| # taz.de -- Rassismus beim Rettungsdienst: Rechte Retter | |
| > Hass auf Geflüchtete, Nazi-Geburtstage im Kalender, rassistische Chats: | |
| > Rettungskräfte haben ein Problem mit Rechtsextremismus in den eigenen | |
| > Reihen. | |
| Köln und Berlin taz | Gleich neben der Tür im Aufenthaltsraum der Feuer- | |
| und Rettungswache 9 in Köln hängt ein Kalender. An einem Sommertag im Jahr | |
| 2020 stehen darin plötzlich ein paar neue Namen, mit blauem Kugelschreiber | |
| hineingekritzelt. Alle Sanitäter:innen der Johanniter, die sich hier | |
| in der Pause einen Tee kochen oder auf den Sofas ausruhen, können sie | |
| sehen. Joseph Goebbels, Eva Braun, und am 20. April: Adolf. | |
| Die Johanniter Unfallhilfe ist eine der großen Hilfsorganisationen in | |
| Deutschland. Evangelisch, der christlichen Nächstenliebe verpflichtet. Das | |
| weiß-rote Johanniter-Kreuz prangt auf Krankenwagen, auf | |
| Rettungshubschraubern, auf den Jacken von Sanitätern und Notärztinnen. In | |
| ganz Deutschland übernehmen die Johanniter einen Teil des Rettungsdienstes, | |
| 6.000 Mitarbeitende auf rund 300 Wachen gibt es. Ihre Hilfe richte sich an | |
| „Menschen gleich welcher Religion, Nationalität und Kultur“, heißt es im | |
| Leitbild der Organisation. Und: „Unser Umgang miteinander ist geprägt von | |
| Achtung und Respekt.“ | |
| Auf der Feuerwache 9 in Köln, wo die Johanniter unter anderem einen | |
| 24-Stunden-Rettungswagen besetzen, klaffen Leitbild und Wirklichkeit weit | |
| auseinander. Die Nazi-Geburtstage im Kalender sind nur der plakative | |
| Höhepunkt einer jahrelangen Entwicklung: Rechtsradikale konnten ihre | |
| Weltanschauung hier ziemlich frei ausleben. Ein Mitarbeiter hingegen, der | |
| das Problem ansprach, wurde gekündigt. „Ich wurde rausgemobbt“, sagt er. | |
| In jüngerer Zeit ist der Rettungsdienst immer wieder in den Schlagzeilen. | |
| [1][Es geht um Personalmangel, Überstunden, Überlastung.] Es geht darum, | |
| dass etwa in Berlin von 140 Krankenwagen an einem Samstag nur 80 verfügbar | |
| sind, oder darum, dass Sanitäter:innen im Dienst angegriffen wurden. | |
| Darüber wird zu recht gesprochen. | |
| Über Rassismus und Rechtsextremismus im Rettungsdienst reden die | |
| Mitarbeiter:innen dagegen nicht so gerne. In diesem Job verbringt man | |
| viel Zeit miteinander, auf engem Raum, in 12- oder 24-Stunden-Schichten. | |
| Man rast zusammen mit Blaulicht durch die Stadt, man meistert emotionale | |
| Einsätze gemeinsam – das verbindet, da verrät man einander nicht. | |
| Korpsgeist. Selbst wer sensibel für problematische Entwicklungen ist, | |
| schweigt oft lieber, aus Angst vor Konsequenzen am Arbeitsplatz. | |
| Aber manche reden dann doch. In den vergangenen Monaten haben wir | |
| ausführlich mit mehr als einem Dutzend Rettungsdienst-Mitarbeitenden | |
| gesprochen. Die meisten wollen anonym bleiben. Sie arbeiten in | |
| verschiedenen Organisationen, in verschiedenen Bundesländern und in | |
| verschiedenen Positionen. Wir konnten Chatgruppen und interne Mails | |
| einsehen, Berichte und Unterlagen aus arbeitsrechtlichen Streitigkeiten. | |
| Wir stießen auf Rettungsdienst-Mitarbeitende, die sich gegenseitig ein | |
| NS-Lied auf dem Handy vorspielen oder gegenüber Kolleg:innen äußern, | |
| dass sie ein Flüchtlingsheim lieber anzünden würden, als den | |
| Bewohner:innen dort zu helfen. Alles Fälle, von denen die | |
| Öffentlichkeit bislang nichts weiß. | |
| Aus den Schilderungen und Dokumenten wird deutlich: Rechte Retter sind | |
| keine Ausnahme. Der Rettungsdienst in Deutschland hat ein Problem mit | |
| Rassismus und Rechtsextremismus – und kaum ein:e Vorgesetzte:r | |
| unternimmt etwas dagegen. Seit dem Flüchtlingssommer 2015 ist die Lage | |
| offenbar schlimmer, oder zumindest offensichtlicher geworden. Leidtragend | |
| sind der taz-Recherche zufolge vor allem Mitarbeitende mit | |
| Migrationshintergrund – und Patient:innen. | |
| ## Üble Spielchen auf Wache 9 | |
| Guido Schäpe, 52 Jahre alt, seit 2003 als Sanitäter auf der Feuer- und | |
| Rettungswache 9 in Köln-Mülheim, kann heute nicht mehr sagen, wann genau es | |
| anfing. Es waren viele kleinere Dinge, die zusammen ein dunkles Bild | |
| ergeben. | |
| Da war der Anti-Islam-Aufkleber auf der Toilette. Der Kollege, der auf der | |
| Außenwache gerne die Junge Freiheit las. Die Flyer der „Identitären | |
| Bewegung“, die dort auslagen; zwei Mitarbeitende, die aus ihrer Nähe zur | |
| rechtsextremen Organisation vor dem Kollegium keinen Hehl machten. Einer | |
| der beiden hat schon vor Jahren ein Spiel geprägt, zum Zeitvertreib während | |
| der Fahrt. Sie nannten es das „Möp-Spiel“: Immer wenn man eine schwarze | |
| Person auf der Straße sieht, muss man „möp“ sagen. Gedanklich wurde dann | |
| eine Strichliste geführt. Das alles berichtet nicht nur Schäpe, es | |
| bestätigen auch mehrere seiner Kolleg:innen. | |
| Fast 20 Jahre hat Guido Schäpe bei den Johannitern gearbeitet. Er hat sich | |
