| # taz.de -- Die Wahrheit: Im dunklen Reich des Kofferkings | |
| > Das Abfertigungs-Chaos an deutschen Flughäfen nimmt mittlerweile | |
| > apokalyptische Züge an. Ein Blick in die Untiefen des Luftverkehrs. | |
| Die Gluthitze unter dem Blechdach des Düsseldorfer Flughafens ist kaum zu | |
| ertragen. Derart viele Urlauber drängen sich im Abflugterminal, dass die | |
| Air Condition auch auf höchster Stufe kaum für Abkühlung sorgen kann. | |
| Stattdessen wirbelt ein heißer Luftstrom immer wieder Hüte, Handgepäck und | |
| Kleinkinder durch die Luft. Ein Junge lässt seinen kleinen Hund an der | |
| Leine steigen, an den Dachträgern wird eine verängstigte Rentnergruppe für | |
| den platzsparenden Transport nach Fuerteventura vom Reiseveranstalter | |
| vorgedörrt. | |
| Blechern warnen Arbeitnehmer- wie Arbeitgebervertreter in seltener | |
| Eintracht durch die Lautsprecher über den Eingangstüren: „Lasset, die ihr | |
| eintretet, alle Hoffnung fahren!“ Und doch strömen immer mehr | |
| Erholungssuchende durch die Pforten der Luftfahrthölle, obwohl sich an | |
| Schaltern und Gepäckbändern niemand ihrer annehmen wird. Zum Ferienbeginn | |
| im bevölkerungsreichen Nordrhein-Westfalen zeitigt die Personalknappheit in | |
| den Serviceberufen gerade an den Flughäfen dramatische Folgen. Zahlreiche | |
| Stellen sind in der pandemiebedingten Tourismusflaute abgebaut worden, dazu | |
| häufen sich aktuell die Corona-Krankmeldungen. | |
| Die wenigen verbliebenen Mitarbeiter wurden von den Menschenmassen einfach | |
| fortgespült. Andere haben sich mit Vorräten aus dem Duty Free Shop auf den | |
| vor Dreck starrenden Toiletten verschanzt. Sie wollen dort aushalten, bis | |
| die Kavallerie der ausländischen Fachkräfte eintrifft, die das Chaos auf | |
| deutschen Flughafen auflösen helfen soll. | |
| Eine Vorhut dieser weißen Ritter ist schon eingetroffen. Wir treffen sie an | |
| der Sicherheitskontrolle, zu der wir uns den Weg durch eine Art Fort bahnen | |
| müssen, das eine Reisegruppe aus Moers aus herrenlosen Gepäckstücken | |
| aufgetürmt hat. Der Kegelverein, der seit einer Woche auf einen Flug nach | |
| Ibiza wartet, ist fest entschlossen, sein Terrain zu verteidigen, bis die | |
| Reisewege wieder frei sind. Gegen ein kaum bekautes Kaugummi und ein | |
| pappiges Himbeerbonbon dürfen wir ihr Hoheitsgebiet passieren, das an das | |
| Emirat einer türkischen Großfamilie grenzt. Obwohl die Versorgungslage | |
| zusehends desolat wird, wollen die linken Niederrheiner ihre Urlaubspläne | |
| keineswegs aufgeben. „Egal wohin“ rufen sie uns energisch nach. „Etwas | |
| besseres als Moers finden wir überall.“ | |
| ## Mit elektrischen Viehstäben werden Fluggäste angetrieben | |
| Nachdem wir den Inhalt unserer Boarding Cards einem indischen | |
| Callcenter-Mitarbeiter in Bangalore komplett vorgelesen haben, werden wir | |
| mit hundert weiteren Auserwählten von Männern in weißen Overalls zum | |
| Security-Check-in getrieben. Die Entsatzkräfte haben ihr Handwerk auf | |
| EU-Schlachthöfen gelernt und machen uns mit elektrischen Viehstäben | |
| Hammelbeine. | |
| Am Körperscanner, der von einem melancholischen rumänischen Röntgenarzt | |
| betrieben wird, erfahren wir, dass wir Flecken auf der Lunge und einen | |
| Hirntumor haben, dürfen aber passieren. Unser Gepäck wird derweil von einer | |
| Rotte Paviane gefleddert, die der Düsseldorfer Zoo zur Verfügung gestellt | |
| hat. Weil die Viecher wegen der Hitze wirklich sehr durstig sind, | |
| konfiszieren sie in Windeseile sämtliche Flüssigkeiten, aber auch alle | |
| Dinge, die glitzern oder ahnungsweise essbar sind und defäkieren in die | |
| Koffer. | |
| Bis jetzt haben die neuen Kollegen ihre Jobs genauso professionell und | |
