# taz.de -- CSD in Berlin: Du bist nicht allein | |
> CSD und Pride-Paraden sind heute Megapartys mit Spaßgarantie. Und sie | |
> bleiben Orte für Selbstfindung – auch auf dem Weg vom Dorf in die | |
> Großstadt. | |
Bild: Herzliches beim Berliner CSD 2014 | |
Ein Lied, das schon mal eine Richtung vorgibt: Mother will never understand | |
why you had to leave / But the answers you seek will never be found at home | |
/ The love that you need will never be found at home. | |
Und: Run away, turn away, run away, turn away, run away … | |
Diese Zeilen stammen aus einem Lied, das für viele schwule Männer aus der | |
Babyboomer-Generation – so wie mich – enorm wichtig war (und vielleicht | |
immer noch ist). [1][„Smalltown Boy“] ist die Debütsingle der britischen | |
Synthi-Popband Bronski Beat mit ihrem charismatischen Sänger Jimmy | |
Somerville, im Dezember 1984 veröffentlicht. | |
Ich war damals 18 Jahre alt. Der Song traf mich mitten ins Herz. Denn hier | |
wurde genau meine Lebensrealität beschrieben: Antworten gab es hier eben | |
nicht und die Liebe, nach der im Song gesucht wird, eben auch nicht. Ich | |
war zwar kein „Smalltown Boy“, also kein Kleinstadtjunge, sondern noch | |
schlimmer: ein Dorfkind. Ich war in meinem Mecklenburger Kaff | |
mutterseelenallein, weil ich auf Jungs stand und das niemanden anvertrauen | |
konnte, weder in der Familie noch bei den Klassenkameraden oder später in | |
der Lehre. Ich versteckte mein Schwulsein, verpackte mein wirkliches Ich | |
hinter einer dicken Schale. Und hielt das einfach viele Jahre aus. | |
Bis ich alt genug wurde, eigene Wege zu gehen. Die Wende spielte dabei eine | |
wichtige Rolle, weil mir diese Zeitenwende neue, vorher nie geahnte | |
Möglichkeiten bot. Zugang zu schwuler Literatur und – ja, auch das war | |
wichtig: schwuler Pornografie, die ich mir (es waren analoge Zeiten) in | |
Hamburg oder Berlin besorgte. Ein Studium wurde möglich. Und damit gelang | |
mir der Absprung aus Mecklenburg. | |
Es sollte Berlin sein, wohin sonst? Die schwule Szene, so groß und | |
vielfältig und bunt wie in sonst kaum einer deutschen Großstadt lockte – | |
natürlich auch die Aussicht, endlich auf Gleichgesinnte zu treffen, und | |
klar, auch die Verheißungen der Anonymität. Bloß raus aus der sozial | |
kontrollierten Enge. | |
An meinen ersten [2][CSD in Berlin] kann ich mich gut erinnern: Anfang der | |
1990er Jahre. Wie aufgeregt ich war, wie angespannt, als ob ich etwas | |
Verbotenes, Unerhörtes vorhatte. Immerhin wollte ich zum ersten Mal in | |
meinem Leben auf einem CSD mitlaufen und damit offen bekunden, dass ich | |
schwul bin. Heute muss ich selbst darüber lachen (und bin zugleich | |
erschrocken über den Einfluss meiner Sozialisation, die mich damals so | |
empfinden ließ). | |
Dabei war ich nicht allein, das half über die Unsicherheit hinweg. Meine | |
Kommiliton:innen von der Humboldt-Universität und ich liefen im Block | |
der damals gerade neu gegründeten Gruppe „Mutvilla“, einer studentischen | |
Aktionsplattform für alle Studierenden, egal ob lesbisch, bi, schwul, trans | |
oder queer (wobei: queer war damals noch nicht in unserem Wortschatz | |
angekommen). Gemeinsam waren wir stark. | |
Warum ich das so ausführlich erzähle? Weil mein Weg, mein spätes | |
Coming-out, meine Selbstfindung beispielhaft für viele andere Geschichten | |
von Menschen wie mich steht. Weil das Private eben doch politisch ist. Und | |
weil sich diese Lebens- und Leidensgeschichten so oder ähnlich wiederholen. | |
Immer wieder. Generation für Generation. Okay, es mag heute leichter sein | |