| fortgebildet, war erst Rettungssanitäter, dann Rettungsassistent, und seit | |
| 2017 Notfallsanitäter. Das ist die höchste Qualifikation nach dem Notarzt. | |
| Guido Schäpe ist ein großer Mann mit breitem Kreuz. Er ist politisch links | |
| eingestellt, so sagt er es über sich selbst. Aber noch mehr sagen das seine | |
| damaligen Kolleg:innen. Den langhaarigen Bombenleger aus Kreuzberg hätten | |
| sie ihn früher scherzhaft genannt. Damit kam er klar. Mit seiner Biografie | |
| war er auf der Wache eher der Außenseiter. Er hat jahrelang [2][auf dem | |
| linken Musikfestival Fusion] mitgearbeitet. Später [3][war er für Sea | |
| Watch] unterwegs und holte Geflüchtete aus dem Mittelmeer. „Wenn du einmal | |
| mit dem Rettungsdienst angefangen hast, dann willst du nie wieder etwas | |
| anderes arbeiten“, sagt Schäpe. | |
| Nur habe das, was er mit dem Beruf verbunden hat – Menschen helfen, Leben | |
| retten – irgendwann nicht mehr zu dem gepasst, was er im Alltag erlebt | |
| habe. Verstärkt aufgefallen sei es ihm ab 2015, 2016, sagt Guido Schäpe. | |
| Das, was manche Kolleg:innen in Köln von sich gaben, wurde eindeutiger, | |
| beunruhigender. Einige bekannten sich als AfD-Fans. Andere sprachen | |
| schlecht über Geflüchtete oder äußerten [4][Reichsbürger-Parolen]. | |
| Und dann stehen im Sommer 2020 plötzlich die Nazi-Größen im Wandkalender. | |
| Der taz liegen Fotos davon vor. Es ist auf der Wache kein Geheimnis, wer | |
| die Namen eintrug. Mehrere Personen haben den Mann nach taz-Recherchen | |
| dabei beobachtet. | |
| Am 11. August 2020 schreibt Guido Schäpe eine Mail an seine Vorgesetzten | |
| bei den Johannitern, darunter der Regionalvorstand, der Wachleiter und der | |
| Dienstgruppenleiter. Auch die Mitarbeitendenvertretung ist im Verteiler. | |
| „Liebe Kollegen“, schreibt Schäpe, „leider muss ich euch von erschrecken… | |
| Entwicklungen auf der FW 9 berichten. In dem Wandkalender, der im | |
| Aufenthaltsraum des Containers hängt, wurden mehrere Geburtstage von | |
| Nazigrößen eingetragen.“ Es gebe Zeugen dafür, wer das gemacht habe, aber | |
| niemand wolle etwas sagen, aus Angst vor Ausgrenzung. Es gebe eine „Mauer | |
| des Schweigens“, es herrsche ein „Klima der Angst“ auf der Feuerwache 9, | |
| schreibt er und schildert in der Mail weitere rechte Vorfälle. „Die | |
| Leitwerte [der] Johanniter und der Humanismus werden hier mit Füssen | |
| getreten.“ | |
| Der Regionalvorstand Reinhold Lapp-Scheben antwortet Schäpe am nächsten | |
| Tag, die Mail geht auch an den Wachleiter und den Dienstgruppenleiter. „Die | |
| derzeit im Raum stehenden Vorwürfe“ verlangten eine „zeitnahe und | |
| gründliche Aufklärung“, schreibt der Regionalvorstand. Und: „Als Johannit… | |
| können und wollen wir, sollten sich die Vorwürfe erhärten, diese nicht | |
| dulden.“ Er bittet um sachdienliche Hinweise. „Wichtig ist, dass wir | |
| zeitnah agieren“. Er werde auch mit dem ärztlichen Leiter des | |
| Rettungsdienst sprechen, gegebenenfalls müsse ein Rettungswagen außer | |
| Dienst genommen werden. Weil man sich von einigen Mitarbeitenden | |
| kurzfristig trennen müsse. Er klingt ziemlich entschlossen. | |
| Doch dann eskaliert die Angelegenheit in eine unerwartete Richtung. | |
| Der Regionalvorstand und der Wachleiter bekommen wieder Post, aber nicht | |
| von Guido Schäpe. „Betreff: Personeller Konflikt Feuer-/Rettungswache 9“. | |
| Unterschrieben haben den Brief 20 von gut 50 Mitarbeitenden der Wache, auch | |
| der Dienstgruppenleiter soll darunter gewesen sein, erfährt Schäpe. | |
| Formuliert hat das Schreiben offenbar der Mann, der die Namen der Nazis in | |
| den Kalender eintrug. | |
| In dem Brief üben die Unterzeichnenden Kritik an Guido Schäpe. Er habe nur | |
| im Notarztfahrzeug eingesetzt werden wollen und nicht im Rettungswagen, er | |
| habe Wohnungen nicht betreten wollen, aus Angst vor einer | |
| Corona-Ansteckung. Dies sorge für „Unmut und Unverständnis bei der | |
| Mitarbeiterschaft“. Nachdem Guido Schäpe darauf angesprochen worden sei, | |
| heißt es im Brief weiter, habe er „als vermeintliche Ablenkung vom | |
| eigentlichen Problem zu einem großen Paukenschlag ausgeholt, indem er einen | |
| nicht vorhandenen ‚Rassismus-Eklat‘ ins Leben gerufen hat.“ Man werde es | |
| nicht hinnehmen, dass hier „in unerträglicher Art und Weise das Personal | |
| der Rettungswache 9 in Verbindung mit vermeintlichem ‚Rassismus‘ gebracht | |
| wird“. Guido Schäpe, so die Forderung, solle die Wache verlassen. | |
| Nicht im Brief steht, dass auf der Wache einige Mitarbeitende [5][als | |
| Corona-Leugner aufgefallen] sind und Schutzmaßnahmen offenbar nicht immer | |
| richtig eingehalten wurden. Mehrere Mitarbeiter verbreiten online | |
| Querdenker-Parolen, einer bezeichnet Karl Lauterbach in seinem | |
| WhatsApp-Status als „Hurensohn“. | |
| Und jetzt? Sollen nicht die rechten Retter gehen, sondern der Mann, der | |
