# taz.de -- LGBT*-Rechte in Israel: Wie bunt ist die Wüste? | |
> In einer Kleinstadt in der Negev-Wüste hetzt der Bürgermeister gegen | |
> Schwule und Lesben. Die versuchen, den Konflikt nicht eskalieren zu | |
> lassen. | |
Bild: Der CSD in Mitzpe Ramon sorgt landesweit für Schlagzeilen | |
Die Kleinstadt Mitzpe Ramon inmitten der Wüste Negev ist vor allem für ihre | |
nubischen Steinböcke bekannt. Tagsüber flanieren sie sorglos und zahlreich | |
durch die hitzegeplagten Straßen, wie man es sonst nur von Straßenkatzen | |
[1][in Tel Aviv] kennt. Wenn es in Israel überhaupt so etwas wie eine | |
entfernte Peripherie gibt, dann ist es dieser Ort. Das südliche Städtchen | |
mit etwa 5.500 Einwohner*innen ist nicht oft in den Nachrichten. | |
Zuletzt passierte das im Jahr 2003, als die alleinerziehende Mutter Vicki | |
Knafo den 200 Kilometer langen Weg nach Jerusalem zu Fuß gelaufen war, als | |
Protest gegen die drastische Kürzungspolitik des damaligen Finanzministers | |
[2][Benjamin Netanjahu]. Ihr schlossen sich Hunderte Frauen an, die vor der | |
Knesset kampierten und die Regierung kurzzeitig in Bedrängnis brachten. 18 | |
Jahre später, auf den Tag genau, steht Mitzpe Ramon wegen eines | |
Protestmarschs wieder im Zentrum der Öffentlichkeit. Dieses Mal ist es aber | |
eine lokal organisierte Pride-Parade und der Widerstand dagegen, die für | |
Aufruhr sorgen. | |
Am Freitagmittag Anfang Juli versammeln sich rund 400 Menschen auf dem | |
zentralen Platz vor dem einzigen großen Supermarkt, dem Eisladen und der | |
Falafelbude. Die ehemalige Aktivistin Vicki Knafo ist auch dabei. Die | |
meisten Anwesenden sind wie sie lokale Bewohner*innen – vor allem | |
Heteropaare mit Kindern und junge Erwachsene in lässiger Kleidung. | |
An den Absperrungen, die von Dutzenden Polizist*innen bewacht werden, | |
hängen Regenbogen- und Israelflaggen. Religiöse Frauen mit bunter | |
Kopfbedeckung laufen schweigsam daran vorbei. Die wenigen im eingezäunten | |
Areal, die sich für das Ereignis aufgehübscht haben, scheinen aus Beer | |
Sheva oder Tel Aviv angereist zu sein. Trotz lauter Diskomusik kommt keine | |
echte CSD-Atmosphäre auf, wie man sie sonst kennt aus Berlin oder Tel Aviv. | |
Keine*r küsst sich demonstrativ, niemand ist oberkörperfrei und es gibt | |
keine einzige Dragqueen. Auch der Bürgermeister fehlt. Dessen | |
homofeindliche Politik hatte diese Demo überhaupt nötig gemacht. Dennoch | |
schwebt Begeisterung in der heißen Luft. Für die queere Community in Mitzpe | |
Ramon ist heute ein historischer Tag. | |
Dass ausgerechnet in dieser kleinen Ortschaft ein Streit über | |
[3][LGBT*-Rechte] entbrennt, war bis vor Kurzem kaum vorstellbar. Vieles | |
hat sich hier in den letzten Jahren verändert, vor allem demografisch. Das | |
arme und von Einwanderer*innen aus Nordafrika besiedelte Städtchen | |
war lange Zeit ein Geheimtipp für Alternative, die dem israelischen | |
Dauerstress und den teuren Lebenskosten entfliehen wollten. | |
In den vergangenen Jahren hat sich eine Aussteigerstimmung etabliert, | |
begleitet vom Aufstieg des ökologisch vermarkteten Wüstentourismus am Rande | |
des Ramonkraters mit seinen atemberaubenden, durch Erosion geschaffenen | |
Felsenklippen. | |
## Zirkusschule und Kosmologieinstitut verjüngen Straßenbild | |
Naturbegeisterte junge Familien, die gern in Bioläden einkaufen und ihre | |
