# taz.de -- Nationalpark Berchtesgaden: Aasökologie und Enkeltauglichkeit | |
> Er ist nicht nur ein Reservoir der Biodiversität. Er will den | |
> Nachhaltigkeitsgedanken auch in die Region ausstrahlen und sanften | |
> Tourismus fördern. | |
Bild: Blick auf den Nationalpark Berchtesgardener Land | |
Zwei Meter neunzig Spannweite gegenüber zu stehen ist ganz schön | |
beeindruckend. Auch wenn es sich nur um eine Abbildung in Lebensgröße | |
handelt – nicht um einen der Vögel selbst. Es ist der Bartgeier, dem man | |
hier im Berchtesgadener Land einen eigenen Themenpfad gewidmet hat. | |
Wanderer erreichen den beispielsweise auf der Rundwanderung vom | |
Klausbachhaus beim Bergsteigerdorf Ramsau aus über den Böslsteig zur | |
Halsalm. Durch die bereitgestellten Fernrohre ist rund 800 Meter weiter die | |
Felsnische am Knittelhorn zu sehen, in der sich seit Juni die jungen | |
Bartgeierweibchen Dagmar und Recka an das Leben in der Wildnis gewöhnen | |
sollen. | |
Das Projekt, das im vergangenen Jahr mit der Freilassung ihrer | |
Vorgängerinnen Wally und Bavaria begonnen hat, ist eine der populärsten | |
Aktionen der im Nationalpark Berchtesgaden arbeitenden Forscher:innen. Von | |
überall auf der Welt werden die [1][Webcams] angeklickt, die Livebilder von | |
den Tieren zeigen, aber viele Interessierte machen sich auch selbst hierher | |
auf. Teilnehmer:innen an Nationalparksführungen hätten erzählt, sie | |
seien nur wegen der Geierweibchen gekommen, sagt Ulrich Brendel. Er ist | |
stellvertretender Leiter des Nationalparks und weiß, wie wichtig solche | |
Projekte für den Artenschutz sind – aber auch für die öffentliche | |
Wahrnehmung des Nationalparks und damit für dessen Botschaften. | |
Deshalb werden die Auswilderungen der großen Greifvögel weitergehen, bis es | |
eine stabile Population gibt. Trivial ist das nicht: [2][Wally hat ihren | |
ersten Winter draußen nicht überlebt]. Ende Mai fand ein Kletterteam in | |
einer unzugänglichen Felsrinne im Zugspitzmassiv auf 1.500 Metern Höhe | |
Knochen, Federn, Ring und ihren GPS-Sender. Steinschlag, vermuten die | |
Wissenschaftler:innen, die neben dem Geierprojekt auch andere Pläne | |
haben: Sie wollen die Ökologie von Aas erforschen. | |
Obzwar die Wirkung von Totholz auf verschiedene Ökotope gut erforscht ist, | |
weiß man wenig darüber, was tote Tiere ausmachen – also etwa, ob mehr | |
verwesende Körper mehr Arten anlocken. „Bisher haben wir Kadaver oft | |
eingesteint“, sagt Brendel. „Künftig werden wir sie liegen lassen.“ Wäh… | |
der Projektphase werde man womöglich auch tierische Verkehrsopfer in den | |
Park legen und beobachten, wie sie das Ökosystem beeinflussen. | |
Brendel ist Diplombiologe und forscht vor allem zu Adlern. Klar, dass sein | |
Hauptinteresse der Wissenschaft gilt. „Aber ein Nationalpark hat natürlich | |
neben der Forschung und dem Naturschutz selbst noch andere Aufgaben“, sagt | |
er. Zum Beispiel in der Umweltbildung – dazu gehören Fachexkursionen für | |
Expert:innen, aber auch Wanderungen und Veranstaltungen für | |
Einzelbesucher:innen und Kinder- und Jugendprogramme. | |
Und nicht zuletzt hat der Nationalpark eine Partnerinitiative gestartet, | |
die als regionales Netzwerk mit Betrieben, Organisationen und Verbänden | |
nachhaltiges Handeln vor Ort bündeln und weiterentwickeln will. „Wir | |
strahlen auch auf die Region aus“, sagt Brendel. Deshalb arbeitet die | |
Nationalparksverwaltung seit 2019 mit dem europäischen | |
Umweltmanagementsystem [3][EMAS] und lässt sich regelmäßig von einem Prüfer | |
attestieren, welche Fortschritte sie gemacht hat. „Das hat an manchen | |