| Rassismus und Rechtsextremismus angesprochen hat. | |
| Es kommt zu Treffen auf unterschiedlichen Ebenen, zu 18 Einzelgesprächen | |
| mit Mitarbeitenden. „Aber es gab keinen Willen, dass sich was ändert“, sagt | |
| Guido Schäpe rückblickend. Der Wachleiter habe ihm empfohlen, die | |
| „Umfeldbeleuchtung“ auszumachen, nicht mehr schauen, was die anderen so | |
| machen. Und der Dienstgruppenleiter habe ihm nahegelegt, er solle nicht | |
| „dauernd in alten Wunden rumdrücken“. So erinnert sich Schäpe. | |
| Der Wachleiter will nicht mit der taz sprechen, der damalige | |
| Regionalvorstand der Johanniter, Reinhold Lapp-Scheben, ist nicht zu | |
| erreichen, er ist inzwischen in Rente. Die Pressesprecherin der Johanniter | |
| Köln antwortet zunächst nur ausweichend auf Fragen. Der Mann, der die Namen | |
| in den Kalender geschrieben haben soll, stimmt einem Gespräch mit der taz | |
| erst zu, sagt dann aber wieder ab. Als wir ihm Fragen schicken, behauptet | |
| er, er wisse nichts von einem Kalender. Er habe mit Nazis nichts zu tun. Er | |
| schreibt: „Woher nehmen Sie diese schwachsinnigen Falschinformationen, wer | |
| startet hier eine Hetzkampagne?“ | |
| Nicht alle Kolleg:innen auf der Wache sehen die Situation so dramatisch | |
| wie Guido Schäpe. Der sei als Linker eben angeeckt, sei ein sehr | |
| emotionaler Mensch, habe provoziert. Zur Entschuldigung führten manche an: | |
| Auch die Geburtstage von Jesus und Stalin seien im Kalender vermerkt | |
| gewesen. | |
| ## Lieber Hetze als Hilfe | |
| Eine Rettungswache an einem anderen Ort in NRW, sie wird vom Malteser | |
| Hilfsdienst besetzt, einer weiteren großen Hilfsorganisation in | |
| Deutschland. Sie ist katholisch und hat das Motto: „… weil Nähe zählt“.… | |
| Wache liegt in der Nähe eines Wohngebiets, grasfreie Pflasterfugen, | |
| Vorstadtidylle. Mehrere Rettungswagen sind hier stationiert, 24 Stunden | |
| Bereitschaft, dazu kommen Krankentransporte. Genauer können wir den Ort | |
| nicht beschreiben, um unsere Quellen zu schützen. | |
| Die Mitarbeitenden hier kommunizieren in mehreren Chatgruppen, eine hat | |
| einen offiziellen Charakter, dort geht es zum Beispiel um Dienstpläne und | |
| den Tausch von Einsatzschichten. In einer anderen Gruppe geht es um solche | |
| dienstlichen Belange nur am Rande. Diese Chatgruppe konnte die taz | |
| einsehen. | |
| Die Kolleg:innen schicken sich dort Fotos und teilen private | |
| Veranstaltungstipps. Vor allem machen sie Witze, posten [6][Memes aus dem | |
| Internet.] Einige davon haben Bezug zu ihrem Job, etwa der Spruch: „Mit der | |
| Leitstelle ist es wie mit Frauen. Wenn du glaubst, sie zu verstehen, bist | |
| du sicher komplett auf dem Holzweg“. Manche Männer und Frauen aus der | |
| Gruppe verschicken sexistische Motive, etwa eine Fotomontage von Greta | |
| Thunberg mit riesigen Brüsten. | |
| Und dann sind da die rassistischen Inhalte. Ein Foto von Schwarzen mit | |
| Federschmuck, darüber steht, dass Kannibalen in Papua-Neuguinea Flüchtlinge | |
| aufnehmen würden und der Satz „Damit ist das Thema gegessen“. Einer | |
| verschickt das Foto von einem schwarzen Jungen, mit dem Text: „Das ist | |
| Mabuto, sein Schulweg beträgt täglich 3 Stunden. Spende jetzt 5€ und wir | |
| kaufen eine Peitsche und wir garantieren, dass der faule N***** es in 8 min | |
| schafft“. Das N-Wort ist ausgeschrieben. | |
| Niemand in der Gruppe reagiert darauf. Niemand sagt: Lasst das. | |
| Der Rettungsdienst, das hören wir immer wieder, ist ein hartes Geschäft. | |
| Aggressive Patientient:innen, anstrengende Einsätze, schlaflose Nächte. Da | |
| braucht man etwas, um sich abzureagieren – deswegen hätten viele im | |
| Rettungsdienst einen derben Humor. Nur ist das, was in den Chatgruppen | |
| geteilt wird, eben keine harmloses Witzeln mehr. | |
| Der Rassismus beschränkt sich nicht auf die Chatgruppe. Auf der | |
| Malteser-Wache werden Mitarbeiter:innen von ihren eigenen | |
| Kolleg:innen rassistisch beschimpft, ergibt unsere Recherche. Ein | |
| Mitarbeiter, der aus Iran nach Deutschland gekommen ist, wurde als | |
| „Kameltreiber“ bezeichnet, eine andere Mitarbeiterin mit | |
| Migrationshintergrund als „scheiß Ausländerin“. | |
| Rettungsdienst-Mitarbeitende aus ganz Deutschland berichten von solchen | |
| Vorfällen. Eine junge Frau mit Migrationshintergrund, die ein Freiwilliges | |
| Soziales Jahr beim Arbeiter-Samariterbund abgebrochen hat, sagte der taz: | |
| „Es war die schlimmste Zeit meines Lebens.“ Wie sie sind es oft jüngere | |
| Personen, die für Rassismus und Sexismus sensibilisiert sind. Dahinter | |
| steht auch ein Generationenkonflikt beim Rettungsdienst: Die Jüngeren sind | |
| oft besser ausgebildet, haben aber weniger zu melden, weil sie in dem | |
| streng hierarchischen System weiter unten stehen. | |
| Da ist der Sanitäter, der beim Einsatz im Fußballstadion die Spieler eines | |
| türkischen Vereins als „Dreckskanacken“ bezeichnete. Da ist der | |