mit einem Coming-out, weil wir in einem Land leben, in einem | |
gesellschaftlichen Klima, das sich in weiten Teilen tolerant gibt. Doch mit | |
der Sprache herauskommen, den Eltern, den besten Freunden etc. zu sagen, | |
dass man lesbisch oder trans ist, also zu sich selbst zu stehen, ist nach | |
wie vor ein emotional gewaltiger Akt, der Mut braucht. | |
Und so ein CSD kann diesen Mut machen. Auch und gerade in der deutschen | |
Hauptstadt, die weltweit wie ein Magnet auf queere Menschen aus aller Welt | |
wirkt. „Jeder nach seiner Fasson“: Diese charmante wie liberale | |
Geisteshaltung der allermeisten Berliner:innen macht vieles so ungemein | |
leichter im zwischenmenschlichen Umgang. Die Redensart soll ein Zitat | |
Friedrichs des Großen sein, der sich 1740 zur Zulassung des katholischen | |
Glaubens im protestantischen Preußen äußerte, religiöse Toleranz befahl und | |
meinte, hier – also in Preußen und damit auch in Berlin – muss ein jeder | |
nach seiner Fasson selig werden. | |
## Aber wer hat jetzt den Größten? | |
Der CSD in Berlin gilt als einer der größten seiner Art in Europa. Okay, es | |
gibt seit Jahren eine Art realisierenden Wettbewerb, wer die größte Parade | |
in Deutschland veranstaltet: Köln oder Berlin. Und ist es nicht wunderbar, | |
dass es zu solchen harmlos nebensächlichen Debatten kommen kann? | |
In Köln demonstrierten bereits am 3. Juli rund 1 Million Menschen. Das | |
Motto 2022 war erneut [3][„Viele. Gemeinsam. Stark für Menschenrechte“]. | |
Uwe Weiler vom Kölner Lesben- und Schwulentag hält das für aktueller denn | |
je, wie er im WDR sagte: „Wenn man sich die Situation in der Ukraine | |
anguckt, sind wir sehr, sehr froh mit dem Motto und haben gesagt, dass | |
dieses eigentlich universelle Motto nicht nur für die queere Community | |
zählt, sondern auch für die heteronormative Gesellschaft. Und das eben | |
nicht nur in Köln.“ | |
Eröffnet wurde die Kölner CSD-Parade übrigens von Henrik Wüst (CDU): Das | |
erste Mal in der rund 30-jährigen Geschichte des CSD in der Domstadt, dass | |
diese Aufgabe von einem Ministerpräsidenten übernommen wurde. | |
Die Million war auch in Berlin schon auf der Straße – 2019 zum Beispiel. | |
Hier, oder besser: im Westteil der Stadt, fand 1979 der allererste CSD | |
statt. Es gab damals gleich zwei Losungen, unter denen demonstriert wurde: | |
„Mach dein Schwulsein öffentlich!“ und „Lesben erhebt euch und die Welt | |
erlebt euch!“ 400 Personen sollen daran teilgenommen haben, glaubt man | |
[4][Wikipedia]. | |
Die diesjährige Parade am 23. Juli wird erstmals nach zwei Jahren Pandemie | |
wieder ohne größere Einschränkungen stattfinden: gleich mehrere Jahrgänge, | |
die jetzt endlich zu ihrer allerersten richten Pride-Parade gehen können. | |
Das Motto – die Findung war viele Jahre ein Politikum – leuchtet in diesen | |
Zeiten ein: [5][„United in LOVE! Gegen Hass, Krieg und Diskriminierung“]. | |
Der veranstaltende CSD Berlin e. V. erwartet 500.000 Menschen – vielleicht | |
werden es aber auch viel mehr. Denn der CSD hat nach wie vor Strahlkraft | |
und dürfte wie alle Jahre zuvor auch Demonstrierende und Feierwütige aus | |
der ganzen Republik, vor allem aber aus den nahen ostdeutschen | |
Bundesländern anziehen. Denn so ein CSD ist beides, wie es Malte Göbel | |
Mitte Juni in einem [6][Beitrag für die taz] so treffend formuliert hat: | |
„Ausgelassenheit und Freude haben auf Pride-Demos und Christopher Street | |
Days ihren Platz, sie werden aber immer noch als politische Demonstrationen | |
gebraucht.“ | |
So ein CSD kann Glückshormone freisetzen. Wer einmal im Strom der | |
