# taz.de -- Christopher Street Day 2021: Wie wollen wir leben? | |
> Der CSD im Wahljahr ist unserer Autorin Anlass, über ihr Schwarzes und | |
> queeres Leben nachzudenken – und politische Ansprüche zu formulieren. | |
Bild: Pride war immer politisch und soll es auch bleiben. Hier der Dyke* March … | |
Wie möchten wir als Angehörige der LGBTQ-Community in Zukunft leben? Wie | |
wollen wir überhaupt die Gegenwart überleben? Sollten wir uns mit unseren | |
Nischen und glamourösen Gettos zufriedengeben? Oder dürften wir ernsthaft | |
in Erwägung ziehen, unsere Safe Spaces endlich auf das gesamte | |
Gesellschaftsgebiet und kreuz und queer durch das Cyberuniversum | |
auszuweiten? Und auf wen könnten wir uns verlassen, wenn die Sonntagsreden | |
verhallen? Diese Fragen kommen nicht von ungefähr. Die Drohungen, denen wir | |
zunehmend ausgesetzt sind, dürfen wir nicht verharmlosen. | |
Doch solche Kassandrarufe stoßen nicht überall auf Resonanz. Schon wenn ich | |
damit anhebe, begegnen mir manche mit einem Schmunzeln, einem Seufzen oder | |
sogar Staunen. „Eure Lage ist doch besser geworden“, beteuern einige | |
Heteros, die uns vermeintlich nahestehen. „Man sieht überall die | |
Regenbogenflaggen. Ihr seid angekommen. Ihr sollt es auch mal genießen.“ – | |
„Mensch, geh nicht immer auf die Barrikaden!“, ermahnen andere, Lesben oder | |
Schwule. „Wenn wir das tun, rufen wir die Ewiggestrigen wieder auf den | |
Plan. Und dann machen sie Stimmenfang auf unseren Rücken.“ | |
Als würden die das nicht schon jetzt tun. Hier eine Meldung mit | |
Triggerwarnung: [1][„Ich lehne jede Form von Homopropaganda und | |
Frühsexualisierung ab. Wäre Homosexualität normal, wäre die Menschheit | |
schon längst ausgestorben.“] Die Urheberin dieser Sprüche ist eine | |
Zahnärztin aus Baden-Württemberg. Sie legt bissig nach: „Eine äußerst | |
aggressive und lautstarke Minderheit dieser Personen möchte […] ihre | |
Lebensweise dominierend der Mehrheitsgesellschaft aufzwingen und wird dabei | |
immer penetranter.“ Sie meint uns. Zum Schutz der Kinder werde sie die | |
„Diktatur der Minderheiten“ nicht akzeptieren. Ihr eindeutig auf Pädophilie | |
anspielendes Postulat wurde vor wenigen Tagen auf Facebook veröffentlicht. | |
Das wäre nicht weiter relevant, wenn die Frau nicht wahrscheinlich in den | |
nächsten Bundestag einziehen würde. Sie hat einen sicheren Listenplatz: für | |
dieselbe Partei, deren maroder Schlachtkreuzer über [2][eine Lesbe als | |
Galionsfigur und als Rammsporn] verfügt. | |
Breitseiten gegen das Bunte, Pinkwashing im braunen Sumpf, die interne | |
Schmutzwäsche zum Trocknen raushängen? Nichts Neues beim Affentheater für | |
Deutschland. Aber genau das birgt Gefahren in sich. Man gewöhnt sich an die | |
„prolet-arischen“ Poltergeister im Parlament, wie man sich auch an | |
Pegidist*innen, Querdenker*innen und Reichsbürger*innen gewöhnt | |
hat, wie man sich an Begriffe wie „Schwuchtelbinde“ gewöhnt. Die Diktion | |
und der Duktus der Demagogen waren immer, sind und bleiben | |
menschenverachtend – und trotzdem fällt diese wüste Hetze kaum mehr auf. | |
## Wir haben genug gelitten | |
Das Schicksal von Rudolf Brazda bezeugt, wie die Entmenschlichung bereits | |
mit dem Wort anfängt. Es zeigt auch, was der robuste Wille zum Widerstand | |
erreichen kann. Brazda, der im KZ Buchenwald inhaftiert war, galt als | |
[3][der letzte Häftling, der den Rosa Winkel tragen musste]. Er starb fast | |
hundertjährig, 16 Jahre nach der überfälligen Abschaffung des Paragrafen | |
175. | |
Pride geht nicht ohne Politik, auch und gerade heutzutage. Wir haben | |
Stimmen. Wir müssen sie an der Urne abgeben, wir müssen sie überall | |
