# taz.de -- Einmaliger Feldversuch: Flatrate für den Nahverkehr | |
> Die Länder haben dem 9-Euro-Ticket zugestimmt. In den kommenden drei | |
> Monaten dürfte es nun voll werden in Bussen und Bahnen. | |
Bild: Mit geballter Kraft regional: Züge der S-Bahn Region Stuttgart Hauptbahn… | |
BERLIN taz | Die Bundesländer machten es spannend bis zum Schluss. Der | |
bayerische Verkehrsminister Christian Bernreiter (CSU) und seine | |
Kolleg:innen aus anderen Ländern hatten gedroht, das 9-Euro-Ticket für | |
den Nahverkehr im Bundesrat platzen zu lassen – weil sich | |
Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) bei der gesamten Finanzierung | |
des öffentlichen Nahverkehrs querstelle. Am Freitag stimmten die Länder im | |
Bundesrat trotzdem zu. Nun steht fest, dass die günstige Flatrate am 1. | |
Juni für drei Monate kommt. | |
„Das Angebot ist an hohe Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger geknüpft | |
und bietet dem ÖPNV eine tolle Chance, sich als attraktives Verkehrsmittel | |
zu präsentieren“, sagte die Vorsitzende der Landesverkehrsministerkonferenz | |
Maike Schaefer (Grüne). Der Bund müsse aber die Mittel für den ÖPNV | |
erhöhen, sonst würde das Projekt zu einem Strohfeuer, mahnte sie. | |
Zum ersten Mal haben Interessierte die Möglichkeit, mit einer einzigen | |
Fahrkarte für wenig Geld und ohne nervtötende Suche im Tarifdickicht | |
zwischen Flensburg und Berchtesgaden Busse und Bahnen zu nutzen. Das | |
[1][Ticket] kostet pro Kalendermonat 9 Euro und kann für den Juni, Juli und | |
August gekauft werden. Es ist bundesweit im Nahverkehr gültig, auch in | |
Regionalzügen. Es gilt aber nicht im Fernverkehr, also nicht im IC, ICE, | |
Fernbus oder den Zügen des Deutsche-Bahn-Konkurrenten Flixtrain. Inhaber | |
von Monats- und Jahreskarten haben ebenfalls etwas von dem Angebot, sie | |
bekommen die Differenz zwischen dem 9-Euro-Ticket und dem jeweiligen Preis | |
für ihr Billett erstattet. | |
Wie viele Bürger:innen die Flatrate zum Fahren kaufen werden, ist | |
unklar. „Das ist aufgrund fehlender Erfahrungswerte momentan nicht seriös | |
vorherzusagen“, so Lars Wagner vom Verband Deutscher Verkehrsunternehmen | |
(VDV). Es könnten im Extremfall bis zu 30 Millionen pro Monat werden, wenn | |
man die Abonnent:innen mitrechnet, sagt er. | |
Das 9-Euro-Ticket ist ein einmaliger Feldversuch, der auch international | |
mit Interesse beobachtet wird. Es ist Teil des Entlastungspakets für | |
Bürger:innen, mit dem die Bundesregierung die hohen Energiepreise | |
ausgleichen will. Es soll dazu beitragen, die Fahrgastzahlen hochzutreiben, | |
die noch immer hinter dem Niveau der Zeit vor der Coronakrise zurückbleiben | |
– und Autofahrer:innen zum Umsteigen bewegen. | |
Der Bund will dabei in Erfahrung bringen, aus welchen Gründen | |
Bürger:innen den ÖPNV nutzen und aus welchen nicht. „Wir werden eine | |
umfangreiche Befragung im Anschluss an die drei Monate durchführen und die | |
Daten auch international zur Verfügung stellen“, kündigte Verkehrsminister | |
Wissing diese Woche zum Auftakt des Weltverkehrsforums in Leipzig an. | |
## Viele Gründe, lieber Auto zu fahren | |
Ein Grund dafür, warum Bürger:innen den ÖPNV meiden, ist allerdings auch | |
ohne große Befragung offensichtlich: Es ist zu voll, Busse und Bahnen sind | |
oft unpünktlich, und auf dem Land fahren sie zu selten oder gar nicht. | |
Daran wird auch das 9-Euro-Ticket nichts ändern. | |
„Während sich die Menschen etwa in Hessen und Nordrhein-Westfalen auf das | |
Sonderangebot freuen dürfen, werden viele in Bayern und | |
Mecklenburg-Vorpommern in die Röhre gucken“, sagte Dirk Flege, | |
Geschäftsführer der Allianz pro Schiene, eines Bündnisses aus | |
Gewerkschaften und NGOs. Zahlreiche Landkreise auf dem Land seien praktisch | |
vom ÖPNV abgehängt, insbesondere in Bayern. „Wer im Bayerischen Wald lebt, | |
profitiert kaum vom 9-Euro-Ticket“, erklärte Flege. | |
Ein weiteres Problem: Auf attraktiven Strecken etwa zwischen Berlin und der | |
Ostsee dürfte es sehr voll werden. Und im Berufsverkehr sind Busse und | |
Bahnen schon jetzt überfüllt. Der baden-württembergische | |
Landesverkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) warnt daher davor, dass | |
das Angebot zum „Eigentor“ wird – denn wenn Gelegenheitsfahrende am | |
Bahnsteig stehen gelassen werden, weil die Züge überfüllt sind, dreht sich | |
der gewünschte Werbeeffekt für den ÖPNV um. | |
Große Spielräume, um in den kommenden drei Monaten mehr Fahrzeuge | |
einzusetzen, haben die Verkehrsbetriebe nicht. „Es wird alles fahren, was | |
