# taz.de -- Ende der Ära Netanjahu als Premier: Neoliberaler Populist | |
> Kein Fortschritt im Friedensprozess und eine gigantische soziale | |
> Ungleichheit. Dennoch hinterlässt Benjamin Netanjahu ein ambivalentes | |
> Erbe. | |
Bild: Zwölf Jahre ununterbrochen an der Macht, jetzt in der Opposition: Benjam… | |
TEL AVIV taz | Es ist ein Tag, den zumindest die Hälfte des Landes | |
herbeigesehnt hat: Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu hat ausgedient | |
– vorerst zumindest. So lange wie er war noch kein Regierungschef in Israel | |
an der Macht. Im Laufe seiner ununterbrochenen zwölfjährigen Amtszeit hat | |
Netanjahu zahlreiche Spitznamen bekommen: von „König Bibi“ über den | |
„Zauberer“ bis hin zu „Mr. Security“. | |
Von Beginn seiner Karriere an hat der glänzende Rhetoriker, der bereits von | |
1996 bis 1999 Regierungschef war, bevor er das Amt 2009 erneut antrat, | |
gewusst, wie er durch Medienauftritte sein Image bestimmen kann. Doch was | |
für ein Land hinterlässt der heute 71-Jährige tatsächlich? | |
Netanjahu hat sich in den letzten Jahren immer stärker in Richtung eines | |
autoritär herrschenden Populisten entwickelt – und das Land dabei | |
mitgezogen. Seine Herrschaft hat er in Frontstellung zu der von ihm | |
verhassten israelischen Linken aufgebaut und die Medienwelt nach rechts | |
gerückt, etwa indem er in allen Medien rechtsgerichtete | |
Netanjahu-Loyalisten unterbrachte. | |
Unter anderem wegen Absprachen mit dem Herausgeber einer der größten | |
israelischen Tageszeitungen [1][steht er aktuell wegen Korruptionsverdachts | |
vor Gericht]. Es war das erste Mal in der israelischen Geschichte, dass ein | |
amtierender Regierungschef angeklagt wurde. Im Falle einer Verurteilung | |
droht ihm eine mehrjährige Gefängnisstrafe. | |
Nicht nur Hetze gegen die Medien und die kulturelle Elite, sondern auch | |
gegen die Polizei, die Staatsanwaltschaft und das Justizsystem standen bei | |
Netanjahu auf der Tagesordnung und erschöpften sich nicht in Rhetorik. | |
Anfang Mai, als er selbst noch versuchte, eine Regierung zu bilden, bemühte | |
er sich etwa, ein Gesetz durchzubringen, das der Knesset erlauben würde, | |
das Oberste Gericht zu überstimmen. | |
## Neoliberale Politik | |
Für die Rechten gilt Netanjahu als derjenige, der Israel ökonomischen | |
Aufschwung beschert hat. Seine Fans sprechen von dem hohen Lebensstandard | |
in Israel; der IT-Bereich boomt. Durch seine neoliberale Politik der | |
Privatisierung ist jedoch die Schere zwischen arm und reich so groß | |
geworden wie nie zuvor in der Geschichte Israels. | |
Die Folge seiner Politik sind erdrückende Lebenshaltungskosten und | |
unerschwingliche Immobilienpreise für die Mittelschicht. Leiden musste sein | |
Image in der Coronakrise, als sich von den harten und langen Lockdowns in | |
Israel schwer geschädigte Unternehmer*innen zu den | |
Anti-Netanjahu-Protesten auf der Straße gesellten. | |
Doch geschickt nutzte er den [2][Erfolg der schnellen Impfkampagne] für | |
sich und seine Person und konnte kurz vor der [3][Parlamentswahl im März] | |
als „Retter der Nation“ noch einiges an Popularitätsverlust wieder | |
wettmachen. | |
Den Friedensprozess mit den Palästinenser*innen hat Netanjahu derweil | |
zu Grabe getragen. So [4][beschreibt] es zumindest die israelische | |
Tageszeitung Haaretz, die Netanjahu als „Bestatter der Zweistaatenlösung“ | |
bezeichnete. | |
Unwillig hatte er 2013 noch an von den USA initiierten | |
Friedensverhandlungen teilgenommen. Gleichzeitig jedoch setzte er den | |
Siedlungsbau und die Ausweitung der israelischen Kontrolle über das | |
Westjordanland fort. | |
Ab 2019 forderte er dann offen [5][die Annexion von Teilen der besetzten | |
