# taz.de -- Seenotrettung im zentralen Mittelmeer: Augen aufs Meer | |
> Das Mittelmeer ist die tödlichste Grenze der Welt. Hier muss das | |
> Versprechen einer wertebasierten Außenpolitik eingelöst werden. | |
Bild: Seenotrettung: Das Sterben von Menschen sehenden Auges verhindern | |
Während wir diese Zeilen schreiben, ist auf dem Mittelmeer ein Boot in | |
Seenot. Die 45 Flüchtenden haben einen Notruf an das Team von | |
[1][Alarmphone] gesendet, das die zuständigen Seenotleitstellen informiert. | |
Als Malta nach einer Woche die Menschen endlich rettet, werden aber nicht | |
die Offiziere aus der Rettungsleitstelle eingesperrt, die 6 Tage lang nicht | |
reagiert haben, sondern die Flüchtenden. Dass niemand gestorben ist, ist | |
wohl allein dem öffentlichen Druck des Alarmphones zu verdanken, das sich | |
wegen ähnlicher Fälle gegründet hatte – 2011 etwa hatten nach 14 Tagen auf | |
See nur 9 von 72 Insassen eines Bootes überlebt. | |
Unterlassene Hilfeleistung ist auf dem zentralen Mittelmeer, der | |
tödlichsten Grenze der Welt, an der Tagesordnung. Dabei handelt nach | |
Paragraf 323c des Strafgesetzbuches strafbar, wer bei Unglücksfällen nicht | |
Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und zumutbar ist. Doch Flüchtende | |
auf dem Meer sterben zu lassen, ist in der EU zur Staatsraison geworden. | |
Als Antwort darauf haben sich Freiwillige zusammengetan, um Seenotrettung | |
zu organisieren. Die zivile Rettungsflotte hat sich seit 2015 stark | |
professionalisiert. Mittlerweile versuchen mehr als 10 Schiffe und 3 | |
Flugzeuge, die Lücke zu schließen, die europäische Staaten bewusst | |
geschaffen haben. Aus privaten Spenden finanziert, wurden | |
Offshore-Versorger, Schnellboote und medizinische Ausrüstung gekauft. | |
EU-Staaten behindern die zivilen Helfer:innen aber immer wieder dabei: | |
Informationen über Seenotfälle werden nicht geteilt, Schiffe mit | |
fadenscheinigen Begründungen festgesetzt – gerade erst hat Italien gegen | |
[2][Sea-Watch] vor dem Europäischen Gerichtshof verloren. | |
Auch die Dekrete des ehemaligen italienischen Innenministers [3][Salvini], | |
mit denen er 2018 versuchte, die italienischen Häfen für die Seenotrettung | |
zu schließen, waren verfassungswidrig. Dennoch ist damit zu rechnen, dass | |
EU-Staaten auch in Zukunft vorsätzlich Gesetze brechen werden, um | |
Schutzsuchende davon abzuhalten, den Burggraben der Festung Europa zu | |
überwinden, mit tödlichen Konsequenzen. | |
Doch nicht nur das: Mit der sogenannten libyschen Küstenwache hat sich die | |
EU eine Truppe von Handlangern aufgebaut, an die sie den Rechtsbruch | |
outsourcen kann. Schiffen, die unter europäischen Flaggen fahren, ist es | |
durch die Genfer Flüchtlingskonvention verboten, Menschen in ein Land | |
zurückzubringen, in dem sie bedroht sind. | |
Erst im vergangenen Jahr wurde ein italienischer Kapitän verurteilt, der | |
2018 Menschen nach Libyen zurückbrachte. Italien hat deshalb | |
Patrouillenboote nach Libyen geliefert, die Flüchtende abfangen und in die | |
Elends- und Folterlager Libyens verschleppen. Auch mithilfe der | |
EU-Grenzschutzagentur Frontex, deren Flugzeuge und Drohnen lediglich die | |
Libyer über Seenotfälle informieren, nicht aber zivile Rettungskräfte, die | |
zum Teil schneller und sicherer retten, vor allem aber Menschen an einen im | |
rechtlichen Sinne sicheren Ort bringen könnten. [4][Frontex] verhindert | |
somit völkerrechtskonforme Rettungsmaßnahmen. | |
Dagegen organisiert sich zivilgesellschaftlicher Widerstand – wir nennen es | |