Hunderttausenden mitgelaufen ist, kann erahnen, warum: Die schiere Masse | |
lässt das Herz höher schlagen. „Du bist nicht allein“, lautet die so | |
einfache wie tröstliche Botschaft so einer Massenparade. Ein manifestes | |
Zeichen von Stärke, Zusammenhalt und Gemeinsinn. Hier macht das abgenutzte | |
Wort von „der Community“ einen Sinn. | |
Warum abgenutzt? Nun, weil es die queere Community gar nicht gibt. Weil es | |
unzählige Subszenen innerhalb der queeren Gemeinde gibt. Die Größe Berlins | |
macht es möglich. Hier gibt es einerseits genügend Freiräume, andererseits | |
genügend Individuen, die die gleichen Ideale leben, sich ähnlich | |
definieren, das Gleiche wollen, ja fordern. | |
Das kann man allein an der Zahl der verschiedenen Prides – wie in aller | |
Welt die CSD-Paraden genannt werden – in der Stadt ablesen. Eine an dieser | |
Stelle unumgängliche Auflistung verdeutlicht die unglaubliche Vielfalt: | |
Bereits am 9. Juli dieses Jahres fand der Tuntenspaziergang statt, der | |
unter anderem am Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten | |
Homosexuellen vorbeiführte. Was für ein starkes Zeichen. | |
Zwei Wochen zuvor: die East Pride Demo, deren Veranstalter sich auf die | |
Tradition der unabhängigen Lesben- und Schwulenbewegung in der DDR berufen | |
– mit besonderer Aufmerksamkeit für die Lage von Queers in Osteuropa, wo | |
der homo- und transphobe Backlash grassiert – und in der Ukraine kämpfen | |
LGBTIQ* mit an vorderster Front. Sage noch einer, es gehe in der Berliner | |
Pride-Saison nur um Party, Frohsinn, Sex und so weiter, um mal ein gängiges | |
Klischee zu benennen: Und ja, es geht auch darum, aber eben auch um | |
Politik. | |
Auch zur Marzahn-Pride ein paar Tage zuvor stand in diesem Jahr die | |
Solidarität mit der Ukraine im Mittelpunkt, organisiert vom [7][Quarteera | |
e. V.], einem Verein für russischsprachige LGBTIQ* in Deutschland. | |
Am vergangenen Wochenende lockte das Lesbisch-schwule Stadtfest nach zwei | |
Jahren Pause rund 350.000 Menschen in den Schöneberger Kiez. Das | |
[8][Lesbisch-schwule Stadtfest] gilt als Europas größtes queeres Stadtfest, | |
und wer noch nie da war, hat etwas verpasst. Mehrere Bühnen bieten ein | |
abwechslungsreiches Programm, das von Polittalk bis Entertainment reicht; | |
Vereine und Initiativen und Firmen (auch die taz) präsentieren sich mit | |
Ständen, alles hat einen hohen – sagen wir mal – Schauwert: „Sehen und | |
gesehen werden, ähnlich wie beim CSD“, ist die Devise, meinen die einen, | |
und haben ihren Spaß. „Immer das Gleiche“, beklagen die anderen und gehen | |
gar nicht mehr hin. Die Berliner Mischung aber ist auffallend wie | |
interessant: Auf dem queeren Stadtfest tummeln sich alle, auch | |
Heterofamilien, sozusagen mit Kind und Kegel. Man ist hier | |
heterofreundlich. | |
Am Sonntag, dem 17. Juli, fand außerdem der Anarchistische CSD statt. „Mehr | |
als nur safe spaces: wir wollen die Welt!“ war das Motto. Statt Parade gab | |
es eine lange Kundgebung am Mariannenplatz in Berlin-Kreuzberg mit | |
politischen Redebeiträgen und Performances und Musik: „Für einen | |
gemeinsamen, intersektionalen und grenzenlosen antikolonialen Kampf gegen | |
Staat(en), Eliten und Regierungen“, hieß es auf der Webseite des | |
Anarchistischen CSD. | |
Und weiter geht’s: Vergangenen Donnerstagabend schipperte kurz vor dem | |
eigentlichen Pride-Wochenende wieder die Regenbogenflotte über die Spree – | |
und am Freitag zog der traditionelle [9][Dyke* March] für mehr lesbische | |
Sichtbarkeit durch die Stadt. | |