| Dienstgruppenleiter, der einem Praktikanten sagte: „Deinen Nachname kann | |
| ich eh nicht aussprechen, ab sofort heißt du Isis oder Taliban“. Und da ist | |
| der Mann auf der Malteser-Rettungswache in NRW. | |
| Ein Notfall in einem Flüchtlingsheim. Der Rettungsdienst-Mitarbeiter sagt: | |
| „Ich würde die Flüchtlinge lieber anzünden, als einem von ihnen zu helfen.… | |
| Drumherum hätte ein knappes Dutzend Kolleg:innen gestanden, so schildert | |
| es eine Person, die dabei war. Die meisten hätten gelacht. | |
| Der Landesverband der Malteser in Nordrhein-Westfalen teilt auf taz-Anfrage | |
| mit, diese Vorfälle seien auf Landesebene nicht bekannt. Man gehe ihnen | |
| „selbstverständlich unverzüglich“ nach. „Wir verurteilen so ein | |
| menschenverachtendes Verhalten, generell und insbesondere in unseren | |
| eigenen Reihen“, sagt ein Sprecher. | |
| Die Sprüche unter Kolleg:innen sind das Eine. Sie sorgen dafür, dass | |
| etliche Sanitäter:innen ihren Job weniger gern machen, besonders | |
| natürlich diejenigen, die direkt von rassistischen Bemerkungen betroffen | |
| sind. Sie kapseln sich auf der Wache ab, kündigen schließlich vielleicht. | |
| Aber dabei bleibt es nicht. Die rassistische Einstellung der rechten Retter | |
| hat auch Auswirkungen auf ihre zentrale Aufgabe: verletzten und kranken | |
| Menschen helfen. Leben retten. Wer in Not ist, muss dem Personal des | |
| Rettungsdienstes vertrauen. Man könnte sagen: Er oder sie ist diesen | |
| Menschen ausgeliefert, hat selten Chancen, sich zu wehren, weiß nicht, | |
| welche Diagnostik notwendig ist und welche nicht. Wer nicht gut Deutsch | |
| spricht, ist in der Not noch verletzlicher. | |
| Werden schwarze, muslimische, eingewanderte Menschen schlechter behandelt | |
| als weiße Deutsche? | |
| ## „Morbus Bosporus“ | |
| Es gibt einen Begriff, der in keinem normalen Medizinlehrbuch steht, der im | |
| Alltag des Rettungsdienstes aber in vielen Situationen benutzt wird, als | |
| sei er ein ganz normaler Fachbegriff: [7][„Morbus Bosporus“]. Manchmal ist | |
| auch von „Morbus Mediterraneus“ die Rede oder von dem „Südländer-Syndro… | |
| Manche sagen auch schlicht TMS. „Türke mit Schmerz“. Gemeint ist immer | |
| Dasselbe. | |
| Die Begriffe werden verwendet bei Menschen, von denen angenommen wird, dass | |
| sie ursprünglich nicht aus Deutschland kommen, sondern irgendwo aus dem | |
| Süden, Mittelmeerraum, Naher Osten. Das wird an ihrem Aussehen festgemacht | |
| oder schlicht am Namen. Diese Menschen hätten ein anderes Schmerzempfinden | |
| – so sehen es offenbar viele im Rettungsdienst. Sie äußerten heftige | |
| Schmerzen, obwohl es gar nicht so schlimm sei. Man hält sie für Simulanten. | |
| Menschen gehen unterschiedlich mit Schmerz um. Es mag Hinweise geben, dass | |
| das auch kulturell bedingt ist. Für ihre Arbeit können Rettungskräfte | |
| daraus medizinisch begründet allerdings nichts ableiten. Dass es manche | |
| dennoch tun, hat Folgen: Patient:innen werden schlechter behandelt, | |
| weil die von ihnen geäußerten Beschwerden nicht ernst genommen werden. | |
| So halte es laut Schilderungen aus seinem Umfeld auch der | |
| Johanniter-Mitarbeiter, der die Nazi-Geburtstage in den Kalender | |
| geschrieben hat. Der Notfallsanitäter sei fachlich nicht schlecht, aber da | |
| sei eben seine Einstellung. Er trage stolz ein T-Shirt mit | |
| Deutschlandflagge, wenn er eine türkische Flagge sehe, rege er sich auf: | |
| „Ich hasse Türken“. Und Einsätze bei Menschen mit Migrationshintergrund | |
| seien für ihn oft: „nur Pillepalle“. In Köln-Mülheim leben viele Menschen | |
| mit Migrationshintergrund. | |
| Wir bekommen diesen Vorfall geschildert: Ein Patient, der nur türkisch | |
| spricht, ist apathisch, kaltschweißig, sehr blass. Das sind durchaus | |
| Anzeichen für schwerwiegende Krankheiten. Der Notfallsanitäter sieht das | |
| anders, er bleibt während des Einsatzes im Führerhaus sitzen. Der | |
| Rettungssanitäter und der Auszubildende müssen alleine raus. Sie rufen die | |
| Tochter des Patienten an, damit sie übersetzt. „Wäre der Patient blond | |
| gewesen, mit blauen Augen, hätte er den Einsatz sofort übernommen“, sagt | |
| ein damaliger Kollege. | |
| „Morbus Bosporus“, immer wieder: „Ich habe den Begriff bestimmt hundertmal | |
| gehört“, sagt ein langjähriger Notfallsanitäter, der für das Deutsche Rote | |
| Kreuz in Rheinland-Pfalz und Hessen im Einsatz war. Einer aus Niedersachsen | |
| sagt: „Jeder im Rettungsdienst kennt diesen Begriff“. Er habe die | |
| Bezeichnung sogar schon in Arztbriefen gelesen, berichtet ein leitender | |
| Rettungsdienst-Mitarbeiter aus Berlin. | |
| Dass die diskriminierende Pseudo-Anamnese mit Begriffen wie „Morbus | |
| Bosporus“ ein Problem ist, hat auch Guido Schäpe in der Mail an seine | |
| Vorgesetzten erwähnt. Passiert ist: nichts. | |
| Eine Sprecherin der Johanniter Köln bezeichnet den Begriff auf Anfrage als | |
