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# taz.de -- 9-Euro-Ticket für den Nahverkehr: Neun Ideen für die Verkehrswende
> Nächste Woche startet das 9-Euro-Monatsticket. Doch dabei darf es nicht
> bleiben: Neun Vorschläge für die Zukunft des Verkehrs.
Bild: Zugfahren macht Spaß, vor allem in netter Gesellschaft
Kaum war das [1][9-Euro-Monatsticket] für den Nahverkehr zu haben, wurde es
hunderttausendfach gekauft. Dabei gilt die bundesweite ÖPNV-Flatrate erst
ab kommender Woche. Wenn der Preis stimmt, sind öffentliche Verkehrsmittel
also populär. Aber: Die Furcht ist zu Recht groß, dass Busse und Bahnen dem
Ansturm nicht gewachsen sein werden. In den kommenden Wochen wird es auf
vielen Strecken eng werden. Denn der ÖPNV ist viel zu abgerockt, um dem Run
standzuhalten. Was muss passieren, damit der Nahverkehr in fünf Jahren
super läuft?
1. Leute, Leute, Leute!
Die Verkehrsbranche braucht dringend mehr Leute – da sind sich die
Gewerkschaft Verdi und die Arbeitgeber ausnahmsweise einig. Bereits heute
fehlen 15.000 Beschäftigte, Tendenz steigend. Die Folgen: Fahrten fallen
aus, mitunter müssen Verkehrsbetriebe ganze Linien einstellen. In den
vergangenen zwei Jahrzehnten ist fast jeder fünfte Job im ÖPNV weggefallen.
Das rächt sich.
Heute arbeiten im Fahrdienst rund 96.000 Beschäftigte, hinzu kommen rund
55.000 Mitarbeiter*innen in der Technik und in der Verwaltung.
Zehntausende weitere werden in den nächsten Jahren gebraucht, denn die
politischen Ziele für den ÖPNV sind durchaus ehrgeizig. Bis 2030 soll sich
die Zahl der Fahrgäste verdoppeln, ein Drittel mehr Busse und Bahnen sollen
dann fahren. Doch bis dahin müssen allein 50 Prozent der Beschäftigten
ersetzt werden, weil so viele in Rente gehen. Doch neue Leute zu finden,
ist schwer.
Ein Problem ist das Einkommen. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel – die
Gehälter variieren je nach Region und Berufserfahrung – verdienen
Busfahrer:innen als Einstiegsgehalt nach Angaben von Verdi 2.646 Euro
im Monat, hinzu kommen Zuschläge von im Schnitt 350 Euro. Das ist weniger
als das Durchschnittseinkommen. Der Personalmangel verschärft den Stress,
Mitarbeiter:innen müssen Pausen ausfallen lassen und Doppelschichten
schieben, Busse fallen aus. „Die Arbeitsbedingungen müssen besser werden,
damit der Job attraktiver wird“, sagt Verdi-Mann Volker Nüsse, der für das
Ressort Busse und Bahnen zuständig ist.
2. Clever einkaufen
Schienen, Züge, Haltestellen, Bahnhöfe, Busse, Straßenbahnen – was heute
nicht bestellt wird, fehlt in fünf Jahren. „Wir brauchen mehr Züge und
längere Züge“, sagt Verkehrsforscher Dirk Schneidemesser vom Institut für
transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) Potsdam. Auch mehr Busse und
Bushaltestellen sind nötig. Schon heute sind die Fahrzeuge im Berufsverkehr
überfüllt. Deshalb ziehen es etliche Pendler*innen vor, mit ihrem Auto
im Stau zu stehen. Da können sie wenigstens bequem sitzen.
Die Anschaffung neuer Fahrzeuge ist nicht nur eine Frage des Geldes,
sondern auch einer klugen Planung. „Züge und Busse kann man nicht einfach
kaufen wie ein Auto“, sagt Schneidemesser. Sie müssen lange vorbestellt
werden. Die Industrie braucht das Signal, dass neue Fahrzeuge erwünscht
sind. Nur dann investiert sie in neue Technik. Busse zu bekommen, ist für
Verkehrsunternehmen nicht einfach, wenn der Markt wie jetzt leergefegt ist
– erst recht, wenn es E-Busse sein sollen. Bis 2030 soll in Deutschland
jeder zweite Bus elektrisch fahren.
