hat auch Auswirkungen auf ihre zentrale Aufgabe: verletzten und kranken
Menschen helfen. Leben retten. Wer in Not ist, muss dem Personal des
Rettungsdienstes vertrauen. Man könnte sagen: Er oder sie ist diesen
Menschen ausgeliefert, hat selten Chancen, sich zu wehren, weiß nicht,
welche Diagnostik notwendig ist und welche nicht. Wer nicht gut Deutsch
spricht, ist in der Not noch verletzlicher.
Werden schwarze, muslimische, eingewanderte Menschen schlechter behandelt
als weiße Deutsche?
## „Morbus Bosporus“
Es gibt einen Begriff, der in keinem normalen Medizinlehrbuch steht, der im
Alltag des Rettungsdienstes aber in vielen Situationen benutzt wird, als
sei er ein ganz normaler Fachbegriff: [7][„Morbus Bosporus“]. Manchmal ist
auch von „Morbus Mediterraneus“ die Rede oder von dem „Südländer-Syndro…
Manche sagen auch schlicht TMS. „Türke mit Schmerz“. Gemeint ist immer
Dasselbe.
Die Begriffe werden verwendet bei Menschen, von denen angenommen wird, dass
sie ursprünglich nicht aus Deutschland kommen, sondern irgendwo aus dem
Süden, Mittelmeerraum, Naher Osten. Das wird an ihrem Aussehen festgemacht
oder schlicht am Namen. Diese Menschen hätten ein anderes Schmerzempfinden
– so sehen es offenbar viele im Rettungsdienst. Sie äußerten heftige
Schmerzen, obwohl es gar nicht so schlimm sei. Man hält sie für Simulanten.
Menschen gehen unterschiedlich mit Schmerz um. Es mag Hinweise geben, dass
das auch kulturell bedingt ist. Für ihre Arbeit können Rettungskräfte
daraus medizinisch begründet allerdings nichts ableiten. Dass es manche
dennoch tun, hat Folgen: Patient:innen werden schlechter behandelt,
weil die von ihnen geäußerten Beschwerden nicht ernst genommen werden.
So halte es laut Schilderungen aus seinem Umfeld auch der
Johanniter-Mitarbeiter, der die Nazi-Geburtstage in den Kalender
geschrieben hat. Der Notfallsanitäter sei fachlich nicht schlecht, aber da
sei eben seine Einstellung. Er trage stolz ein T-Shirt mit
Deutschlandflagge, wenn er eine türkische Flagge sehe, rege er sich auf:
„Ich hasse Türken“. Und Einsätze bei Menschen mit Migrationshintergrund
seien für ihn oft: „nur Pillepalle“. In Köln-Mülheim leben viele Menschen
mit Migrationshintergrund.
Wir bekommen diesen Vorfall geschildert: Ein Patient, der nur türkisch
spricht, ist apathisch, kaltschweißig, sehr blass. Das sind durchaus
Anzeichen für schwerwiegende Krankheiten. Der Notfallsanitäter sieht das
anders, er bleibt während des Einsatzes im Führerhaus sitzen. Der
Rettungssanitäter und der Auszubildende müssen alleine raus. Sie rufen die
Tochter des Patienten an, damit sie übersetzt. „Wäre der Patient blond
gewesen, mit blauen Augen, hätte er den Einsatz sofort übernommen“, sagt
ein damaliger Kollege.
„Morbus Bosporus“, immer wieder: „Ich habe den Begriff bestimmt hundertmal
gehört“, sagt ein langjähriger Notfallsanitäter, der für das Deutsche Rote
Kreuz in Rheinland-Pfalz und Hessen im Einsatz war. Einer aus Niedersachsen
sagt: „Jeder im Rettungsdienst kennt diesen Begriff“. Er habe die
Bezeichnung sogar schon in Arztbriefen gelesen, berichtet ein leitender
Rettungsdienst-Mitarbeiter aus Berlin.
Dass die diskriminierende Pseudo-Anamnese mit Begriffen wie „Morbus
Bosporus“ ein Problem ist, hat auch Guido Schäpe in der Mail an seine
Vorgesetzten erwähnt. Passiert ist: nichts.
Eine Sprecherin der Johanniter Köln bezeichnet den Begriff auf Anfrage als
„absolut inakzeptable Bezeichnung“, die die Gefahr von „unvollständigen
diagnostischen Maßnahmen“ berge.
Wie schlimm sind die Folgen für Betroffene, wenn
Rettungsdienstmitarbeitende rassistische Vorurteile haben?