Hier wird auf Reden verzichtet“, [10][sagte Mitorganisatorin Manuela Kay] | |
im letzten Jahr der taz in einem Interview. „Wir haben nur eine Botschaft: | |
lesbische Sichtbarkeit“. | |
## Politik wieder in den Fokus rücken | |
Tja, und der Berliner CSD? Auf einer Pressekonferenz im Vorfeld des Events | |
wurde vom Vorstand des Berliner CSD e. V. betont, dass die politische | |
Dimension des CSD wieder mehr in den Fokus rücken soll – was erfreulich | |
ist. Etliche Jahre zuvor gab es immer wieder hitzige Debatten darüber, ob | |
der CSD nicht zu kommerziell und damit zu unpolitisch – und ja: auch | |
überflüssig geworden ist. | |
Der Verein steuert, so haben wir in der taz vergangene Woche berichtet, nun | |
gegen, und hat über sechs Monate hinweg in einem offenen Prozess einen | |
Forderungskatalog erstellt, der sich direkt an Politik, Wirtschaft und | |
Zivilgesellschaft richtet. | |
Die Pride-Parade markiert das Ende des ersten [11][„Pride Month Berlin“], | |
in dessen Rahmen bereits seit Anfang Juli täglich diverse Workshops, Talks | |
und Partys stattfinden. Der Fokus der Angebote lag dabei auf den Themen | |
Religion und Spiritualität, FLINTA* und lesbische Sichtbarkeit, Trans* und | |
PoC, aber auch auf mentaler Gesundheit und Inklusion. | |
„Über 60 Events wurden von der Community oder durch uns kuratiert“, sagt | |
Zoe Rasch, Kuratorin des Pride Month Berlin. „Das große Highlight ist das | |
Finale unserer Fokusthemen auf dem CSD selbst. Jedes Thema erhält einen | |
eigenen Vereinstruck, welche wiederum den Kreis schließen und den CSD damit | |
zum Abschluss der Inhalte bringen.“ | |
Beinahe wäre der inzwischen schon 44. CSD Berlin am 23. Juli um 11.30 Uhr | |
in Anwesenheit der Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey eröffnet | |
worden. Aber auch wenn sie sich wegen eines positiven Coronatests vom | |
linken Kultursenator Klaus Lederer vertreten lässt, ist die Botschaft klar: | |
Das offizielle Berlin ist queerfreundlich. Schon vor zwei Wochen hatte | |
Giffey so medienwirksam wie symbolträchtig die Regenbogenfahne vor dem | |
Roten Rathaus gehisst. | |
Die Regenbogenfahne weht nicht nur vor dem Kanzleramt und den Ratshäusern | |
der Berliner Stadtbezirke – sondern überall in Deutschland, auch in | |
kleineren Städten wie Wetzlar in Hessen oder einem noch kleineren Städtchen | |
wie Leun mit rund 5.700 Einwohnern (wo der Autor dieses Textes das letzte | |
Wochenende verbrachte), dort weht die Fahne der LGBTIQ*-Bewegung vor dem | |
örtlichen Rewe-Supermarkt. | |
Das Herumwedeln mit Regenbogenfarben allerorten und auch zu kommerziellen | |
Zwecken sollte aber nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass auch | |
hierzulande queere Menschen noch immer gefährlich leben. Auch in den | |
Großstädten. Auch in Berlin. Die Zahlen zu queer- und vor allem | |
transfeindlichen [12][Beleidigungen und Gewalttaten steigen], kaum eine | |
Woche ohne neue Vorfälle. | |
## Wachsende Stärke oder Zerfaserung? | |
Auch in der Welt liegt vieles im Argen. In Polen gibt es immer mehr | |
[13][LBGTIQ*-freie Zonen] – mitten in der EU ist das ein Skandal. Ebenso in | |
Ungarn: Dort gelten Gesetze, die es untersagen, Kindern andere Familien- | |
und Lebensmodelle als die der heterosexuellen Kernfamilie nahezubringen. | |
Und anders als in Berlin werden in anderen Städten und Ländern überhaupt | |
keine Regenbogenfahren von staatlicher Seite als Zeichen des Respekts | |
gehisst. Im Gegenteil: In Madrid zum Beispiel bekommen die dortigen | |
Pride-Veranstalter von Bürgermeister [14][José Luis Martínez Almeida] | |