fahren kann“, sagte VDV-Sprecher Wagner. „Aber wir haben keine großen | |
Betriebsreserven, die nur darauf warten, eingesetzt zu werden, weder bei | |
Fahrzeugen noch beim Personal.“ Die Verkehrsunternehmen sind chronisch | |
unterfinanziert, sie haben keine Puffer. | |
Der Bund hat zwar zugesagt, die Kosten für das 9-Euro-Ticket zu übernehmen | |
– allerdings gilt dies nur für die Einnahmeausfälle in Höhe von 2,5 | |
Milliarden Euro. Die Länder fürchten, auf weiteren Kosten sitzen zu | |
bleiben. Und das ist nicht das einzige Problem der Verkehrsbetriebe: Die | |
ohnehin prekäre finanzielle Lage wird aktuell verschärft durch steigende | |
Kosten für Personal, Energie und Bauprojekte. | |
Die Landesverkehrsminister:innen fordern deshalb vom Bund mehr | |
Geld, für 2022 wollten sie zusätzliche 1,5 Milliarden Euro. In diesem | |
Zusammenhang hatten sie auch damit gedroht, das Projekt Flatrate im | |
Bundesrat scheitern zu lassen – gegen den enschlossenen Widerstand | |
Wissings: „Er bleibt beinhart, obwohl er bis vor Kurzem selbst noch einer | |
von ihnen war und weiß, dass der ÖPNV unterfinanziert ist“, sagte ein | |
Insider, der nicht genannt werden will. Wissing war von 2016 bis 2021 | |
Verkehrsminister von Rheinland-Pfalz. | |
In dieser Zeit habe er mit seinen Kolleg:innen gemeinsam mehr Geld vom | |
Bund für den ÖPNV gefordert – jetzt aber stellt er sich quer. Doch das | |
9-Euro-Ticket kommt. Viele Bürger:innen freuen sich darauf, mancherorts | |
wird es bereits verkauft. „Wir wollen der Bevölkerung das Ticket nicht | |
vorenthalten, deshalb stimmt auch Bayern mit geballter Faust zu“, erklärte | |
CSU-Landesverkehrsminister Bernreiter. Der gesichtswahrende Kompromiss: Dem | |
Bundesratsbeschluss wurde eine Protokollerklärung beigefügt. | |
Darin lässt der Bund die Bereitschaft erkennen, den Ländern künftig mehr | |
Geld zu geben. Eine genaue Zahl wird allerdings nicht genannt, weshalb die | |
Landesverkehrsminister:innen nach wie vor ungehalten sind. Sie | |
wollen nicht lockerlassen und es bei den Haushaltsverhandlungen für 2023 | |
erneut versuchen. „Wir werden wiederkommen“, kündigte der | |
baden-württembergische Verkehrsminister Hermann an. | |
Unklar ist, was nach dem Ende des 9-Euro-Tickets im September geschehen | |
wird. „Meine große Sorge ist: Anschließend erhöhen die Verkehrsverbünde d… | |
Preise oder dünnen den Verkehr aus“, sagte Hermann. Damit würde der | |
gewünschte Werbeeffekt für den ÖPNV ins Gegenteil umschlagen. Die | |
Linkspartei fordert indes ebenfalls, dass der Bund mehr Geld zur Verfügung | |
stellen soll. | |
„Die Ampel will 100 Milliarden für die Aufrüstung der Bundeswehr ausgeben, | |
hat aber keine 1,5 Milliarden Euro für das 9-Euro-Ticket übrig“, | |
kritisierte die Vorsitzende der Linkspartei Janine Wissler. Die Linke will | |
eine Fortführung des Tickets bis mindestens zum Ende des Jahres. „Die | |
Fahrpreise müssen auf dem Weg zu einem Nulltarif dauerhaft drastisch | |
gesenkt und Bus und Bahn massiv ausgebaut werden“, sagte Wissler. | |
Damit der Nahverkehr auch nach Auslaufen des 9-Euro-Tickets attraktiv | |
bleibt, fordert die Deutsche Umwelthilfe (DUH) die Einführung eines | |
365-Euro-Jahrestickets, mit dem die Stadt [2][Wien] gute Erfahrungen | |
gemacht hat. „Bahn, Bus und Straßenbahn müssen dauerhaft bezahlbar werden�… | |
verlangte DUH-Geschäftsführer Jürgen Resch. | |
Nicht alle sind jedoch von dem Feldversuch im Sommer begeistert. Der | |
Bahnkundenverband kritisiert, dass das 9-Euro-Ticket „mit heißer Nadel | |
gestrickt“ und entsprechend schlecht vorbereitet ist. Der Allgemeine | |
Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) ist ebenfalls skeptisch. „Wichtiger wäre, den | |
öffentlichen Verkehr längerfristig günstiger zu machen, die Schnittstellen | |
mit Rad, Fuß und Carsharing zu verbessern und das Angebot im ländlichen | |
Raum deutlich auszubauen“, sagte ADFC-Bundesgeschäftsführerin Ann-Kathrin | |
Schneider. | |
Für die Radmitnahme gelten auch beim 9-Euro-Ticket die Bedingungen des | |
jeweiligen Verkehrsverbunds, für Räder sind zum Teil separate Tickets | |
erforderlich. „Wir appellieren an Fahrgäste, die Fahrräder mitnehmen | |
wollen, im Zweifel wenn die Bahn zu voll ist, darauf zu verzichten“, so | |
VDV-Sprecher Wagner. „Sonst kann es passieren, dass Bahnen aus | |
Sicherheitsgründen nicht weiterfahren können.“ | |
20 May 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.bahn.de/angebot/regio/9-euro-ticket | |
[2] https://www.wienerlinien.at/jahreskarte | |
## AUTOREN | |
Anja Krüger | |
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