Solidarity And Resistance – SAR: Wir leisten nicht zivilen Ungehorsam, | |
sondern zivilen Gehorsam, wie Palermos Bürgermeister Leo Luca Orlando zu | |
sagen pflegt, denn letztlich sind wir es, die auf dem zentralen Mittelmeer | |
internationales Recht durchsetzen. Seenotrettungsorganisationen haben sich | |
zu einer zivilen Rettungsleitstelle, dem CivilMRCC, zusammengeschlossen. | |
Sie werten von Alarmphone oder den Flugzeugen von Sea-Watch übermittelte | |
Informationen über Seenotfälle aus und organisieren Rettung. In der | |
libyschen Seenotrettungszone sind die großen Offshore-Versorger von | |
Sea-Watch oder Ärzte ohne Grenzen und Schnellboote wie die „Louise Michel“, | |
das pink Schiff, das der Künstler Banksy gespendet hat, die einzige Chance | |
für Flüchtende, deren Boote es nicht aus eigener Kraft nach Europa | |
schaffen. | |
Mittlerweile organisieren Frontex und die maltesische Rettungsleitstelle | |
zwar selbst in der maltesischen Suchzone illegale Rückführungen durch die | |
Libyer, doch auch darauf hat die zivile Flotte eine Antwort: Segelyachten | |
wie die „Nadir“ von RESQSHIP, oder die „Imara“ von R42-sailandrescue, s… | |
keine Seenotrettungsschiffe im eigentlichen Sinn, sie sind zu klein, um | |
eine größere Zahl von Menschen aufzunehmen. Sie fahren mit kleiner Crew | |
Beobachtungsmissionen, sind ein ziviles Auge auf See und machen Druck auf | |
die europäischen Behörden, der Staaten wie Italien oder Malta dazu zwingt, | |
zu retten. | |
Sie stehen damit ganz in der Tradition der „Sea-Watch 1“, des ersten | |
deutschen Seenotrettungsschiffes: Der Name „Sea-Watch“ – nicht etwa | |
„Sea-Rescue“ – wurde 2015 bewusst gewählt. Seenotrettung haben wir uns �… | |
damals eine Handvoll Landratten – überhaupt nicht zugetraut. Wir wollten | |
Druck ausüben, damit Staaten ihren Job machen. Und wir wollten den Diskurs | |
verändern. Denn dass überhaupt Menschen auf dem Mittelmeer ertrinken, ist | |
eben keine Naturkatastrophe, sondern die politische Entscheidung, sichere | |
und legale Einreisewege zu verweigern. Die Idee zu Sea-Watch entstand am | |
Jahrestag des Mauerfalls aus dem Unverständnis heraus, wie man die | |
Mauertoten beklagen kann und gleichzeitig Mittelmeertote schafft durch | |
einen neuen Eisernen Vorhang um den Kontinent. | |
Migrationsabwehr hat, historisch betrachtet, noch nie funktioniert: Sowohl | |
die chinesische als auch die Berliner Mauer sind gefallen. Dennoch wird | |
häufig so getan als wäre es das Logischste von der Welt, dass „eben nicht | |
alle kommen können“. Kaum jemand denkt darüber nach, dass vielleicht auch | |
gar nicht alle kommen wollen. Wer von Grenzöffnungen spricht, wird meist | |
sofort als Utopist*in verschrien, dabei sind Grenzöffnungen | |
Realpolitik. Unsere Jugend war eine Zeit der Grenzöffnungen und wir haben | |
damit durchweg positive Erfahrungen gemacht. Die EU brachte uns | |
unkomplizierte Reisefreiheit. Schon bei der EU-Osterweiterung gab es | |
massive rassistische Kampagnen – unser Sozialstaat sei in Gefahr, Menschen | |
würden reihenweise in das deutsche Sozialsystem einwandern. | |
Und heute? Ohne Pflegekräfte aus Osteuropa würden im überalterten | |
Deutschland einige im wörtlichen Sinn dumm aus der Wäsche schauen und | |
Spargel wäre noch viel teurer. Wir wollen damit die Ausbeutung von | |
osteuropäischen Arbeiter*innen nicht rechtfertigen, ganz im Gegenteil, | |
das zugrundeliegende Wirtschaftssystem ist Teil, beziehungsweise sogar eine | |
Hauptursache des Problems. Es wird jedoch deutlich, dass Deutschland auf | |