| „absolut inakzeptable Bezeichnung“, die die Gefahr von „unvollständigen | |
| diagnostischen Maßnahmen“ berge. | |
| Wie schlimm sind die Folgen für Betroffene, wenn | |
| Rettungsdienstmitarbeitende rassistische Vorurteile haben? | |
| Allzu oft lässt sich das nur schwer sagen. Bei Notfallbehandlungen besteht | |
| ein gewisser Ermessensspielraum: Legt man nach einem Sturz ein EKG an, weil | |
| es eine organische Ursache geben könnte? Lässt man einen Verletzten zum | |
| Rettungswagen laufen oder trägt man ihn? Mehrere | |
| Rettungsdienstmitarbeiter:innen berichten der taz, dass sie erlebt | |
| haben, wie dieser Spielraum bei von Rassismus betroffene Menschen eher weit | |
| ausgedehnt wird, und das nicht zu Gunsten der Patient:innen. Wir können zum | |
| Schutz der Quellen diese nicht genauer angeben. | |
| Ein weiterer Einsatz der Johanniter in Köln: [8][Eine Frau mit Kopftuch] | |
| krümmt sich auf der Straße plötzlich unter heftigen Unterleibschmerzen, | |
| liegt in Embryohaltung auf dem Boden, Passanten wählen die 112. Aber die | |
| Rettungsdienstler nehmen das nicht richtig ernst. Nach dem Einsatz hätten | |
| sie Witze gemacht, „über das Kopftuch abgefuckt“ und gemeint, nur wegen der | |
| Regelblutung „macht die so ne Show“, dabei sei noch gar nicht klar gewesen, | |
| was sie hatte. | |
| Auch auf der Malteser-Wache in NRW berichtet man uns, dass viele Kollegen | |
| bestimmten Menschen nicht helfen wollten: „Die haben keinen Bock auf die | |
| Behandlung von Geflüchteten.“ Sie würden dann keine richtige Anamnese | |
| erheben, keine Vitalparameter, sie würden nicht viel fragen und die | |
| Patient:innen nur in den Rettungswagen verfrachten und ins Krankenhaus | |
| fahren. | |
| Wer versucht, nachzuweisen, dass ein Notfallpatient schlechter behandelt | |
| wurde, weil er nicht weiß ist oder einen arabisch klingenden Nachnamen hat, | |
| hat es schwer. Das zeigt [9][ein Fall aus Delmenhorst, der in der | |
| Öffentlichkeit immerhin für Empörung gesorgt hat.] | |
| Dort starb im März 2021 der 19-jährige Qosay K. in Polizeigewahrsam. Warum, | |
| das ist bis heute unklar. Aber seine Freunde und Familie glauben, dass sein | |
| Tod hätte verhindert werden können, wenn zwei Rettungsdienstmitarbeitende | |
| ihn besser behandelt hätten. | |
| Qosay K. war mit einem Freund von Polizisten beim Kiffen erwischt worden. | |
| Als er zu entkommen versuchte, setzten die Polizisten Pfefferspray ein, | |
| warfen K. zu Boden und fesselten ihn. Routinemäßig wurde ein Krankenwagen | |
| dazu gerufen, aber die Rettungskräfte behandelten Qosay K. nicht. Er habe | |
| die Hilfe verweigert, gaben sie später an. Eine Stunde nach dem Eintreffen | |
| kollabierte K. auf der Polizeistation und wachte nicht mehr auf. | |
| Die Anwältin Lea Voigt vertritt die Angehörigen von Qosay K. Sie hat | |
| Anzeige gegen die Polizisten und gegen die beiden Rettungskräfte erstattet, | |
| unter anderem wegen unterlassener Hilfeleistung. Ein Freund von Qosay K., | |
| der bei der Festnahme dabei war, sagte damals der taz, dass Qosay K. den | |
| Rettungsskräften deutlich gezeigt habe, dass er unter der Wirkung des | |
| Pfeffersprays litt. Er habe gesagt, dass ihm übel sei, er keine Luft | |
| bekomme. „Daraufhin meinte der Sanitäter, dass er gerade schauspielere“, | |
| sagt der Augenzeuge. | |
| Anwältin Voigt sieht keine Anhaltspunkte dafür, dass Qosay K. unmittelbar | |
| am Pfefferspray gestorben ist. „Aber hätten die Sanitäter ihn am Ort der | |
| Festnahme ordentlich untersucht, hätten sie den Grund für sein Unwohlsein | |
| vielleicht gefunden und damit seinen Tod verhindern können.“ | |
| Der Delmenhorster Rettungsdienst-Chef wies die Vorwürfe zurück. Drei Monate | |
| nach dem Tod von Qosay K. wurde das Verfahren gegen die Rettungskräfte | |
| eingestellt. Rettungskräfte seien nicht zur Hilfe verpflichtet, wenn jemand | |
| Hilfe ablehne, so die Staatsanwaltschaft. | |
| ## Fehlende Kontrolle | |
| Wenige haben so viel Erfahrung im Rettungsdienst wie der Arzt Alex | |
| Lechleuthner, weißer Vollbart, 63 Jahre alt. Seit 1994 ist er bei der | |
| Feuerwehr in Köln tätig, seit 1996 sitzt er im Landesfachbeirat für den | |
| Rettungsdienst beim Ministerium für Gesundheit in NRW, Professor ist er | |
| nebenbei auch noch. 2020 wurde er mit dem Deutschen Preis für | |
| Notfallmedizin ausgezeichnet. | |
| Lechleuthner ist „Ärztlicher Leiter Rettungsdienst in Köln“ und damit | |
| oberster Chef für knapp 2.000 Mitarbeitende. 170.000 Einsätze fahren die im | |
| Jahr. Einmal pro Woche ist er selbst noch als Notarzt unterwegs, er will | |
| den Bezug zum Alltag nicht verlieren. | |
| In den meisten Kommunen ist der Rettungsdienst ähnlich organisiert wie in | |
| Köln: Die Berufsfeuerwehr löscht nicht nur Brände, sie fährt auch einen | |
| relevanten Teil des Rettungsdienstes. Den Rest erbringen Dienstleister wie | |
| die Johanniter und Malteser. Der ärztliche Leiter hat die Aufgabe, die | |