Auch autonom fahrende Busse, die keine/n Fahrer*in brauchen, könnten den
Nahverkehr einen gewaltigen Schritt voranbringen. Mit ihnen könnten auf
unkomplizierten Strecken dichte Takte angeboten und viele Menschen
transportiert werden. Das wäre günstig und würde den Personalmangel
abfedern. Das autonome Busfahren ist kein Projekt mehr für spätere
Generationen, es kann bald kommen. Bundesweit gibt es Dutzende
Pilotprojekte. Gerade hat der Bundesrat den rechtlichen Rahmen geschaffen,
damit sie in den Regelbetrieb gehen können.
3. Tote Gleise wiederbeleben
Buslinien können schnell und unkompliziert eingerichtet werden. Aber neue
Schienen zu verlegen, dauert Jahrzehnte. Zig Instanzen in Gemeinden,
Kreisen und Verkehrsverbünden wollen mitreden, Genehmigungen ziehen sich
hin. Die Reaktivierung stillgelegter Strecken geht hingegen schneller.
Das Potenzial ist enorm. Der Verband der Verkehrsunternehmen (VDV) und die
Organisation Allianz pro Schiene haben mehr als 230 Strecken identifiziert,
die für eine Wiederinbetriebnahme in Frage kommen. Würden diese mehr als
4.000 Kilometer Gleise wieder regelmäßig befahren, könnten 291 Orte und
mehr als drei Millionen Menschen einen direkten Zugang zur Bahn bekommen,
die heute von Schienennetz abgeschnitten sind.
„Die Reaktivierung stillgelegter Strecken steht für das Comeback der
Schiene in der Fläche“, sagt Dirk Flege, Geschäftsführer der Allianz pro
Schiene. Das Interesse ist vielerorts groß, Kommunalpolitiker:innen
und Wirtschaftsvertreter:innen wollen die Anbindung an die Bahn.
4. Busse nach Bedarf
Auf dem Land gibt es oft kaum Busse oder Bahnhöfe. Dörfer und Städtchen
sind vom öffentlichen Verkehr vielfach abgekoppelt. Fahren Busse, sind sie
oft leer, weil mit einer Fahrt am Tag auch nicht viel gewonnen ist. Taxis
sind teuer. Neue Lösungen sind gefragt: In rund 40 deutschen Städten gibt
es Pilotprojekte mit Rufsammeltaxis. Interessierte buchen über eine App
eine Fahrt, werden von dem Fahrzeug an ihrem Standort abgeholt und ans
gewünschte Ziel gebracht.
Unterwegs steigen weitere Fahrgäste in die Minibusse ein. Der Computer
errechnet die beste Strecke, damit die Fahrt auch effektiv ist. Das kostet
die Fahrgäste in der Regel etwas mehr als ein ÖPNV-Ticket, ist aber
billiger als ein Taxi. Mit solchen Angeboten können Leute auf dem Land
mobil werden – wenn sie denn nicht zu teuer sind.
5. Dem Auto die Vorfahrt nehmen
Autofahrende tun gerne so, als wären sie die Melkkühe der Nation. Das ist
falsch. Das Autofahren wird mit vielen Milliarden Euro vom Staat
subventioniert. Zum Beispiel mit dem Dieselprivileg, der
Pendler*innenpauschale, der Förderung von Dienstwagen, der Kaufprämie für
E-Autos und Hybridwagen oder dem Bau von Straßen und Parkplätzen. Von den
nicht geltend gemachten Kosten für Umwelt- und Gesundheitsschäden gar nicht
zu reden. Müssten Autofahrende die tatsächlichen Kosten tragen, die sie
verursachen, würden viele Haushalte zumindest auf das Zweit- oder
Drittfahrzeug verzichten und so mehr Platz lassen für den ÖPNV.
Busse und Straßenbahnen, die neben Autos im Stau stehen, sind nicht
attraktiv. Deshalb müssen sie Vorfahrt bekommen, etwa auf speziellen
Spuren, mit Ampelvorrangschaltungen oder durch das Sperren von Straßen für
Pkw. Auch das Parken von Autos muss teurer werden, fordert Verkehrsforscher
Schneidemesser. „Die Gebühren für die private Nutzung des öffentlichen
Raums müssen enorm angehoben werden, um die Kosten zu decken.“ Das Geld,
das durch den Abbau der Autosubventionen flüssig wird, kann der Staat in
den Ausbau des Nahverkehrs stecken.
Das Problem: Für Kommunen ist es schwierig, Maßnahmen gegen die
Pkw-Dominanz durchzusetzen, solange das Straßenverkehrsgesetz und die
Straßenverkehrsordnung dem flüssigen Autoverkehr Vorrang einräumen.
Immerhin: SPD, Grüne und FDP haben sich im Koalitionsvertrag vorgenommen,
das Straßenverkehrsgesetz so anzupassen, dass der flüssige Autoverkehr
nicht mehr das entscheidende Kriterium bei städtebaulichen Veränderungen
ist.