Allzu oft lässt sich das nur schwer sagen. Bei Notfallbehandlungen besteht
ein gewisser Ermessensspielraum: Legt man nach einem Sturz ein EKG an, weil
es eine organische Ursache geben könnte? Lässt man einen Verletzten zum
Rettungswagen laufen oder trägt man ihn? Mehrere
Rettungsdienstmitarbeiter:innen berichten der taz, dass sie erlebt
haben, wie dieser Spielraum bei von Rassismus betroffene Menschen eher weit
ausgedehnt wird, und das nicht zu Gunsten der Patient:innen. Wir können zum
Schutz der Quellen diese nicht genauer angeben.
Ein weiterer Einsatz der Johanniter in Köln: [8][Eine Frau mit Kopftuch]
krümmt sich auf der Straße plötzlich unter heftigen Unterleibschmerzen,
liegt in Embryohaltung auf dem Boden, Passanten wählen die 112. Aber die
Rettungsdienstler nehmen das nicht richtig ernst. Nach dem Einsatz hätten
sie Witze gemacht, „über das Kopftuch abgefuckt“ und gemeint, nur wegen der
Regelblutung „macht die so ne Show“, dabei sei noch gar nicht klar gewesen,
was sie hatte.
Auch auf der Malteser-Wache in NRW berichtet man uns, dass viele Kollegen
bestimmten Menschen nicht helfen wollten: „Die haben keinen Bock auf die
Behandlung von Geflüchteten.“ Sie würden dann keine richtige Anamnese
erheben, keine Vitalparameter, sie würden nicht viel fragen und die
Patient:innen nur in den Rettungswagen verfrachten und ins Krankenhaus
fahren.
Wer versucht, nachzuweisen, dass ein Notfallpatient schlechter behandelt
wurde, weil er nicht weiß ist oder einen arabisch klingenden Nachnamen hat,
hat es schwer. Das zeigt [9][ein Fall aus Delmenhorst, der in der
Öffentlichkeit immerhin für Empörung gesorgt hat.]
Dort starb im März 2021 der 19-jährige Qosay K. in Polizeigewahrsam. Warum,
das ist bis heute unklar. Aber seine Freunde und Familie glauben, dass sein
Tod hätte verhindert werden können, wenn zwei Rettungsdienstmitarbeitende
ihn besser behandelt hätten.
Qosay K. war mit einem Freund von Polizisten beim Kiffen erwischt worden.
Als er zu entkommen versuchte, setzten die Polizisten Pfefferspray ein,
warfen K. zu Boden und fesselten ihn. Routinemäßig wurde ein Krankenwagen
dazu gerufen, aber die Rettungskräfte behandelten Qosay K. nicht. Er habe
die Hilfe verweigert, gaben sie später an. Eine Stunde nach dem Eintreffen
kollabierte K. auf der Polizeistation und wachte nicht mehr auf.
Die Anwältin Lea Voigt vertritt die Angehörigen von Qosay K. Sie hat
Anzeige gegen die Polizisten und gegen die beiden Rettungskräfte erstattet,
unter anderem wegen unterlassener Hilfeleistung. Ein Freund von Qosay K.,
der bei der Festnahme dabei war, sagte damals der taz, dass Qosay K. den
Rettungsskräften deutlich gezeigt habe, dass er unter der Wirkung des
Pfeffersprays litt. Er habe gesagt, dass ihm übel sei, er keine Luft
bekomme. „Daraufhin meinte der Sanitäter, dass er gerade schauspielere“,
sagt der Augenzeuge.
Anwältin Voigt sieht keine Anhaltspunkte dafür, dass Qosay K. unmittelbar
am Pfefferspray gestorben ist. „Aber hätten die Sanitäter ihn am Ort der
Festnahme ordentlich untersucht, hätten sie den Grund für sein Unwohlsein
vielleicht gefunden und damit seinen Tod verhindern können.“
Der Delmenhorster Rettungsdienst-Chef wies die Vorwürfe zurück. Drei Monate
nach dem Tod von Qosay K. wurde das Verfahren gegen die Rettungskräfte
eingestellt. Rettungskräfte seien nicht zur Hilfe verpflichtet, wenn jemand
Hilfe ablehne, so die Staatsanwaltschaft.