| Qualität der Rettungsdienste zu sichern. | |
| Bei einem Videogespräch im Juni sitzt Alex Lechleuthner in seinem Büro in | |
| Köln. Er will erst mal ein paar grundsätzliche Dinge sagen. | |
| Die Leute, die in diesem Job arbeiteten, seien vom Grundsatz her gut. „Aber | |
| sie stehen unter hohem Druck. Da kann schonmal etwas passieren.“ Denn die | |
| Arbeit eines Rettungsdienstmitarbeiters sei oft die eines Streetworkers. | |
| „Wir haben häufig mit Patienten zu tun, die den Rettungsdienst gar nicht | |
| gerufen haben – die obdachlos sind, oder im Drogenmilieu“, sagt er. „Da | |
| müssen Sie dann häufig erstmal Konflikte schlichten.“ | |
| Wir sprechen ihn auf rechtsextreme Vorfälle an. Lechleuthner sagt, solche | |
| Vorfälle müssten bei ihm landen. Er würde sie dann bewerten: Einzelfall | |
| oder systematisches Problem? Man würde solche Dinge mit der jeweiligen | |
| Hilfsorganisation dann „umfänglich besprechen“. | |
| Nur: Der Ärztliche Leiter bekommt offenbar sehr wenig von diesen Vorfällen | |
| mit. „Ich kenne da nur einen einzigen konkreten Fall“, sagt er, „aber der | |
| ist abgeschlossen und Jahre her. Das haben wir zur Zufriedenheit aller | |
| gelöst.“ Die Vorfälle auf der Feuerwache 9? Nie davon gehört, sagt | |
| Lechleuthner. Auf taz-Nachfrage räumt eine Sprecherin der Johanniter Köln | |
| ein, dass Lechleuthner nie offiziell informiert wurde. | |
| Die taz hat im Juli 2022 in den zwanzig größten Städten gefragt, ob es bei | |
| den dortigen Rettungsdiensten rassistische oder sexistische Vorfälle gab. | |
| Die jeweiligen Ärztlichen Leiter des Rettungsdienstes müssten es erfahren, | |
| wenn gegen ein:e Sanitäter:in Disziplinarmaßnahmen eingeleitet wurden. | |
| Wer die Antworten aus den Rathäusern liest, könnte sich denken: Alles | |
| bestens. Denn dort sind so gut wie keine Vorfälle bekannt. | |
| Nur Bremen, Berlin, Düsseldorf und Dresden listen ein paar Dinge auf. In | |
| Berlin wurde strafrechtlich ermittelt wegen rechtsextremer Verdachtsfälle | |
| bei der Feuerwehr. Über einen Mitarbeiter in Düsseldorf wurde bekannt, dass | |
| er Mitglied der Neonazi-Vereinigung „Bruderschaft Deutschland“ war, er | |
| wurde in ein Aussteigerprogramm für Rechtsextreme geschickt. | |
| Es ist kein Zufall, dass vor allem dort Fälle genannt werden, wo Medien | |
| bereits berichtet hatten. In Hamburg hat es demnach „mehrere wenige Fälle“ | |
| gegeben, in denen sich Mitarbeitende in beleidigender und sexistischer Art | |
| auch gegenüber Patient:innen und nicht nur gegenüber Kolleg:innen | |
| äußerten. | |
| Wir haben die Kommunen auch gefragt, ob die Begriffe „Morbus Bosporus“ oder | |
| „Morbus Mediterraneus“ im Rettungsdienst gebraucht werden. Alle antworten: | |
| nein. Aus Dresden heißt es, die Begriffe seien „weder bekannt, noch werden | |
| sie im Rettungsdienstbereich Dresden verwendet“. Ein Sprecher der Stadt | |
| Bochum schreibt, den Begriff „Morbus Bosporus“ gebe es bei ihnen nicht, | |
| daher müssten die Mitarbeitenden dazu auch nicht geschult werden. | |
| Es klingt so, als hätten viele Verantwortlichen noch nie mit den | |
| Hilfsorganisationen gesprochen. Und schon gar nicht mit denen, die täglich | |
| im Rettungswagen unterwegs sind. | |
| Auch Alex Lechleuthner behauptet: „Morbus Bosporus ist kein gängiger | |
| Begriff unter Mitarbeitern des Rettungsdienstes in Köln.“ Versucht er, | |
| Dinge unter den Tisch zu kehren? Oder weiß er wirklich nicht, was in dem | |
| Dienst vorgeht, den er verantwortet? | |
| Für Letzteres spricht, wie Lechleuthner seine Aufgabe definiert: „Mir ist | |
| es wichtig, dass die Mitarbeiter im Rettungsdienst wissen, dass ich nicht | |
| derjenige bin, der sie nur negativ beurteilt“, sagt er. Bei den vielen | |
| belastenden Einsätzen könne es schonmal sein, dass die Rettungsdienstleute | |
| nicht souverän reagieren. „Aber so etwas müssen Sie im Gesamtkontext | |
| beurteilen, ich will da nicht der Schiedsrichter sein.“ | |
| Aber wer dann? Die Hilfsorganisationen selbst haben kein Interesse daran, | |
| Probleme offenzulegen und am Bild des Rettungsdienstes zu kratzen. Sie | |
| wollen ja auch in Zukunft beauftragt werden – und Geld verdienen. In Köln | |
| bekommen die Johanniter allein für den Rettungsdienst rund 11 Millionen | |
| Euro im Jahr überwiesen. | |
| Lebensretter:innen, das sind eigentlich die Guten. Aber es gibt eben auch | |
| die Rettungsrambos, denen es gefällt, Macht zu haben. Das ist ein Begriff, | |
| den wir tatsächlich von Sanitäter:innen selbst hören. Mit Blaulicht | |
| und Martinshorn durch die Stadt heizen. Dass Menschen auf sie angewiesen | |
| sind. Mächtig sein wie ein:e Polizist:in oder Soldat:in. Ohne Waffe | |
| zwar, aber mit der Entscheidungsgewalt über Leben oder Tod. „Manche | |
| glauben, sie seien Gott“, sagt eine Rettungsdienst-Mitarbeitende. | |
| Die Hilfsorganisationen, das sind keine kleinen Vereine, auch wenn es so | |
