# taz.de -- Die Wahrheit: Sherpas für den Watzmann | |
> Das Neun-Euro-Ticket kommt. Und mit ihm werden die Massen reisen. Zum | |
> Beispiel ins Berchtesgadener Land oder an den Titisee. | |
Bild: Neun-Euro-Touristen auf dem Weg in eines der nun leicht erreichbaren tour… | |
„Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen“, herrscht die freiwillige | |
Fremdenscheuche Martina Schummerthaler ein paar Touristen an, die das | |
Alpenpanorama bewundern möchten. Viel ist ohnehin nicht zu erkennen, denn | |
über 80 Nebelmaschinen laufen auf Hochtouren, um den weltberühmten Watzmann | |
unfotografierbar zu machen. Irritiert, aber tapfer lächelnd treten zwei | |
japanische Damen den Rückzug an, eine amerikanische Familie zeigt sich | |
dagegen begeistert von der barschen Ansprache. | |
„Jawohl, my Fuhrer!“, rufen sie entzückt und grüßen verfassungswidrig. D… | |
vormittags absolvierte Guided Tour im original US-Army-Jeep durch das | |
ehemalige Führersperrgebiet Obersalzberg steckt ihnen noch in den Knochen. | |
Schummerthaler greift zum Besen. „Husch, husch!“, zischt sie und | |
verscheucht die vergnügt quietschenden Besucher aus New Jersey, die sich | |
noch immer im Nazi-Reenactment wähnen. Dabei richten sich die | |
Vergrämungsmaßnahmen der resoluten Bayerin gar nicht gegen die | |
finanzstarken und geimpften Gäste aus Übersee. | |
Mit einer Generalprobe bereitet man sich im Berchtesgadener Land heute auf | |
den Ansturm der ungewaschenen Horden aus den Ballungsgebieten | |
Nordrhein-Westfalens, Berlins und Niedersachsens vor, die das bundesweit | |
gültige Neun-Euro-Ticket ab Juni in deutsche Top-Destinationen wie das | |
pekuniär hochgradig pittoreske Oberbayern spülen wird. | |
„Wenn wir nicht aufpassen, gucken die Nahverkehrsproleten uns die ganze | |
Landschaft zum Nulltarif weg“, erklärt Schummerthaler. Die Lokalpatriotin | |
und -eignerin hat sich freiwillig zum Dienst gemeldet, um | |
billigtouristischen Schaden von der Premiumregion abzuwenden. „Wir haben | |
Jahrzehnte gebuckelt, um endlich ins Hochpreissegment vorzustoßen. Aber | |
wenn jetzt monatelang Zugladungen von Minderzahlern durchlatschen, ist’s | |
hier bald so billig wie in München.“ | |
## Verschweißte Bahnhofstüren | |
Dagegen allerdings sieht sich die Region gut gewappnet: Vor den | |
verschweißten Bahnhofstüren von Berchtesgaden und Bad Reichenhall liegen | |
meterhohe Wälle aus Sandsäcken gestapelt. Nach ukrainischem Vorbild hat man | |
an den Landstraßen sämtliche Verkehrsschilder abgeschraubt, um die | |
ortsfremden Besatzer von Sehenswürdigkeiten wie Königssee und Almbachklamm | |
fernzuhalten. Falls es einem Nahverkehrstruppenverband dennoch gelingen | |
sollte, zu einer touristisch wichtigen Landmarke vorzustoßen, warten dort | |
freiwillige Fremdenscheuchen wie Martina Schummerthaler mit Besen und | |
Desinformationsbroschüren. | |
Am Fuße des vernebelten Watzmanns scheint an alles gedacht: In die | |
Münzferngläser, die bis vor kurzem Zwei-Euro-Stücke schluckten, muss man | |
eine Platin-Kreditkarte schieben. Um jeden Gipfelsturm auf eigene Faust zu | |
verhindern, wurden in den Flachländern Mikronesiens Sherpas ohne Berg- und | |
Fremdsprachenkenntnisse angeheuert, die auf dem Parkplatz ihre Basislager | |
aufgeschlagen haben. | |