## Fehlende Kontrolle
Wenige haben so viel Erfahrung im Rettungsdienst wie der Arzt Alex
Lechleuthner, weißer Vollbart, 63 Jahre alt. Seit 1994 ist er bei der
Feuerwehr in Köln tätig, seit 1996 sitzt er im Landesfachbeirat für den
Rettungsdienst beim Ministerium für Gesundheit in NRW, Professor ist er
nebenbei auch noch. 2020 wurde er mit dem Deutschen Preis für
Notfallmedizin ausgezeichnet.
Lechleuthner ist „Ärztlicher Leiter Rettungsdienst in Köln“ und damit
oberster Chef für knapp 2.000 Mitarbeitende. 170.000 Einsätze fahren die im
Jahr. Einmal pro Woche ist er selbst noch als Notarzt unterwegs, er will
den Bezug zum Alltag nicht verlieren.
In den meisten Kommunen ist der Rettungsdienst ähnlich organisiert wie in
Köln: Die Berufsfeuerwehr löscht nicht nur Brände, sie fährt auch einen
relevanten Teil des Rettungsdienstes. Den Rest erbringen Dienstleister wie
die Johanniter und Malteser. Der ärztliche Leiter hat die Aufgabe, die
Qualität der Rettungsdienste zu sichern.
Bei einem Videogespräch im Juni sitzt Alex Lechleuthner in seinem Büro in
Köln. Er will erst mal ein paar grundsätzliche Dinge sagen.
Die Leute, die in diesem Job arbeiteten, seien vom Grundsatz her gut. „Aber
sie stehen unter hohem Druck. Da kann schonmal etwas passieren.“ Denn die
Arbeit eines Rettungsdienstmitarbeiters sei oft die eines Streetworkers.
„Wir haben häufig mit Patienten zu tun, die den Rettungsdienst gar nicht
gerufen haben – die obdachlos sind, oder im Drogenmilieu“, sagt er. „Da
müssen Sie dann häufig erstmal Konflikte schlichten.“
Wir sprechen ihn auf rechtsextreme Vorfälle an. Lechleuthner sagt, solche
Vorfälle müssten bei ihm landen. Er würde sie dann bewerten: Einzelfall
oder systematisches Problem? Man würde solche Dinge mit der jeweiligen
Hilfsorganisation dann „umfänglich besprechen“.
Nur: Der Ärztliche Leiter bekommt offenbar sehr wenig von diesen Vorfällen
mit. „Ich kenne da nur einen einzigen konkreten Fall“, sagt er, „aber der
ist abgeschlossen und Jahre her. Das haben wir zur Zufriedenheit aller
gelöst.“ Die Vorfälle auf der Feuerwache 9? Nie davon gehört, sagt
Lechleuthner. Auf taz-Nachfrage räumt eine Sprecherin der Johanniter Köln
ein, dass Lechleuthner nie offiziell informiert wurde.
Die taz hat im Juli 2022 in den zwanzig größten Städten gefragt, ob es bei
den dortigen Rettungsdiensten rassistische oder sexistische Vorfälle gab.
Die jeweiligen Ärztlichen Leiter des Rettungsdienstes müssten es erfahren,
wenn gegen ein:e Sanitäter:in Disziplinarmaßnahmen eingeleitet wurden.
Wer die Antworten aus den Rathäusern liest, könnte sich denken: Alles
bestens. Denn dort sind so gut wie keine Vorfälle bekannt.
Nur Bremen, Berlin, Düsseldorf und Dresden listen ein paar Dinge auf. In
Berlin wurde strafrechtlich ermittelt wegen rechtsextremer Verdachtsfälle
bei der Feuerwehr. Über einen Mitarbeiter in Düsseldorf wurde bekannt, dass
er Mitglied der Neonazi-Vereinigung „Bruderschaft Deutschland“ war, er
wurde in ein Aussteigerprogramm für Rechtsextreme geschickt.
Es ist kein Zufall, dass vor allem dort Fälle genannt werden, wo Medien
bereits berichtet hatten. In Hamburg hat es demnach „mehrere wenige Fälle“
gegeben, in denen sich Mitarbeitende in beleidigender und sexistischer Art
auch gegenüber Patient:innen und nicht nur gegenüber Kolleg:innen
äußerten.
Wir haben die Kommunen auch gefragt, ob die Begriffe „Morbus Bosporus“ oder
„Morbus Mediterraneus“ im Rettungsdienst gebraucht werden. Alle antworten:
nein. Aus Dresden heißt es, die Begriffe seien „weder bekannt, noch werden
sie im Rettungsdienstbereich Dresden verwendet“. Ein Sprecher der Stadt
Bochum schreibt, den Begriff „Morbus Bosporus“ gebe es bei ihnen nicht,
daher müssten die Mitarbeitenden dazu auch nicht geschult werden.