| klingen mag. Faktisch sind sie große Konzerne. Die Johanniter etwa machen | |
| mehr als 1,5 Milliarden Euro Umsatz im Jahr, mehr als ein Drittel davon mit | |
| dem Rettungsdienst und Krankentransporten. Ein gutes Image ist wichtig. Die | |
| Sanitäter:innen sind in gewisser Weise immer auch Werbefiguren, wenn | |
| ein Rettungswagen mit leuchtendem Schriftzug auf der Straße steht, bringt | |
| das womöglich den einen oder die andere dazu, an die Organisation zu | |
| spenden. | |
| Und noch entscheidender: der Personalmangel. Bundesweit fehlen rund 20 bis | |
| 25 Prozent der benötigten Rettungskräfte, schätzt die Gewerkschaft für die | |
| Beschäftigten der Kommunen. Von Schleswig-Holstein bis Bayern klagen die | |
| Verbände über [10][Fachkräftemangel] – bei steigenden Einsatzzahlen. Die | |
| Situation dürfte sich in den kommenden Jahren mit [11][einer Gesellschaft, | |
| die immer älter wird] noch verschlimmern. | |
| Das oberste Ziel der Rettungsdienst-Organisationen ist es, die Schichten | |
| besetzt zu bekommen – erst der Dienstplan, dann die Moral. Jemanden zu | |
| kündigen, können sich die Organisationen kaum leisten. Deswegen können sich | |
| die Mitarbeitenden viel herausnehmen. Das fängt beim Zuspätkommen an, geht | |
| über schlampiges Desinfizieren des Rettungswagens und endet mitunter bei | |
| offenem Rechtsextremismus. | |
| ## NS-Marschmusik | |
| Martin N. (Name geändert) fängt im März 2021 als Rettungssanitäter in | |
| Frechen an, einer Mittelstadt im Rheinland, im Nebenjob. Er bleibt nicht | |
| einmal drei Tage, dann kündigt er. Er hält es einfach nicht aus. | |
| Die Wache Frechen ist ein graubrauner Klotz am Stadtrand, eröffnet 2017, | |
| nebenan das Gymnasium. Das alte Gebäude war zu klein geworden, in der | |
| modernen Wache ist alles unter einem Dach: die freiwillige und die | |
| Berufsfeuerwehr, der Rettungsdienst. Auf den Wägen steht: „Wir fahren – | |
| damit Sie leben“. Für den Rettungsdienst ist hier die Feuerwehr zuständig, | |
| die der Stadtverwaltung untersteht. | |
| Es gab in den vergangenen Jahren einige Rechtsextremismus-Skandale bei | |
| deutschen Feuerwehren – [12][den wohl schwersten in Bremen]: Im Herbst 2020 | |
| flogen dort Chatgruppen mit Hakenkreuzen, rassistischen, antisemitischen | |
| und sexistischen Sprüchen auf. Eine Sonderermittlerin des Bremer Senats | |
| sprach von gravierenden Missstände bei der Berufsfeuerwehr und von einer | |
| zum Teil „rückständigen, autoritären und angstbesetzten Führungskultur“. | |
| Ein Beamter ist nach wie vor suspendiert, bei vollen Bezügen. Die | |
| Staatsanwaltschaft hatte wegen Volksverhetzung gegen ihn ermittelt, das | |
| Verfahren aber mittlerweile eingestellt. Drei weitere Beamte mussten | |
| disziplinarische Geldbußen bezahlen, arbeiten aber bis heute weiter | |
| zusammen auf der Problemwache. Gegangen ist nur die Frau, die den Skandal | |
| öffentlich gemacht hatte. | |
| Auch auf der Wache in Frechen fällt Martin N. sofort auf, dass seine neuen | |
| Kollegen rassistische und frauenverachtende Wörter nutzen. Ausschlaggebend | |
| für seine Kündigung sei gewesen, was sich schon an seinem zweiten Tag bei | |
| Dienstantritt abgespielt habe. | |
| „Die Verharmlosung (wenn nicht gar Verherrlichung) nationalsozialistischen | |
| Gedankenguts erlebte ich, als das Handy eines Beamten klingelte“, schreibt | |
| er in seiner Kündigung an seinen Vorgesetzten. „Als Klingelton erschallte | |
| ein nationalsozialistisches Marschlied.“ | |
| Im Gespräch mit der taz beschreibt N. die Situation so: Es ist | |
| Dienstagfrüh, die Übergabe von der einen Wachabteilung zur anderen läuft, | |
| die Besatzungen der Rettungs- und Krankenwagen sowie der Löschfahrzeuge, | |
| treffen sich. Von der anderen Seite des Raums habe er Musik gehört und erst | |
| gedacht, es sei ein Klingelton, vielleicht habe aber auch jemand | |
| absichtlich etwas auf dem Handy abgespielt: das NS-Marschlied „Erika“, mit | |
| Text. „Auf der Heide blüht ein kleines Blümelein, Und das heißt: Erika“, | |
| heißt es darin. | |
| Er habe das Lied erkannt, sagt Martin N., weil er kurz zuvor eine Doku über | |
| rechte Symbolik angeschaut habe, in der das Lied vorgekommen sei. | |
| Tatsächlich wird es im Internet häufig zur Untermalung rechter Inhalte | |
| verwendet. Komponiert hat es Herms Niel, Hitlers musikalischer | |
| Oberzeremonienmeister. Das Lied ist nicht verboten, aber es ist | |
| unzweifelhaft ein Propagandawerk der Nazis. Als das Lied auf der Wache | |
| losging, hätten aus allen Ecken Leute schallend gelacht, sagt N. Auch der | |
| Feuerwehr-Chef sei im Raum gewesen, „er müsste das mitbekommen haben.“ | |
| Martin N. hat seine Kündigung auch an mehrere Mitarbeiter:innen der | |
| Stadtverwaltung geschickt. Und betont: Das Verhalten seiner Kollegen sei | |
| nicht mit seinen Wertvorstellungen zu vereinbaren, „gerade in einem | |
| Berufsfeld, welches dadurch geprägt wird, jedem Menschen in Not zur Hilfe | |