Steine in den Weg gelegt, wo es nur geht. Oder Istanbul: Dort wurden im | |
Juni bei einer Demonstration in Erinnerung an die Stonewall-Proteste über | |
200 Menschen festgenommen. Diese Aufzählung ließe sich beliebig verlängern. | |
Die folgende Aufzählung aber auch: denn in der Bundesrepublik ist es | |
umstandslos möglich, für queere Belange auf die Straße zu gehen. Was mit | |
starrem Blick auf die Metropolen wie Köln, Hamburg, München und eben Berlin | |
und ihre großen queeren Szenen und CSDs aus dem Blickwinkel gerät: In ganz | |
Deutschland finden CSDs statt, in vielen kleineren Großstädten und auch | |
Kleinstädten. | |
Die Saison startete in diesem Jahr bereits am 23. April in Schönebeck, | |
einer 30.000-Einwohner-Stadt in Sachsen-Anhalt. Im Mai gingen neun CSDs | |
über die Bühne, im Juni waren es schon 31 Pride-Paraden. Allein im Juli gab | |
und gibt es 36 CSDs, von Frankfurt bis nach Lüchow im Wendland – in | |
Mönchengladbach, Marburg und Neustrelitz. | |
Im August und September geht es mit 36 Pride-Paraden weiter – im Oktober | |
noch 6, bevor die Saison am 5. November ihr Ende findet: in Herleshausen, | |
einer Gemeinde mit rund 2.800 Einwohner:innen. | |
Apropos ländliche Strukturen: Die [15][Initiative Dorfpride] organisiert | |
seit 2020 CSDs in den ländlichen Regionen Baden-Württembergs. Die Parade | |
findet jedes Jahr in einem anderen Ort statt. Dieses Jahr kam die Dorfpride | |
nach Ladenburg, eine Kleinstadt mit rund 12.000 Einwohner*innen. | |
Die Dorfpride sei wie der CSD in einer Großstadt – nur in klein, hat | |
Patrick Alberti, Mitglied der Initiative Dorfpride, dem Deutschlandfunk | |
Nova erzählt. Die Menschen in den Dörfern hätten ihre Einfahrten | |
geschmückt, Bierbänke entlang der Kundgebungsroute aufgestellt und sich auf | |
den Tag vorbereitet. Auch die Vereine der Orte ziehen mit. „Am Ende ist es | |
so, dass das ganze Dorf mit uns mitfeiert.“ | |
Bleibt eine Frage, und damit zurück nach Berlin: Ob die vielen | |
verschiedenen Prides nicht längst zu einer Zersplitterung der Community | |
geführt haben und damit nicht kontraproduktiv sind – ganz im Sinne der | |
Schlagkraft, der politischen Power, die geschmälert wird. | |
Die Veranstalter*innen des Trans* Pride Berlin haben kollektiv auf | |
die Frage geantwortet. „Ganz im Gegenteil zu was Du* Dir* vorstellst, sind | |
die viele Pride Paraden (ganz ohne Sternchen) einfach wunderbar, aus | |
mindestens zwei Gründen“, schrieb nonbinary.berlin, eine aktive | |
Gemeinschaft von nichtbinären Menschen, die es seit 2018 gibt, per E-Mail. | |
„Erstens: Je mehr Pride, desto besser! Mehr Prides heißen mehr Visibility | |
und mehr Gelegenheiten, einander zu treffen und in der Gemeinde zu feiern. | |
Zweitens: Die unterschiedlichen Prides machen es möglich, für jede Person | |
mindestens eine zu finden, wo sie sich wohlfühlt und repräsentiert wird. | |
Also: the more the merrier, und wir freuen uns darauf!“ | |
Ganz anders argumentiert Stephanie Kuhnen, eine gut vernetzte Autorin und | |
Projektmanagerin bei Lesbisch*Sichtbar.Berlin, einem von der | |
Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung | |
geförderten Projekt von Lesben Leben Familie (LesLeFam) e. V. zur | |
Vernetzung der L*-Communities und Lesben* in Berlin. | |
Man müsse sich in Erinnerung rufen, so Kuhnen, wie die CSD-Tradition | |
entstanden ist, „warum nach zahlreichen kurzlebigen Straßenschlachten an | |
anderen Orten im Jahrzehnt davor ausgerechnet Stonewall die Initialzündung | |
für eine weltweite Bewegung wurde: Solidarität. Anwohnende, Angehörige | |