Es klingt so, als hätten viele Verantwortlichen noch nie mit den
Hilfsorganisationen gesprochen. Und schon gar nicht mit denen, die täglich
im Rettungswagen unterwegs sind.
Auch Alex Lechleuthner behauptet: „Morbus Bosporus ist kein gängiger
Begriff unter Mitarbeitern des Rettungsdienstes in Köln.“ Versucht er,
Dinge unter den Tisch zu kehren? Oder weiß er wirklich nicht, was in dem
Dienst vorgeht, den er verantwortet?
Für Letzteres spricht, wie Lechleuthner seine Aufgabe definiert: „Mir ist
es wichtig, dass die Mitarbeiter im Rettungsdienst wissen, dass ich nicht
derjenige bin, der sie nur negativ beurteilt“, sagt er. Bei den vielen
belastenden Einsätzen könne es schonmal sein, dass die Rettungsdienstleute
nicht souverän reagieren. „Aber so etwas müssen Sie im Gesamtkontext
beurteilen, ich will da nicht der Schiedsrichter sein.“
Aber wer dann? Die Hilfsorganisationen selbst haben kein Interesse daran,
Probleme offenzulegen und am Bild des Rettungsdienstes zu kratzen. Sie
wollen ja auch in Zukunft beauftragt werden – und Geld verdienen. In Köln
bekommen die Johanniter allein für den Rettungsdienst rund 11 Millionen
Euro im Jahr überwiesen.
Lebensretter:innen, das sind eigentlich die Guten. Aber es gibt eben auch
die Rettungsrambos, denen es gefällt, Macht zu haben. Das ist ein Begriff,
den wir tatsächlich von Sanitäter:innen selbst hören. Mit Blaulicht
und Martinshorn durch die Stadt heizen. Dass Menschen auf sie angewiesen
sind. Mächtig sein wie ein:e Polizist:in oder Soldat:in. Ohne Waffe
zwar, aber mit der Entscheidungsgewalt über Leben oder Tod. „Manche
glauben, sie seien Gott“, sagt eine Rettungsdienst-Mitarbeitende.
Die Hilfsorganisationen, das sind keine kleinen Vereine, auch wenn es so
klingen mag. Faktisch sind sie große Konzerne. Die Johanniter etwa machen
mehr als 1,5 Milliarden Euro Umsatz im Jahr, mehr als ein Drittel davon mit
dem Rettungsdienst und Krankentransporten. Ein gutes Image ist wichtig. Die
Sanitäter:innen sind in gewisser Weise immer auch Werbefiguren, wenn
ein Rettungswagen mit leuchtendem Schriftzug auf der Straße steht, bringt
das womöglich den einen oder die andere dazu, an die Organisation zu
spenden.
Und noch entscheidender: der Personalmangel. Bundesweit fehlen rund 20 bis
25 Prozent der benötigten Rettungskräfte, schätzt die Gewerkschaft für die
Beschäftigten der Kommunen. Von Schleswig-Holstein bis Bayern klagen die
Verbände über [10][Fachkräftemangel] – bei steigenden Einsatzzahlen. Die
Situation dürfte sich in den kommenden Jahren mit [11][einer Gesellschaft,
die immer älter wird] noch verschlimmern.
Das oberste Ziel der Rettungsdienst-Organisationen ist es, die Schichten
besetzt zu bekommen – erst der Dienstplan, dann die Moral. Jemanden zu
kündigen, können sich die Organisationen kaum leisten. Deswegen können sich
die Mitarbeitenden viel herausnehmen. Das fängt beim Zuspätkommen an, geht
über schlampiges Desinfizieren des Rettungswagens und endet mitunter bei
offenem Rechtsextremismus.
## NS-Marschmusik
Martin N. (Name geändert) fängt im März 2021 als Rettungssanitäter in
Frechen an, einer Mittelstadt im Rheinland, im Nebenjob. Er bleibt nicht
einmal drei Tage, dann kündigt er. Er hält es einfach nicht aus.
Die Wache Frechen ist ein graubrauner Klotz am Stadtrand, eröffnet 2017,
nebenan das Gymnasium. Das alte Gebäude war zu klein geworden, in der
modernen Wache ist alles unter einem Dach: die freiwillige und die
Berufsfeuerwehr, der Rettungsdienst. Auf den Wägen steht: „Wir fahren –
damit Sie leben“. Für den Rettungsdienst ist hier die Feuerwehr zuständig,
die der Stadtverwaltung untersteht.
