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# taz.de -- Erinnerung an den Chaostag auf Sylt: Auf LSD in den Knast
> In sozialen Medien wird wegen des 9-Euro-Tickets zu Chaostagen auf Sylt
> aufgerufen. 1995 sind tatsächlich echte Punks dorthin gefahren. Ich war
> dabei.
Bild: Entspannter Punk am Strand: 1995 auf Sylt gab es das nicht, da ging's nur…
Chaostage auf Sylt? Mit echten Punks, die die Perle der Nordsee in Schutt
und Asche legen? Nicht ohne mindestens bürgerkriegsähnliche Zustände
natürlich? Oder bleibt das alles doch nur eine lustige Idee, ein
sozialmediales Ersatzdings für Sofa-Radikalinskis? Bislang finden die
Ausschreitungen [1][ja bloß virtuell statt, in Twitter-Memes]. Für Ältere
gibt’s eine schwelgerische Facebook-Veranstaltung.
Sowas was gab es im März 1995 noch nicht, nicht mal googeln konnte man. Wer
Chaos stiften wollte, musste noch umständlich und analog um Aufmerksamkeit
buhlen. [2][Per Neunnadeldrucker und Fax an die Genoss*innen und die
Redaktionen] wurde damals der Appell verschickt, mit dem die
„Strandguerilla Hamburg“ zum „Politischen Chaostag“ auf der Nordseeinsel
aufrief. „Sylt für alle, sonst gibt’s Krawalle!!!“, lautete die markige
Drohung, die noch darauf bauen konnte, [3][dass alle an die Chaostage in
Hannover dachten]. Im Jahr zuvor war die alte Tradition dort wiederbelebt
worden, mit spektakulären Straßenschlachten zwischen Punks und der Polizei.
So ganz ernst nahm sich der Aufruf zum Chaostag auf Sylt dabei selbst gar
nicht. [4][Spaß- und Kommunikationsguerilla kam damals in Mode], Revolution
sollte auch Spaß machen, Ironie, Satire, Persiflage, Fälschungen wurden in
der radikalen Linken cool: „Erfrecht sich doch die Sylter Bourgeoisie eines
direkten Angriffs gegen die proletarischen Massen und damit gegen uns
alle!“, heißt es im Flugblatt maximal klassenkämpferisch: „Sperren wollen
sie Sylt für diejenigen, die Urlaub nicht als bloße Konsumierung von
20-Mark-Pizzen und Nobelhotels verstehen. Die Kurtaxe soll künftig
BesucherInnen direkt am Bahnhof abgepresst werden, um somit den
Pfeffersäcken wenigstens teilweise ihren entgangenen Profit zu
gewährleisten. Das ist eine direkte Provokation gegen Nichtreiche!“
Als wir dann am 25. März, pünktlich morgens um halb sechs (!), tatsächlich
mit rund 80 Leuten am Altonaer Bahnhof in Hamburg standen und auch die
Presse wirklich angebissen hatte, war das aber auch für die Angereisten
eine Überraschung. Mehr als einen spaßigen Ausflug, für den sich am Ende
doch niemand interessiert, hatten die meisten – auch ich – gar nicht
erwartet. Autonome standen da, Antifas, viele fast noch Kinder. Und
tatsächlich richtige Nietenkaiser*innen, die munter LSD-Pappen verteilten.
Und dann wurde es echt chaotisch. Die Punks legten ein paar
Karlsquell-Dosen später los, während die Autonomen noch Flugblätter
verteilten und dem Hamburger Abendblatt den politischen Gehalt der Aktion
erklärten. 30.000 Mark Schaden sollen nach Angaben der Bahn auf der Reise
entstanden sein. Das sah vor allem wild aus: ein ganzer Waggon
vollgesprüht, Passagiere fühlten sich belästigt.
Die Polizei war vorbereitet und wartete mit 100 Leuten in Westerland,
deshalb stiegen wir kurzerhand in Keitum aus und zogen durch die Alleen.
Und für ein paar Minuten sah es echt nach Chaostag aus: Ein Punk schmiss
einen großen Stein aus diesen hübschen Bauernmauern, auf einer Motorhaube
stehend, mit beiden Händen in die Frontscheibe des zugehörigen BMW.
Aber auf der Landstraße nach Westerland war schon Schluss: Geknüppel,
Kessel, Innenhof des Westerländer Gefängnisses. Viele der Minderjährigen
waren verletzt, stundenlang regnete es. Alle wurden erkennungsdienstlich
behandelt und bekamen einen Eintrag in die gerade eingerichtete
polizeiliche „Punker-Datei“. Dann mussten wir im Polizeispalier zum
Bahnhof, am Rand schimpfende Menschen, die uns lautstark ins Lager
wünschten. Zurück nach Hamburg ging es dann im zerstörten Waggon, damit wir
uns schämten.
Ein paar Wochen und ernste polizeiliche Ansprachen in Elternhäusern später
aber glätteten sich die Wogen um die Sylter „Billig-Touris“ wieder. Die
kamen weiterhin, kurtaxefrei. Bis die Bahn das Wochenend-Ticket wieder
abschaffte: vor drei Jahren erst.
21 May 2022
## LINKS
[1] https://twitter.com/search?q=sylt
[2] https://www.nadir.org/nadir/archiv/Kultur/Punk/PRESSEdoku_Chaostag_SYLT.html
[3] /Chaos-Tage-in-Hannover/!1547339/
[4] /Nicht-subversiv-aber-lustig/!1531339/
## AUTOREN
Robert Matthies
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