anderer sozialen Bewegungen, Wohnungslose, die Inhaftierten des anliegenden | |
Frauengefängnisses und viele andere wehrten sich zusammen gegen | |
institutionalisierte Homophobie. Man musste nicht gay sein, um | |
Queerfeindlichkeit falsch zu finden“, sagt Kuhnen. „Es war nicht wichtig, | |
wer als Individuum dabei war, sondern dass eine Zivilgesellschaft den | |
Umgang mit einer Minderheit nicht mehr hinnehmbar fand. Stonewall war auch | |
ein Kampf um Zusammenhalt unterschiedlicher marginalisierter Menschen.“ | |
Und genau das könnten auch kleinere CSDs an allen Orten zeigen: | |
solidarische Gemeinschaften. „Dazu braucht es kein zentrales Gedenkereignis | |
mit politischen Forderungen. Die Dezentralisierung zeigt eine politische | |
Bewegung, eine alleinige Konzentration auf Großveranstaltungen in | |
Metropolen bleibt letztlich nur ein Kulturevent.“ | |
Der große CSD als bloßes Kulturevent, hier im Text schon thematisiert, | |
steht seit Jahren in der Kritik. Wie sehen dessen Veranstalter die – wenn | |
man so sagen will: zunehmende Konkurrenz? | |
„Für uns als Verein und Team des historischen CSD Berlin ist es wichtig zu | |
sagen, dass alle CSD-Demonstrationen in Berlin ihre absolute, richtige | |
und wichtige Berechtigung haben“, sagt Monique King, Vorständin des | |
Berliner CSD e. V. „Wir schaffen es als Community und Teile der Community, | |
genau durch diese Schritte einen größeren Bezug zu Inhalt und Belange von | |
marginalisierten Gruppen herzustellen. Daher freut es uns, dass der Marzahn | |
Pride, der Trans Pride, der Dyke March und auch der East Pride so einen | |
richtigen und wichtigen Bestandteil neben unserem historischen CSD | |
ausmachen, und laden diese immer ein, Bestandteil des Berliner CSD e. V. zu | |
sein.“ | |
Was sicher ist: Das alte Sprichwort, wonach weniger mehr ist, hat lange | |
ausgedient. Freuen wir uns auf das Mehr, auch wenn es gerade für | |
Außenstehende mitunter arg unübersichtlich wirkt. An den Regenbogenfahnen | |
kann man uns erkennen. | |
Also feiern wir die Bereicherung. Gehen wir doch gemeinsam auf die Straße. | |
Und demonstrieren für unsere Rechte, kämpfen gegen ein Rollback, das rechte | |
Kräfte auch hierzulande anstreben, und feiern wir errungene Siege – wie | |
jüngst das neue Selbstbestimmungsgesetz. Denn ja: Es darf einfach sein, den | |
Vornamen und das eingetragene Geschlecht zu ändern. | |
Also feiern wir uns selbst. Und tanzen auf Berlins Straßen und überall | |
sonst in Stadt und Land. Und kämpfen dabei für unsere Rechte. Es gibt in | |
diesen Wochen ja wahrlich genug Gelegenheiten dazu. Vielleicht läuft dann | |
ja auch irgendwo „Smalltown Boy“ oder eine andere queere Hymne. Es gibt | |
auch davon mehr als genug (aber das ist eine andere Geschichte). In diesem | |
Sinne: Happy Pride! | |
23 Jul 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=88sARuFu-tc | |
[2] https://csd-berlin.de/ | |
[3] https://www.colognepride.de/de/ | |
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Berliner_Christopher_Street_Day | |
[5] https://csd-berlin.de/csd-berlin-2022-2/motto-2022/ | |
[6] /Pride-Month/!5859220 | |
[7] http://www.quarteera.de/ | |
[8] https://www.stadtfest.berlin/de/index.html | |
[9] https://dykemarchberlin.com/ | |
[10] /Dyke-March-Berlin-am-23-Juli/!5781879 | |
[11] https://csd-berlin.de/pride-month-berlin/programm/ | |
[12] http://www.maneo.de/ | |
[13] /Verfahren-wegen-Diskriminierung/!5781486 | |
[14] /LGBTI-Fest-in-Madrid/!5862599 | |
[15] https://dorfpride.de/ | |
## AUTOREN | |
Andreas Hergeth | |
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