Es gab in den vergangenen Jahren einige Rechtsextremismus-Skandale bei
deutschen Feuerwehren – [12][den wohl schwersten in Bremen]: Im Herbst 2020
flogen dort Chatgruppen mit Hakenkreuzen, rassistischen, antisemitischen
und sexistischen Sprüchen auf. Eine Sonderermittlerin des Bremer Senats
sprach von gravierenden Missstände bei der Berufsfeuerwehr und von einer
zum Teil „rückständigen, autoritären und angstbesetzten Führungskultur“.
Ein Beamter ist nach wie vor suspendiert, bei vollen Bezügen. Die
Staatsanwaltschaft hatte wegen Volksverhetzung gegen ihn ermittelt, das
Verfahren aber mittlerweile eingestellt. Drei weitere Beamte mussten
disziplinarische Geldbußen bezahlen, arbeiten aber bis heute weiter
zusammen auf der Problemwache. Gegangen ist nur die Frau, die den Skandal
öffentlich gemacht hatte.
Auch auf der Wache in Frechen fällt Martin N. sofort auf, dass seine neuen
Kollegen rassistische und frauenverachtende Wörter nutzen. Ausschlaggebend
für seine Kündigung sei gewesen, was sich schon an seinem zweiten Tag bei
Dienstantritt abgespielt habe.
„Die Verharmlosung (wenn nicht gar Verherrlichung) nationalsozialistischen
Gedankenguts erlebte ich, als das Handy eines Beamten klingelte“, schreibt
er in seiner Kündigung an seinen Vorgesetzten. „Als Klingelton erschallte
ein nationalsozialistisches Marschlied.“
Im Gespräch mit der taz beschreibt N. die Situation so: Es ist
Dienstagfrüh, die Übergabe von der einen Wachabteilung zur anderen läuft,
die Besatzungen der Rettungs- und Krankenwagen sowie der Löschfahrzeuge,
treffen sich. Von der anderen Seite des Raums habe er Musik gehört und erst
gedacht, es sei ein Klingelton, vielleicht habe aber auch jemand
absichtlich etwas auf dem Handy abgespielt: das NS-Marschlied „Erika“, mit
Text. „Auf der Heide blüht ein kleines Blümelein, Und das heißt: Erika“,
heißt es darin.
Er habe das Lied erkannt, sagt Martin N., weil er kurz zuvor eine Doku über
rechte Symbolik angeschaut habe, in der das Lied vorgekommen sei.
Tatsächlich wird es im Internet häufig zur Untermalung rechter Inhalte
verwendet. Komponiert hat es Herms Niel, Hitlers musikalischer
Oberzeremonienmeister. Das Lied ist nicht verboten, aber es ist
unzweifelhaft ein Propagandawerk der Nazis. Als das Lied auf der Wache
losging, hätten aus allen Ecken Leute schallend gelacht, sagt N. Auch der
Feuerwehr-Chef sei im Raum gewesen, „er müsste das mitbekommen haben.“
Martin N. hat seine Kündigung auch an mehrere Mitarbeiter:innen der
Stadtverwaltung geschickt. Und betont: Das Verhalten seiner Kollegen sei
nicht mit seinen Wertvorstellungen zu vereinbaren, „gerade in einem
Berufsfeld, welches dadurch geprägt wird, jedem Menschen in Not zur Hilfe
zu eilen“.
Gab es Konsequenzen? Der Feuerwehrchef ist für die taz nicht zu erreichen,
er sei längerfristig erkrankt, heißt es. Sein Vertreter meldet sich von
sich aus, als er mitbekommt, dass wir recherchieren, und verweist auf den
Pressesprecher der Stadt. Der schreibt per Mail, dass man dem Hinweis
nachgegangen sei und Gespräche mit Vorgesetzten und Mitarbeitenden geführt
habe. Im Ergebnis sei man zu der „gesicherten Erkenntnis“ gekommen, dass es
sich bei dem Klingelton nicht um das NS-Marschlied gehandelt habe. Es sei
das „Steigerlied“ gewesen, das „in unserer Region der Tradition des
Bergbaus/Kohleabbaus zugeschrieben wird“. Ein Lied, das ganz anders klingt
und einen völlig anderen Text hat. Auf die mehrfache Nachfrage, wie genau
man zu der „gesicherten Erkenntnis“ gekommen sei, antwortet der Sprecher
nur, es sei alles gesagt.