| zu eilen“. | |
| Gab es Konsequenzen? Der Feuerwehrchef ist für die taz nicht zu erreichen, | |
| er sei längerfristig erkrankt, heißt es. Sein Vertreter meldet sich von | |
| sich aus, als er mitbekommt, dass wir recherchieren, und verweist auf den | |
| Pressesprecher der Stadt. Der schreibt per Mail, dass man dem Hinweis | |
| nachgegangen sei und Gespräche mit Vorgesetzten und Mitarbeitenden geführt | |
| habe. Im Ergebnis sei man zu der „gesicherten Erkenntnis“ gekommen, dass es | |
| sich bei dem Klingelton nicht um das NS-Marschlied gehandelt habe. Es sei | |
| das „Steigerlied“ gewesen, das „in unserer Region der Tradition des | |
| Bergbaus/Kohleabbaus zugeschrieben wird“. Ein Lied, das ganz anders klingt | |
| und einen völlig anderen Text hat. Auf die mehrfache Nachfrage, wie genau | |
| man zu der „gesicherten Erkenntnis“ gekommen sei, antwortet der Sprecher | |
| nur, es sei alles gesagt. | |
| ## Immer noch da | |
| Nach dem Vorfall mit dem Geburtstagskalender lässt sich Guido Schäpe krank | |
| schreiben. Im Juni 2021 wird er fristlos gekündigt. Dagegen klagt er vor | |
| dem Arbeitsgericht. Er erhält eine Abfindung und verlässt die Johanniter. | |
| Nun hat er sich entschieden, an die Öffentlichkeit zu gehen, mit seinem | |
| vollen Namen, denn: „Ich möchte, dass sich im Rettungsdienst wirklich etwas | |
| ändert“. Die internen Beschwerden hätten ja nichts bewirkt. Er sagt, er | |
| möchte andere ermutigen, ebenso den Mund aufzumachen, wenn sie etwas | |
| mitbekommen, das nicht in Ordnung sei. Auch er selbst habe zu lange | |
| geschwiegen. | |
| Guido Schäpe ist nicht der einzige, der sich in seiner Zeit bei den | |
| Johannitern gemobbt fühlt. Andere Kollegen haben ebenfalls deswegen die | |
| Wache verlassen. Einer beklagt sich, er sei von Vorgesetzen angeschrien und | |
| beleidigt worden. | |
| Doch auch die Problemfälle gehen: Der Mann, der die Nazi-Namen in den | |
| Kalender geschrieben haben soll. Der Mann mit der Reichsbürgerproganda, der | |
| mit allen möglichen Verschwörungserzählungen aufgefallen ist: Er hat im | |
| Kolleg:innenkreis von Reptiloiden erzählt und ist auch schon mal nach | |
| einem Einsatz mit dem Rettungswagen auf eine Wiese gefahren, um | |
| „Chemtrails“ am Himmel zu fotografieren. Er wechselte zum Roten Kreuz in | |
| einen Nachbarkreis. Es kursieren Erzählungen, was er dort gemacht haben | |
| soll: Impfbescheinigungen zerrissen, die Radmuttern eines Dienstfahrzeugs | |
| gelöst, gedroht, etwas anzuzünden. Auf taz-Anfrage schreibt er, dass er | |
| sich nicht äußern möchte. Eine Sprecherin des DRK-Verbandes sagt, die | |
| Vorwürfe seien ihr nicht bekannt. Fakt ist, dass der Mann auch diese neue | |
| Stelle wieder verlassen hat. | |
| Die Johanniter in Köln antworten schließlich doch noch auf manche unserer | |
| Nachfragen. Leider habe man die Person, die die Namen in den Kalender | |
| geschrieben hat, nicht feststellen können, schreibt die Sprecherin. Und: | |
| „Aus heutiger Sicht müssen wir konstatieren, dass es im Sommer 2020 | |
| erkennbar Fehlentwicklungen und Fehlverhalten in der Rettungswache gegeben | |
| hat“. Sie kündigt eine „engagierte Untersuchung“ des Vorgehens von 2020 … | |
| und dass man sich „intensiv Präventionsmaßnahmen widmen“ werde. | |
| Grundsätzlich wird Ärger im Rettungsdienst gern geräuschlos geregelt. Im | |
| Zweifel gibt es eine Abfindung. Aber das ist offenbar gar nicht immer | |
| nötig: Mitarbeitende, die negativ aufgefallen sind, wechseln einfach den | |
| Arbeitgeber. Sie werden schließlich überall gebraucht. | |
| Auch die beiden Rettungsdienstmitarbeitenden von der Feuerwache 9, die für | |
| ihre Nähe zur Identitären Bewegung bekannt waren, sind nicht mehr bei den | |
| Johannitern in Köln beschäftigt. Sie sind nun im Rheinisch-Bergischen Kreis | |
| tätig, immer noch gemeinsam, immer noch bei den Johannitern. Als wir einen | |
| der beiden Männer anrufen, sagt er, er kenne die Identitäre Bewegung nicht | |
| und wolle nicht in eine Schublade gesteckt werden. „Ich habe kein Interesse | |
| an dieser Fragerei“, sagt er und legt auf. | |
| Laut den internen Regularien der Johanniter müssen beide Regionalverbände | |
| zustimmen, wenn Angestellte von einem in den anderen wechseln. Offenkundig | |
| Rechtsradikale können also einfach weiterziehen, es scheint keinen zu | |
| interessieren. | |
| Der Notfallsanitäter, der die Nazi-Größen in den Wandkalender eintrug, | |
| einen Hass auf Türken hegt und der offenbar nicht alle Patient:innen | |
| gleichermaßen behandeln will, arbeitet inzwischen wieder für die Johanniter | |
| auf der Feuerwache 9 in Köln-Mülheim. Die dortige Mitarbeitervertretung hat | |
| der Wiedereinstellung zugestimmt. Er ist als Praxisanleiter auch für die | |
| Ausbildung neuer Kolleg:innen zuständig. | |
| 16 Sep 2022 | |
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| Sebastian Erb | |
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