Migration angewiesen ist. Was wir daher brauchen, ist eine Politik, die | |
Migration nicht abwehrt, sondern sie zum Wohle aller gestaltet. Zuwanderung | |
ist ein Fakt, keine Mauer der Welt kann sie verhindern. Wir können aber | |
entscheiden, wie wir darauf reagieren und wie viel Leid dabei entsteht. | |
Merkels berühmter Ausspruch „Wir schaffen das“ hat 2015 Hoffnung geweckt. | |
Der kurze „Sommer der Migration“, in dem selbst Bild-Chef Kai Dieckmann | |
Flüchtende bei sich aufnahm, zeigt, was mit dem richtigen Diskurs möglich | |
ist. Leider knickte Merkel ein. Obwohl Wirtschaftsdaten zeigen, dass wir es | |
tatsächlich geschafft haben, gewannen in der Regierung diejenigen die | |
Oberhand, die mit ihren Asylpaketen das Grundrecht fast gänzlich zerstört | |
haben. Die rassistische Achse Salvini-Strache-Seehofer ist zwar zerbrochen, | |
doch in Italien hat sich der rechtsradikale Block um Meloni bereits in | |
Stellung gebracht, um im Herbst die Macht zu übernehmen, und in Frankreich | |
kumpelt Macron mit Le Pen – von Orbán und Co ganz zu schweigen. Damit kommt | |
der Bundesregierung heute wieder eine besondere Verantwortung zu. | |
Im Jahr 2022 sind bisher gerade mal gut 40.000 Flüchtende in Italien | |
angekommen – Deutschland könnte sie alle problemlos aufnehmen und wäre, | |
selbst wenn das so weitergeht, Ende des Jahres noch nicht einmal bei der | |
Hälfte der Menschen, deren Aufnahme selbst Obergrenzen-Seehofer für | |
jährlich stemmbar hielt. Die unkomplizierte Aufnahme von fast einer Million | |
Flüchtender aus der Ukraine zeigt, was möglich ist, wenn der politische | |
Wille dazu da ist. | |
Natürlich muss das der Bevölkerung vermittelt werden, aber Robert Habeck | |
hat ja gezeigt, dass auch Minister Erklärvideos können. Was uns indes | |
bisher niemand erklären konnte, ist, warum es für weiße Geflüchtete möglich | |
ist, etwa sofort eine Arbeitserlaubnis zu erhalten, für Schwarze aber | |
nicht. Ob Migration eine Erfolgsgeschichte ist, hängt auch davon ab, wie | |
sie gestaltet wird, das zeigt die Bilanz von 2015 und das zeigt aktuell die | |
Situation der aus der Ukraine Geflüchteten. | |
Von der Ampelkoalition wurde uns eine wertegeleitete Außenpolitik | |
versprochen, an Europas Seegrenze muss dieses Versprechen eingelöst werden. | |
Als Allererstes muss die Finanzierung der verbrecherischen Agentur Frontex | |
gestoppt werden, mit dem dadurch frei werdenden Geld könnten Flugzeuge zur | |
Seenotrettung entsandt werden. Das wäre zumindest mal ein Anfang. | |
Im Grundgesetz heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – nic… | |
„Die Würde des europäischen Passinhabers …“. Menschenrechte sind nur da… | |
etwas wert, wenn sie für alle gelten, deshalb wird unsere Freiheit nicht | |
nur in der Ukraine, sondern auch auf dem Mittelmeer verteidigt. Wenn wir | |
einen Unterschied bei der Wertigkeit von Menschenleben zulassen, ist der | |
Faschismus nicht weit. In Italien könnte er im Herbst die Macht übernehmen. | |
Spätestens dann wird die Bundesregierung zeigen müssen, wo ihre Prioritäten | |
liegen und ob sie es ernst meint mit diesen Werten. | |
16 Aug 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://twitter.com/alarm_phone/status/1554474717330931712 | |
[2] /EuGH-entscheidet-zu-Sea-Watch-in-Italien/!5871337 | |
[3] /Flucht-ueber-das-Mittelmeer/!5872387 | |
[4] /Seenotretter-ueber-Pushbacks-und-Hetze/!5873771 | |
## AUTOREN | |
Ruben Neugebauer | |
Jenny Scarso | |
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