## Immer noch da
Nach dem Vorfall mit dem Geburtstagskalender lässt sich Guido Schäpe krank
schreiben. Im Juni 2021 wird er fristlos gekündigt. Dagegen klagt er vor
dem Arbeitsgericht. Er erhält eine Abfindung und verlässt die Johanniter.
Nun hat er sich entschieden, an die Öffentlichkeit zu gehen, mit seinem
vollen Namen, denn: „Ich möchte, dass sich im Rettungsdienst wirklich etwas
ändert“. Die internen Beschwerden hätten ja nichts bewirkt. Er sagt, er
möchte andere ermutigen, ebenso den Mund aufzumachen, wenn sie etwas
mitbekommen, das nicht in Ordnung sei. Auch er selbst habe zu lange
geschwiegen.
Guido Schäpe ist nicht der einzige, der sich in seiner Zeit bei den
Johannitern gemobbt fühlt. Andere Kollegen haben ebenfalls deswegen die
Wache verlassen. Einer beklagt sich, er sei von Vorgesetzen angeschrien und
beleidigt worden.
Doch auch die Problemfälle gehen: Der Mann, der die Nazi-Namen in den
Kalender geschrieben haben soll. Der Mann mit der Reichsbürgerproganda, der
mit allen möglichen Verschwörungserzählungen aufgefallen ist: Er hat im
Kolleg:innenkreis von Reptiloiden erzählt und ist auch schon mal nach
einem Einsatz mit dem Rettungswagen auf eine Wiese gefahren, um
„Chemtrails“ am Himmel zu fotografieren. Er wechselte zum Roten Kreuz in
einen Nachbarkreis. Es kursieren Erzählungen, was er dort gemacht haben
soll: Impfbescheinigungen zerrissen, die Radmuttern eines Dienstfahrzeugs
gelöst, gedroht, etwas anzuzünden. Auf taz-Anfrage schreibt er, dass er
sich nicht äußern möchte. Eine Sprecherin des DRK-Verbandes sagt, die
Vorwürfe seien ihr nicht bekannt. Fakt ist, dass der Mann auch diese neue
Stelle wieder verlassen hat.
Die Johanniter in Köln antworten schließlich doch noch auf manche unserer
Nachfragen. Leider habe man die Person, die die Namen in den Kalender
geschrieben hat, nicht feststellen können, schreibt die Sprecherin. Und:
„Aus heutiger Sicht müssen wir konstatieren, dass es im Sommer 2020
erkennbar Fehlentwicklungen und Fehlverhalten in der Rettungswache gegeben
hat“. Sie kündigt eine „engagierte Untersuchung“ des Vorgehens von 2020 …
und dass man sich „intensiv Präventionsmaßnahmen widmen“ werde.
Grundsätzlich wird Ärger im Rettungsdienst gern geräuschlos geregelt. Im
Zweifel gibt es eine Abfindung. Aber das ist offenbar gar nicht immer
nötig: Mitarbeitende, die negativ aufgefallen sind, wechseln einfach den
Arbeitgeber. Sie werden schließlich überall gebraucht.
Auch die beiden Rettungsdienstmitarbeitenden von der Feuerwache 9, die für
ihre Nähe zur Identitären Bewegung bekannt waren, sind nicht mehr bei den
Johannitern in Köln beschäftigt. Sie sind nun im Rheinisch-Bergischen Kreis
tätig, immer noch gemeinsam, immer noch bei den Johannitern. Als wir einen
der beiden Männer anrufen, sagt er, er kenne die Identitäre Bewegung nicht
und wolle nicht in eine Schublade gesteckt werden. „Ich habe kein Interesse
an dieser Fragerei“, sagt er und legt auf.
Laut den internen Regularien der Johanniter müssen beide Regionalverbände
zustimmen, wenn Angestellte von einem in den anderen wechseln. Offenkundig
Rechtsradikale können also einfach weiterziehen, es scheint keinen zu
interessieren.
Der Notfallsanitäter, der die Nazi-Größen in den Wandkalender eintrug,
einen Hass auf Türken hegt und der offenbar nicht alle Patient:innen
gleichermaßen behandeln will, arbeitet inzwischen wieder für die Johanniter
auf der Feuerwache 9 in Köln-Mülheim. Die dortige Mitarbeitervertretung hat
der Wiedereinstellung zugestimmt. Er ist als Praxisanleiter auch für die
Ausbildung neuer Kolleg:innen zuständig.
16 Sep 2022
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## AUTOREN
Sebastian Erb
Anne Fromm
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