Stellen auch wehgetan“, erinnert sich Brendel. Schließlich gehe es nicht | |
nur um den Papier-, Wasser- und Energieverbrauch in den Büros, sondern | |
beispielsweise auch um die Elekrifizierung der Fahrzeuge – Motorboote, | |
Allradautos, die als E-Version in den Bergen nur begrenzt einsetzbar sind. | |
So wurden für die Forscher:innen auch E-Bikes angeschafft. „Die | |
Bevölkerung versteht das nicht immer“, meint Brendel. „Aber wir müssen und | |
wollen als Nationalpark erkennbar sein.“ | |
Eine vergleichbar deutliche Fokussierung auf Nachhaltigkeit kann die Region | |
auch nach Meinung des Zweckverbands Bergerlebnis Berchtesgaden gut | |
gebrauchen. Denn ähnlich wie Reiseziele an der Nord- und Ostsee ist sie | |
zumindest in der Hauptsaison längst ein Beispiel des sogenannten | |
Overtourismus. Als die Pandemiemaßnahmen Reisen ins Ausland praktisch | |
unmöglich machten, eroberten – zusätzlich zum gut ausgebauten | |
Übernachtungsgeschäft – auch Scharen von Tagesausflüglern die | |
instagramtaugliche Naturkulisse um Königssee und Watzmann. Die | |
Wanderparkplätze waren morgens um 8 Uhr voll, Blechlawinen stauten sich | |
entlang der Zugangsstraßen, auch innerorts war teils kein Fortkommen – | |
zumal auch die Deutsche Bahn hochwasserbedingte Baustellen zu stemmen hatte | |
und die Anreise monatelang nur über Schienenersatzverkehr, sprich Busse, | |
möglich war. | |
Der automobile Reiseverkehr ist nicht nur eine erhebliche Belastung für die | |
ohnehin unter den Folgen des Klimawandels ächzende alpine Natur. Auch bei | |
der einheimischen Bevölkerung löst er nur sehr begrenzt Begeisterung aus. | |
Knapp 24.500 Einwohner:innen zählt das Berchtesgadener Land, zu dem | |
neben dem Markt Berchtesgaden auch Bischofswiesen, Marktschellenberg, das | |
Bergsteigerdorf Ramsau und Schönau am Königssee gehören, und auch gut 2.000 | |
touristische Betriebe. „Die Struktur ist sehr kleinteilig, es gibt wenig | |
große Häuser, aber viele private im Nebenerwerb“, sagt Teresa Hallinger, | |
Abteilungsleiterin Destinationsmanagement beim Zweckverband. Gerade bei | |
Letzteren sei es schwierig, sie bei Generationswechseln im Tourismus zu | |
halten. | |
Beim Zweckverband wünscht man sich deshalb „Leuchtturmprojekte“, die das | |
widerspiegeln, wie sich Berchtesgaden gern sehen möchte: In den Broschüren | |
heißt das: „Eigenart, Berge, Kraft“. Gemeint ist ein wirtschaftlicher, | |
ökologischer und sozialer Tourismus, der auch die Einheimischen mitnimmt. | |
Ein bisschen Druck macht man sich zusätzlich durch die Mitgliedschaft bei | |
den Alpine Pearls, einem Zusammenschluss von 18 Gemeinden aus dem | |
österreichischen, deutschen, italienischen und slowenischen Alpenraum, die | |
sich einer „sanften Mobilität“ verschrieben haben und den nachhaltigen | |
Tourismus weiterentwickeln wollen. Der hat sich gerade als „Europäischer | |
Verbund für territoriale Kooperation EVTZ Alpine Pearls“ eine neue Struktur | |
geschaffen, mit der die Mitglieder nun auch auf Fördermittel aus dem | |
EU-Strukturfonds hoffen können. | |
Wie bei den meisten Gemeinden, die dem Verbund angehören, zieht es auch im | |
Berchtesgadener Land die Jugend weg. Das Angebot in den Städten zu | |
imitieren, ist für den Zweckverband aber keine Option, sein Ziel ist es | |
vielmehr, die Besonderheiten der Region – eben die „Eigenart“ – auszuba… | |
und hervorzuheben. | |
Wie das aussehen kann, zeigen etwa das Berghotel Rehlegg und der erst Ende | |
2021 eröffnete Kulturhof Stanggass, die zu den Partnern des Nationalparks | |
gehören. „Unsere Partner sollen auch Botschafter des Nationalparkgedankens | |