6. Niedrige Preise
Nur ein günstiger ÖPNV ist ein attraktiver. Die Preise sind in den
vergangenen zwanzig Jahren im Nahverkehr doppelt so stark gestiegen wie die
Unterhaltskosten für einen Pkw. Wenn das 9-Euro-Ticket im September
ausläuft, werden die meisten Verkehrsunternehmen wohl zu den alten Preisen
zurückkehren.
Müssen mehrere Leute einen Einzelfahrschein lösen, ist Autofahren selbst
bei hohen Parkgebühren fast immer billiger. Eine Fahrt von Mönchengladbach
ins knapp 30 Kilometer entfernte Düsseldorf kostet pro Person 13 Euro – für
zwei Personen hin und zurück also 52 Euro. Selbst wenn das Parkhaus 30 Euro
kostet, ist die Fahrt mit dem Auto viel billiger. Deshalb ist das
9-Euro-Ticket so attraktiv: Damit wird der ÖPNV tatsächlich günstiger als
das Autofahren. Menschen mit geringem Einkommen werden damit überhaupt erst
mobil.
Einzeltickets müssen viel billiger werden, Monatskarten oder Jobtickets
auch. Vorbildlich: In Bielefeld gibt es in einem Pilotprojekt eine
Monatsfahrkarte zum Mietvertrag für 12,50 Euro.
7. Tarifdschungel lichten
Kaum ein Mensch durchschaut das Wirrwarr der Tarife im Nahverkehr. Die
Preise sind je Verkehrsverbund höchst unterschiedlich, der Geltungsbereich
für eine Standardfahrkarte auch. Landesweite Tarife gibt es nur in den
Stadtstaaten Hamburg und Bremen und im Saarland, nur Berlin und Brandenburg
haben einen länderübergreifenden Verkehrsverbund. Der Ticketkauf über
mehrere der rund 50 Verkehrsverbünde hinweg ist kaum machbar.
Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) will das ändern und bis Herbst
einen Maßnahmenkatalog vorlegen. Das klingt gut, ist aber eigentlich nicht
seine Baustelle, denn dafür sind Länder und Kommunen zuständig. Die Gefahr
ist groß, dass es sich nur um ein Manöver handelt, mit dem Wissing davon
ablenkt, dass er das Finanzierungsproblem im ÖPNV verschleppt.
8. Money, Money, Money
Damit die Nahverkehrsbranche sich für die Zukunft aufstellen kann, braucht
sie viel Geld. ÖPNV ist nahezu auf der ganzen Welt ein Zuschussgeschäft.
Auch in Deutschland steckt der Staat jedes Jahr eine zweistellige
Milliardensumme in den Nahverkehr. Aber das reicht nicht.
Verkehrsminister Wissing weigert sich, den Ländern die von ihnen
geforderten 1,5 Milliarden Euro für 2022 zu geben. Bevor er mehr Geld
herausrückt, will er eine Qualitätsanalyse vorgelegt bekommen. Doch jeder
Monat, um den der Ausbau des ÖPNV verschleppt wird, macht die Lage
schwieriger.
Allein um die Kosten für den zusätzlichen Personalbedarf bis 2030 zu
decken, sind jährlich zusätzliche 4 Milliarden Euro erforderlich. Für den
Ausbau der Infrastruktur und die Anschaffung von Fahrzeugen ist mindestens
das Doppelte erforderlich.
9. Verbote wagen
Der bestens ausgebaute ÖPNV nützt nicht viel, wenn nicht gleichzeitig das
Auto zurückgedrängt wird. Auch mit Verboten und Sperrungen für den
Durchgangsverkehr. Denn auch Bequemlichkeit hindert etliche Menschen daran,
auf den öffentlichen Verkehr umzusteigen – selbst wenn die Haltestelle vor
der Tür ist. Wer seinen Pkw abschafft, sollte eine Prämie bekommen und
kostenlos Bus und Bahn fahren dürfen.
Wer ihn behalten will, sollte kräftig dafür zahlen, dass er oder sie
Menschen gefährdet, die Luft verpestet, Ressourcen verschwendet und die
Lebensqualität anderer drastisch beeinträchtigt. Instrumente dafür wären
eine City- und Straßenmaut, konsequente Parkgebühren und eine viel höhere
Kfz-Steuer. Die konkrete Utopie: autofreie Innenstädte – und eine
nachhaltige Mobilität auf langen Strecken mit dem Fernzug.
28 May 2022
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## AUTOREN
Anja Krüger
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