Gebiete]. Die Unterstützung für eine Zweistaatenlösung sank unter den | |
Israelis während seiner Amtszeit stark: um fast 30 Prozentpunkte auf nur | |
noch 44 Prozent. | |
## Normalisierung mit arabischen Staaten | |
Dennoch feierte sich Netanjahu ab 2020 als Friedensbringer, und zwar | |
angesichts der vom damaligen US-Präsidenten Donald Trump ausgehandelten | |
[6][Normalisierungsverträge mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und | |
Bahrain], die er im September 2020 vor dem Weißen Haus unterschrieb. | |
Kritiker*innen in Israel merkten an, dass man Frieden mit Feinden mache | |
und dass ein Hauptanliegen der Golfstaaten sei, an hoch entwickelte Waffen | |
zu kommen. Auch seien die Entwicklungen nicht auf Netanjahus persönliche | |
Leistung zurückzuführen, sondern auf Veränderungen auf der politischen | |
Landkarte, vor allem den für die Golfstaaten bedrohlichen Einfluss Irans in | |
der Region einzudämmen. | |
Die Normalisierungsvereinbarungen mit den VAE und Bahrain, denen | |
Absichtserklärungen auch mit Marokko und Sudan folgten, haben Israel eine | |
verbesserte Sicherheitssituation beschert, derer sich Netanjahu rühmt. | |
Allerdings ist es nicht ausgeschlossen, dass unter dem neuen Duo | |
Biden/Bennett weitere Länder folgen. | |
## Ambivalentes Erbe | |
Netanjahus Image als „Mr. Security“ kann angesichts der [7][Raketen, die in | |
seiner Amtszeit von Gaza aus auf Israel geschossen wurden,] angesichts der | |
sogenannten „Messer-Intifada“ 2015, bei der 47 Israelis getötet wurden, und | |
angesichts der Gewaltausbrüche zwischen jüdischen und palästinensischen | |
Israelis im Mai nur als Mythos bezeichnet werden. | |
Was die palästinensischen Israelis betrifft, hinterlässt Netanjahu ein | |
ambivalentes Erbe. Jahrelang hetzte er gegen sie. Auch drückte er das | |
Nationalstaatsgesetz durch, nach dem Israel die „nationale Heimstätte des | |
jüdischen Volkes“ ist und mit dem Arabisch als offizielle Sprache | |
abgeschafft wurde. Im Vorfeld der Wahl 2015 warnte er, dass die arabischen | |
Israelis in Scharen zu den Wahlurnen eilten. | |
Doch kurz vor Ende seiner Ära vollzog er eine Kehrtwende. Nicht aus | |
ideologischer Überzeugung, sondern aus Bedrängnis und Mangel an | |
Koalitionspartner*innen [8][näherte er sich der | |
islamisch-konservativen Partei Ra'am] an. Damit machte er auch andere | |
arabische Parteien für eine Regierungskoalition hoffähig. | |
Genau dies hat ihn nun zu Fall gebracht: Ra'am hat am Sonntag der neuen | |
Regierungskoalition unter Führung von Jair Lapid und Naftali Bennet die | |
letzten benötigten Stimmen gebracht. Netanjahu jedoch sitzt erstmals seit | |
2009 in der Opposition. Von dort aus wird er wohl – um seine Position | |
innerhalb des Likud zu stärken – auf eine schnelle Vorwahl drängen, zu der | |
es kommen könnte, sollte die neue Regierung zerbrechen. | |
Doch auch innerhalb des Likuds muss Netanjahu um Macht kämpfen. Seine | |
parteiinternen Herausforderer sitzen in den Startlöchern. Einige wie der | |
ehemalige Bürgermeister von Jerusalem, Nir Barkat, lassen verlauten, der | |
Parteichef hätte bereits vor einiger Zeit zurücktreten sollen. | |
14 Jun 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Historischer-Prozessauftakt-in-Israel/!5687615 | |
[2] /Israel-bei-Corona-Impfungen-vorn/!5741145 | |
[3] /Wahl-in-Israel/!5761301 | |
[4] https://www.haaretz.com/israel-news/israeli-palestinian-conflict-solutions/… | |
[5] /Israels-Annexionsplaene/!5693323 | |
[6] /Golfstaaten-und-Israel/!5714540 | |
[7] /Israel-und-Hamas/!5773848 | |
[8] /Israel-vor-schwieriger-Regierungsbildung/!5761544 | |
## AUTOREN | |
Judith Poppe | |
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