Kinder auf eine „demokratische Schule“ schicken, machten die Kleinstadt zu | |
ihrem neuen Zuhause. Darunter auch einzelne lesbische und schwule Paare. | |
Eine neugegründete Zirkusschule, eine Jazzschule und eine Bildungsstätte | |
für orientalische Philosophie und Kosmologie verjüngen zudem das | |
Straßenbild mit barfüßigen und langhaarigen Anfang Zwanziger*innen, die | |
ihren Weg im Leben suchen. | |
Doch auch eine andere Fraktion hat die Stadt für sich entdeckt: die | |
Nationalorthodoxen. In Mitzpe Ramon gehören sie fast alle zu den | |
Anhänger*innen des Jerusalemer Rabbiners Zwi Thau, des geistlichen | |
Führers der antifeministischen und homophoben Kleinpartei Noam. Bei der | |
letzten Knessetwahl bekam das rechtsradikale Bündnis, in dem ein | |
Noam-Vertreter kandidierte, mehr als ein Fünftel der abgegebenen Stimmen in | |
der Stadt. Fast so viel wie die Likud-Partei von Netanjahu. | |
Die Ansiedlung von nationalreligiösen Gruppen, sogenannten Garin Torani | |
(„Torakerne“), ist eine langjährige Strategie der Siedlerbewegung, um auch | |
innerhalb der anerkannten Grenzen Israels für die „Stärkung des jüdischen | |
Charakters“ zu sorgen. Großzügig vom Staat subventioniert gründen | |
Siedleraktivisten religiöse Institutionen in armen Nachbarschaften und | |
wollen so ihre politische Macht durch soziale Projekte und Missionierung | |
ausbauen. | |
Israelische Palästinenser*innen beschweren sich oft über ihre | |
aggressive Art: Häufig siedeln sie sich provokativ in ethnisch gemischten | |
Stadtteilen an. In Mitzpe Ramon, wo Beduinen nur außerhalb der Stadt in | |
illegalisierten Dörfern aus Zelten und Blechhütten wohnen, konzentriert | |
sich der religiöse Eifer der Nationalorthodoxen auf den spirituellen | |
Zustand ihrer jüdischen Nachbar*innen, denen sie nach eigener Aussage nur | |
mit brüderlicher Liebe begegnen. | |
Wie diese Liebe real aussieht, bekam eine kleine Gruppe von | |
Aktivist*innen zu spüren, als dieses Jahr Kommunalverwaltungen im | |
ganzen Land Kleinsummen zur Verfügung gestellt wurden, um Veranstaltungen | |
für sexuelle Akzeptanz zu fördern. | |
Ihr Vorschlag, einen Workshop für Pädagog*innen und eine Lesung über | |
queere Literatur in der Stadtbibliothek durchzuführen, wurde wegen der | |
strikten Ablehnung seitens der Orthodoxen in der Gemeindeverwaltung und des | |
Bürgermeisters zurückgewiesen. Erst danach entschied sich die Initiative, | |
eine CSD-Parade mit einem abschließenden Picknick zu organisieren. Auf | |
ihrem Einladungsplakat war symbolträchtig ein Steinbock mit Hörnern in | |
Regenbogenfarben abgebildet. | |
All das wäre wahrscheinlich eine Meldung in den Lokalnachrichten geblieben, | |
hätte der Bürgermeister von Mitzpe Ramon am Montag vor der Parade nicht ein | |
offizielles homophobes Pamphlet veröffentlicht. Der Olivenbauer Roni Marom | |
wurde 2014 zum Bürgermeister gewählt und wird seitdem für seinen | |
hartnäckigen Arbeitsstil gelobt. Auf zwei Seiten faselt der Bürgermeister | |
von der Verschwörung einer globalen LGBT-Schattenarmee, deren geheime | |
Agenda die Zerstörung der Religion, der Nation und der Familie sei. | |
Der Oberst in Reserve, der selbst kein religiöses Leben führt, übernahm | |
damit die Argumente seiner treuesten Unterstützer*innen aus der | |
