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# taz.de -- Christopher Street Day 2021: Nach dem Zenit?
> Für unseren Autor hat der CSD an gesellschaftlicher Ausstrahlung verloren
> – aus bestimmten Gründen. Ein Erklärungsversuch.
Bild: CSD Wendland 2020
Anders als beim Kampftag der Arbeiterklasse mit dem 1. Mai als zentralem
Feiertag, anders auch als der [1][Internationale Frauentag am 8. März],
machen queere Leute in der CSD-Saison über viele Wochen auf sich
aufmerksam. Eigentlich könnte der 28. Juni der global verabredete Termin
sein, denn an jenem Tag begannen die Kämpfe von schwulen Männern vielerlei
Hautfarben mit lesbischen Frauen, mancherlei Dragqueen und einigen trans
Menschen. Das war rund um die Bar Stonewall Inn in der [2][Christopher
Street] im New Yorker Viertel Greenwich Village, als diese unsere Vorfahren
sich gegen Polizeirazzien und, überhaupt, Nachstellungen übelster Art
wehrten. Militant, wie notiert wurde.
Das war, so will es die Selbstbeschreibung der queeren Historie, der
Auftakt einer sozialkulturellen Bewegung von Menschen, die nicht mehr
„Danke, dass wir wenigstens leben dürfen“ sagen. Und weil nicht nur in New
York, Berlin, Köln, Hamburg, Frankfurt und München gefeiert werden sollte,
sondern auch, wie etwa im Wendland, in kleineren Orten sich queere Menschen
sichtbar machen wollen, ist es eben kein Feiertag – sondern eine ganze
Saison rund um den CSD.
In Berlin gab es auf dem richtigen CSD, also dem mainstreamigen, die ersten
öffentlichen Solidarisierungen mit den verfolgten polnischen
LGBTI*-Geschwistern, wurde die queere Bürgerrechtsorganisation Quarteera
geehrt, ebenfalls aus Solidarität mit den osteuropäischen Geschwistern.
Aber das ist lange her, eine mächtige Performance kriegt die queere Crowd
wohl nicht mehr hin. Und das hat Gründe, die sich erklären lassen.
Der amerikanische Kolumnist Andrew Sullivan einflussreicher in der
LGBTI*-Community, dort drüben ist niemand sonst, schrieb im Mai in seinem
Newsletter [3][The Weekly Dish eine Kritik an der Exklusionspolitik des New
Yorker CSD-Komitees]. Kurz gesagt: Er beklagt den inzwischen wieder
abgemilderten Versuch der Organisator*innen, den Paradenblock der Polizei
zu canceln. Begründung: Die Polizei stehe für Gewalt, Rassismus und anderes
Schlimmes – und dürfe nicht offiziell teilnehmen.
## Allianzen von links bis liberal-konservativ
Das war obskur, so Sullivan, auch deshalb, weil gerade die queeren Teile
der Behörde besonders auf Inklusion achteten, in ihr die Idee der
Diversität besonders gefördert wird und entsprechend auch auf Bildern so
aussieht. Schlussfolgerung des Autors: Die LGBTI*-Bewegung sei wieder (!)
eine typisch linke, das heißt: selbstzerfleischend, dauernd nach Haaren in
der Suppe suchend. Warum wieder?
2015 erklärte der Supreme Court in den [4][USA die Ehe für alle für
verfassungskonform], also die Entbiologisierung der Ehe. Ein monströser
Erfolg, der ermöglicht wurde durch eine Allianz von links bis
liberal-konservativ, bis in die Sphären der Republikaner hinein. CSDs – das
waren einmal Manifestationen nicht der Identität, sondern der politischen
Ansprüche, die gesellschaftlich und vor allem rechtlich zur Wahrheit kommen
sollten. Es gibt in den USA noch viel Aversion und bei manchen auch Hass
auf Nichtheteronormatives, aber diese Haltungen haben moralisch ihre
Mehrheitsfähigkeit verloren.