erheben. Denn wir können es uns weder leisten, der Empörung überdrüssig zu | |
werden, noch, Angst davor zu haben, als Vertreter*innen der Cancel | |
Culture geoutet zu werden. | |
Es sind die Homo- und Transphoben und die TERFs, die uns abkanzeln wollen. | |
Gegen uns kämpfen sie mit harten Bandagen, sie freilich wollen mit | |
Samthandschuhen angefasst werden, wenn wir Widerstand leisten. Dann | |
inszenieren sie sich als Opfer progressiver, familienfeindlicher | |
Machenschaften. Die Opferrolle sollten wir ihnen gerne überlassen. | |
Wir haben genug gelitten. Es ist Zeit, dass wir erhobenen Hauptes in | |
Erscheinung treten und unsere Ansprüche geltend machen. Das heißt auch, mit | |
den demokratischen Parteien Tacheles reden, wenn ein Kandidat für den | |
CDU-Vorsitz Homosexualität reflexhaft mit Pädophilie in Zusammenhang | |
bringt oder die SPD sich mehrheitlich weigert, das unwürdige | |
Transsexuellengesetz abzuschaffen. Mit allen legitimen Mitteln müssen wir | |
uns Gehör verschaffen. | |
## Der Silberstreif entpuppt sich als graue Wolke | |
Ich bin Jahrgang 1961. Im selben Jahr wurde in Berlin die Mauer gebaut. Ich | |
allerdings erblickte das Licht der Welt im Schatten der Freiheitsstatue. | |
Doch auch in den USA musste ich Mauern durchbrechen, Black und queer, wie | |
ich bin. In meiner Jugend war alles politisch. Aufbruchstimmung lag in der | |
Luft, Tränengas auch. 1969, als Judy Garland über den Regenbogen ging, sah | |
ich live im Farbfernsehen den Aufstand entlang der Christopher Street. | |
Flüchtige Szenen. Noch nicht ahnend, dass eine Schwarze trans* Frau namens | |
Marsha P. Johnson den ersten Stein von Stonewall warf. Gays mussten sich | |
wehren. Pride war immer politisch. | |
1979 in San Francisco, am Anfang meiner Seeoffiziersausbildung, | |
befand ich mich in einem tosenden Menschenmeer. Ein Doppelleben, ein | |
Aufleben. Es war meine erste Pride-Parade. Wonne und Wutreden zugleich. Der | |
Aktivist Harvey Milk war erschossen worden, die Aids/HIV-Krise brandete | |
auf, Fundamentalist*innen dämonisierten uns. Wir mussten uns wehren. | |
Pride war immer politisch. Mitte der 1980er im Jurastudium im Lande der | |
unbegrenzten Freiheit erkannte ich das Ausmaß der strukturellen | |
Diskriminierung gegen Gays, die damals leicht im Knast oder in der Klapse | |
landen konnten. Wir mussten uns wehren. Denn Pride war immer politisch. | |
Jahrzehnte später setzte sich Präsident Obama, zögernd, für LGBTQ-Rechte, | |
[4][die gleichgeschlechtliche Ehe] und den Schutz der | |
Transgendersoldat*innen, ein. Dann kam Trump, und mit ein paar Tweets | |
und Dekreten warf er die mühsam erkämpfte Rechte um ein halbes Jahrhundert | |
zurück. Auch heute, nach seinem Abgang, zielen US-Republikaner*innen | |
feindlich auf die Rechte von Transgenderjugendlichen. In Europa, in Polen | |
und Ungarn etwa, werden ähnliche Feldzüge geführt. Der Regenbogen wird | |
überschattet, der Silberstreif am Horizont entpuppt sich als graue Wolke. | |
Pride muss weiterhin politisch artikuliert werden. Weder die Visionen von | |
[5][Magnus Hirschfeld] noch die Vorstöße von [6][Marsha P. Johnson] dürfen | |
in Vergessenheit geraten. | |
31 Jul 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.queer.de/detail.php?article_id=39494 | |
[2] /Alice-Weidel/!t5403258 | |
[3] /Christopher-Street-Day/!5179794 | |
[4] /Entscheid-des-Obersten-US-Gerichts/!5207308 | |
[5] /150-Geburtstag-von-Magnus-Hirschfeld/!5501995 | |
[6] /Trans-Aktivisten-kritisieren-Netflix-Doku/!5453095 | |
## AUTOREN | |
Michaela Dudley | |
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