Am villengesäumten Starnberger See südwestlich von München setzt man lieber | |
auf handfeste architektonische Sperren gegen die wenig erlesene Kundschaft | |
aus den nördlichen Barbarengebieten. „Wir werden eine Mauer um den See | |
errichten, und NRW wird dafür zahlen“, heißt es aus dem Tutzinger Rathaus. | |
Immerhin hat die exklusive Seegemeinde die Ungestörtheit von prominenten | |
Divinitäten wie dem thailändischen König Rama X. oder Schlagergöttin Helene | |
Fischer zu gewährleisten. Die scheuen Geschöpfe sind auf Schutz und | |
Finanzhilfe der einheimischen Leibeigenen angewiesen, da sie ausschließlich | |
in Luxusimmobilien am schilfigen Ufer des Feuchtbiotops brüten können. | |
Schon eine Wertminderung im Promillebereich könnte zur Steuerflucht aus | |
ihren Habitaten führen. | |
## Stinkende Kloake | |
Noch radikalere Maßnahmen hat man im baden-württembergischen Glottertal | |
ergriffen, das seinen touristischen Ruhm dem ZDF-Schinken | |
„Schwarzwaldklinik“ verdankt. Den malerischen Titisee hat man vorübergehend | |
zur stinkenden Kloake umgemodelt, die Schwarzwaldhöfe komplett mit | |
unansehnlichen Eternitplatten verkleidet. Es sieht dort aus wie in der | |
Eifel. | |
In den Touristenmagneten an der Ostsee wähnt man sich vergleichsweise | |
sicher vor dem Ansturm der ÖPNV-Vandalen. „Vor der Nahverkehrsflut schützt | |
uns der Cordon sanitaire unseres lebensfeindlichen, mecklenburgischen | |
Hinterlandes“, heißt es etwa in einer Pressemitteilung aus dem Ostseebad | |
Kühlungsborn. „Diese natürliche Barriere aus halb verwüsteten Weilern, | |
verfallenen LPG-Gebäuden und agrarischer Monokultur von seelenzersetzender | |
Eintönigkeit ist mit Bummelzügen kaum zu überwinden, außerdem ist das | |
Streckennetz löchrig wie das Wellblechdach einer alten DDR-Datsche. | |
Früher oder später stranden die Neun-Euro-Touristen in einer abgelegenen | |
Bahnhofsruine am Arschow der vorpommerschen Welt, den Rest erledigen dann | |
unsere Ureinwohner. Die Grand Hotels an der Küste sind weiterhin per | |
Hubschrauber zu erreichen, Limousinen können die militärisch gesicherte | |
Transitstrecke von Berlin aus nutzen.“ | |
Zwar kennt auch Schleswig-Holstein, das dem touristischen Kronjuwel Sylt | |
als Pufferzone vorgelagert ist, unwirtliche Todeszonen wie die | |
Backsteinhölle Neumünster oder das Armenhaus Itzehoe, doch auf die | |
abschreckende Wirkung dieser norddeutschen Prekariats-Leuchttürme will man | |
sich auf der Champagner-Insel nicht verlassen. Dort mehren sich die | |
Stimmen, die eine sofortige Sprengung des Hindenburgdamms fordern, um die | |
lästige Eisenbahnverbindung zum Festland endgültig zu kappen. | |
In einer viel beachteten Koks-Schweiß-und-Tränen-Runde in der Strandhütte | |
„Sansibar“ schwor Sylts Promi-Bande unlängst feierlich auf eine Wagenladung | |
Hausmarke, lieber sämtliche Küstenbefestigungen schleifen zu lassen, damit | |
sich der blanke Hans die Insel holt, als ihre Zweit- oder Drittheimat dem | |
Pöbel zu überlassen. Eher ablehnend wird dieser Nero-Befehl allerdings | |
unter gebürtigen Syltern aufgenommen. Aber die Einheimischen sind von der | |
Tourismuswalze längst erfolgreich ins festländische Nordfriesland verdrängt | |
worden. | |
17 May 2022 | |
## AUTOREN | |
Christian Bartel | |
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