In Deutschland ist eine ähnliche Entwicklung zu registrieren. Die Ehe für
alle, also der Bruch schlechthin mit deutsch-völkischen Vorstellungen vom
Zusammenleben im Liebesbereich, wurde exakt vor vier Jahren beschlossen –
und in zehntausendfachen Fällen konkret gelebt. Mit der Pointe, das nur
maliziös nebenbei, dass sehr viele der eisigsten
Ehemöglichkeits-Kritiker*innen aus dem queerfeministischen Spektrum
inzwischen verheiratet sind mit ihren Liebsten. Aus rechtlichen Gründen –
warum denn auch sonst.
Die CSDs sind womöglich, was die Fokussierung der Bewegung auf trans und
Queerfragen ([5][Schwules wird ja mehr und mehr als fundamental antiqueer
verstanden]) anbetrifft, deshalb kraftlos geworden, weil es an konkreten
Zielen fehlt: Die Reform des Transsexuellengesetzes soll es sein? Okay,
aber doch nicht so fundamental, wie die aktivistischen Vorschläge im
Bundestag schon scheiterten.
## Kein positives Angebot
Trans Aktivismus, und das ist der Unterschied zu den CSDs mit
Aids-Aufklärung und bürgerrechtlichen Forderungen nach der Ehe für alle,
hat kein Angebot zu machen, außer Opfer zu sein und zu klagen, dass die
Verhältnisse alle noch sehr schlimm sind. Der trans Aktivismus rund um die
CSDs weiß nicht, Menschen positiv für sich einzunehmen, den Mainstream zu
‚verführen‘, mit ‚Liebe‘ zu locken, nicht mit Shitstorms bei Verletzung
von szeneastischen Sprachcodes.
Deshalb ist die Berliner CSD-Kultur so konfus geworden. Weil die Bewegung
eben an Kraft und gesellschaftlicher Ausstrahlung eingebüßt hat. Eine,
sagen wir, 500.000-Menschen-Parade unter dem (mittlerweile auch als
zwiespältig empfundenen) Zeichen des Regenbogens, bei der Gärt*nerinnen
aus Gatow, die Handwerkskammer, die Diversityabteilung der Deutschen Bank,
Dykes und Lederkerle zusammen sind, wäre ein starkes Zeichen.
Menschen also, die nicht queeristischen Zirkeln dauernd leben, sondern ein
für sie normales Leben führen wollen. Ohne politischen Daueranspruch, aber
als Lesben und Schwule und trans und inter Personen sichtbar: echt inklusiv
also, andere aushaltend, auch wenn man sie doof findet, etwa Fetischleute
bei manchen oder queere Familien in den Augen von Hardcorehomos aller
Geschlechter.
Wie das geht, zeigte kürzlich ein [6][CSD in der Provinz, im Wendland].
Einst stockkonservativ, durch die Anti-Akw-Bewegung und viele
Neuankömmlinge aus den Metropolen (die sich nicht als
Kolonialist*innen verstehen, aber durchaus diesen schönen Flecken an
der Elbe aufgefrischt haben, zur inzwischen starken Zufriedenheit vieler
Ureinwohner) eine Art Toskana des Nordens geworden: Dort gab es einen CSD,
der alles Mögliche war und alle inkludierte. In der Provinz – lebt dort
womöglich am kräftigsten der alte Stonewall-Geist: Zeigen wir uns – und
verstecken wir uns nie mehr im „Schrank“?
Provinz-Paraden stehen auch noch in Neubrandenburg (14.8., 13 Uhr,
Marktplatz) und in Landshut (25.9., 15 Uhr, Ringelste-cherwiese) an.
31 Jul 2021
## LINKS
[1] /Schwerpunkt-Feministischer-Kampftag/!t5017565
[2] /Christopher-Street-Day-CSD/!t5034790
[3] https://andrewsullivan.substack.com/p/the-shame-of-nyc-pride
[4] /Kommentar-Ehe-fuer-alle-in-den-USA/!5207353
[5] https://www.perlentaucher.de/essay/warum-das-wort-queer-nicht-dasselbe-besa…
[6] https://www.ejz.de/mediathek/fotogalerien/wendland-csd-2021_300_1148.html
## AUTOREN
Jan Feddersen
## TAGS
Diversity
Schwerpunkt LGBTQIA
Christopher Street Day (CSD)
Schwerpunkt Stadtland
Christopher Street Day (CSD)
Inter*
Diversity
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