| schnell erledigt wie die Stammbelegschaft, doch jetzt stockt der | |
| Abfertigungsvorgang. Eine Horde Kuttenträger traktiert uns mit intimen | |
| Fragen und glühenden Zangen. Eigentlich sollen die Aushilfen, die eine | |
| Zeitarbeitsfirma aus einem Klausenkloster in den vatikanischen Kasematten | |
| losgeeist hat, bloß unsere Pässe kontrollieren, doch die gelernten | |
| Inquisitoren überprüfen aus alter Gewohnheit, ob sich Häretiker, Hexen oder | |
| Ungläubige eingeschlichen haben. Wir werden zum Feuertod auf dem | |
| Scheiterhaufen verurteilt, dürfen jedoch zum Abflug gehen, nachdem wir hoch | |
| und heilig versprechen, nie wieder Unzucht mit dem Teufel zu treiben. | |
| Eine Familie aus Herne, die Anfang Juni mit ihrem Neun-Euro-Ticket gen | |
| Düsseldorf aufgebrochen war, muss sich von einigen Angehörigen trennen. | |
| „Klar ist das schade, dass wir jetzt ohne die Kinder nach Spanien fliegen | |
| müssen“, gibt Vater Walter Noack zu, die Diagnose der Theologen kann er | |
| dennoch nachvollziehen. „Dämonen! Wat willste machen?“ | |
| Immerhin trägt die strenge Auslese der Mönche dazu bei, dass sich die | |
| Reihen der Urlauber deutlich lichten, sodass wir auf einen Sitzplatz im | |
| Flieger hoffen dürfen – immerhin fällt auch ein Drittel der Flüge wegen | |
| Personalmangel aus. Wir lassen den Sicherheitsbereich mit seinen | |
| schwelenden Scheiterhaufen hinter uns und betreten endlich die Abflughalle, | |
| die von einem gigantischen Haufen aus Rollkoffern, Taschen und Rucksäcken | |
| eingenommen wird, der fast bis zur Decke aufgeschichtet liegt. Darauf | |
| thront, auf einem mit Seidenkissen ausgelegten Trolley, ein schmächtiges | |
| Männchen in einem taubenblauen Overall. Der einzige noch diensthabende | |
| Gepäckabfertiger des Düsseldorfer Flughafens hat dort sein Schreckensregime | |
| errichtet. | |
| ## Ohne Rückflug und Upgrade werden Fluggäste verbannt | |
| Bis vor wenigen Wochen schuftete Klaus-Dieter Hoffmann noch als subalterner | |
| „Logistics Officer“ im Halbdunkel eines Frachthangars, doch jetzt winkt er | |
| uns mit majestätischer Geste heran. „Herkommen!“, ruft der Herr der Koffer. | |
| Nachdem wir uns zur Proskynese vor ihm auf den Boden geworfen haben, | |
| sollen wir vom Herrscher der Lüfte wie der Leibwäsche ein Gate und einen | |
| Koffer zugeteilt bekommen. Doch zunächst wird ein Ehepaar aus Münster ohne | |
| Rückflug und Upgrade in die Mongolei verbannt – es hatte mit | |
| Vielfliegerkarten gewedelt und nach einem Customer Complaint Manager | |
| verlangt. Wir dagegen bekommen umstandslos ein fremdes Täschchen | |
| ausgehändigt und dürfen mit dem Handgepäck einer zierlichen italienischen | |
| Hairstylistin auf die Lofoten fliegen. Eine tolle Überraschung! | |
| Am nächsten Tag drängen wir uns zu dritt in ein Gucci-Jäckchen der Größe | |
| XS, während arktische Winde über die Hauptinsel Austvågøya fegen, und | |
| versuchen, per Videochat Kontakt zur Restfamilie Noack aus Herne | |
| aufzunehmen. Wir erwischen Hanne und Walter bei bester Laune im | |
| kolumbianischen Bogotá, das der Kofferking als Reiseziel für sie ausgewählt | |
| hatte. | |
| Augenscheinlich haben sie sich gut vom Verlust ihrer Kinder Melanie und | |
| Leon erholt. Dabei mag wohl der Beutel mit Diamanten geholfen haben, den | |
| sie im Futter der ihnen zugeteilten Reisetasche gefunden haben. Ein | |
| charmanter wie durchsetzungsfähiger Einheimischer habe die Klunker gleich | |
| am Flughafen gegen einen großen Packen Kokain eingetauscht, erzählen die | |
| beiden aufgekratzten Herner mit vor Begeisterung geweiteten Pupillen. | |
| 2 Jul 2022 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Bartel | |
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