orthodoxen Community. Er empfahl den Schwulen und Lesben, die er in Mitzpe | |
Ramon kennt und angeblich auch sehr liebt, ihre Position als tolerierte | |
Minderheit zu akzeptieren und keine provokativen Aktionen wie einen CSD in | |
die Stadt zu holen. | |
Ermutigt durch den Brief des Bürgermeisters riefen religiöse | |
Homogegner*innen zu einer Demonstration für Familienwerte auf – einen | |
Tag vor dem CSD. Und auch dafür wurde mit einem Bild von Steinböcken | |
mobilisiert. Dieses Mal stand neben einem Steinbock eine Steingeiß und ein | |
Zicklein, dazu der Text „Vater, Mutter, Kinder – so einfach, so echt“. In | |
der Tat ein konservatives Trugbild, denn die nubischen Steinböcke leben in | |
eigenen Herden völlig getrennt von den Steingeißen, die sie nur einmal im | |
Jahr treffen, um sich mit mehreren von ihnen zu paaren. | |
Ungeachtet dieser zoologischen Unkenntnis kamen am Donnerstagnachmittag 150 | |
Menschen auf den zentralen Platz vor dem Supermarkt. Sie hielten neben | |
Israelflaggen Schilder für „normale Familien“ hoch und zeigten ihre | |
Solidarität mit dem Bürgermeister, der für seine Stellungnahme „medialen | |
Terror“ erdulden musste. In der lokalen Facebookgruppe tobten währenddessen | |
hitzige Wortgefechte – mit gehässigen Kommentaren auch gegen die | |
Nationalreligiösen. Die Stimmung in dem sonst eher gelassenen Städtchen war | |
merklich angespannt. | |
Am folgenden Tag auf demselben schattenlosen Platz scheinen die sechs | |
Redner*innen der Pride-Parade bemüht, den Konflikt nicht zu eskalieren. | |
Alle sind Anwohner*innen von Mitzpe Ramon, und sie alle sind lesbisch, | |
schwul oder bi. So versichert der erste Redner, der 62-jährige Kinderarzt | |
Udi Avital, dass die Veranstaltung unpolitisch sei. Er bittet die | |
Teilnehmer*innen, auch den Gegenprotest der Nationalorthodoxen zu | |
respektieren, bevor er sehr berührt das Lied „So wurde ich von der Natur | |
geschaffen“ singt. | |
In den anderen Wortbeiträgen wird betont, wie wichtig solche | |
Veranstaltungen für suizidgefährdete LGBT*-Jugendliche seien, für die mehr | |
Akzeptanz lebensnotwendig ist. Erwähnt wird aber auch immer wieder, dass | |
das gemeinsame Leben von Säkularen und Orthodoxen, Alteingesessenen und | |
Zuzügler*innen trotz der Meinungsunterschiede weitergehen muss. | |
Abschließend läuft der kurze und von der Polizei genehmigte Marsch nicht | |
durch die Stadt selbst, sondern auf der Landstraße, um die religiösen | |
Anwohner*innen „nicht zu provozieren“. Die Rufe der Demonstrant*innen, | |
die „Gleichberechtigung für alle“ fordern, verhallen so in Richtung des | |
Kraters. | |
Ob diese Gleichberechtigung auch für die Tausenden benachbarten Beduinen | |
gilt, die systematisch in allen Lebensbereichen diskriminiert werden und | |
deren Wohnorte in dieser Gegend vom Staat bis heute nicht anerkannt werden, | |
wurde nicht geklärt – das wäre anscheinend doch zu politisch. | |
Vor der letzten Abbiegung zum Industriegebiet, wo die kinderfreundliche | |
Straßenparty mit Zirkusakten stattfindet, schauen überrascht vier | |
Steinböcke auf den lauten, von Jazzmusiker*innen begleiteten Aufzug | |
und verschwinden schnell über den nahe liegenden Hügel. | |
18 Jul 2021 | |
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## AUTOREN | |
Yossi Bartal | |
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