sein“, sagt Brendel. Und dabei geht es nicht nur darum, dass sie | |
Infomaterial wie das Nationalparkprogramm oder die Broschüre zum Geierpfad | |
anbieten: „Es geht auch um den Aufbau und Erhalt eines guten | |
Nachhaltigkeitsnetzwerks mit ganz individuellen Ansätzen, die wie bei der | |
Artenvielfalt ein stabiles, aber sich immer wieder wandelndes System | |
tragen.“ | |
„Das Rehlegg“ spreche vor allem eine Klientel von Wanderfreudigen und | |
Vogelfreund:innen an, die nicht auf den Cent schauen müssen. „Wir | |
verkaufen Luxus, aber einfachen Luxus, wie auf der Terrasse vor der | |
Bergkulisse zu frühstücken“, sagt Franz Lichtmannegger, der das Hotel | |
gemeinsam mit seinem Bruder Hannes führt und seit 2008 Schritt für Schritt | |
zu dem Ökohaus gemacht hat, das es heute ist. „Wir sind noch lange nicht | |
da, wo wir hin wollen“, sagt er. Aber es gibt ein Blockheizkraftwerk, | |
Photovoltaik – und als neue Betten gebraucht wurden, kamen die „nicht mehr | |
aus Schweden, sondern von einer uralten regionalen Manufaktur“. Eine | |
Herausforderung sei es gewesen, komplett „ungequältes Fleisch“ anbieten zu | |
können. In den Bädern steht Naturkosmetik, geputzt wird mit effektiven | |
Mikroorganismen statt Chemie. | |
Der Kulturhof ist mit 24 Zimmern und zehn sogenannten Stadeln nicht einmal | |
halb so groß wie das Hotel, aber genauso „enkeltauglich“ angelegt, wie | |
Betreiber Bartl Wimmer sagt, der nicht zufällig seit 2020 auch dem | |
Zweckverband vorsitzt. Der Begriff taucht bei Gesprächen mit | |
Berchtesgadener Tourismus- und Wirtschaftsakteur:innen immer wieder | |
auf. Er stammt aus der Ökobewegung der 1980er Jahre, erlebt aber im | |
aktuellen Klimaaktivismus ein Revival – und ist einfach eine plastischere | |
und emotionaler aufgeladene Variante von „nachhaltig“. Die 700 Kubikmeter | |
Bauholz – vor allem Lärche, aber auch Fichte und Tanne sowie Esche für die | |
Böden – stammen größtenteils aus der Region, für die unterirdischen | |
Bauelemente wurde hauptsächlich Schutt des Vorgängerhotels geschreddert und | |
wiederverwendet, das Dämmmaterial ist recyceltes Altpapier. Auch drei | |
Viertel der beteiligten Firmen sind im näheren Umkreis beheimatet. Ebenso | |
nachhaltig ist der Betrieb: Geheizt wird mit Hackschnitzeln, sonstige | |
Energie kommt aus Solarkollektoren. Vor allem greift das Konzept den | |
Vernetzungsgedanken des Nationalparkmanagements auf: Es gibt Seminarräume | |
für Bildungsarbeit, Werkstätten und Yogaräume, vor allem aber auf dem | |
ganzen Gelände immer wieder Treffpunkte – nicht nur für Übernachtungsgäst… | |
sondern auch für die Berchtesgadener:innen. Deren enge Einbindung ist | |
dem Grünen-Politiker Konzept: Sein allerneuestes Projekt, die Neubichler | |
Alm, schnappte er im Frühjahr einem Münchner Investor vor der Nase weg, | |
weil er wollte, „dass Einheimische dort auch künftig Platz haben“. | |
Während die beiden Betreiber daran feilen, ihre Angebote ökologisch wie | |
sozial weiter zu verbessern, hadern sie noch mit dem Außenanschluss, | |
sprich: der Mobilität. „Es wäre schön, einen ÖPNV zu haben, den ich auch | |
nutzen kann“, sagt Lichtmannegger. Im Berchtesgadener Land fehle aber eine | |
Ringverbindung. Seinen Gästen stelle er einen E-Smart zur Verfügung. Aber | |
an den verstopften Straßen ändere die E-Mobilität natürlich nichts. Wimmers | |
Vision ist ein e-mobiler ÖPNV mit autonom fahrenden Bussen. Lichtmannegger | |
wünscht sich individuelle Fahrzeuge, „wo ich mir ein Auto rufe, bei dem ich | |
am Ziel einfach aussteige“. | |
Wäre die Peripherie besser angebunden, hätte das womöglich noch einen | |
weiteren positiven Effekt: Parkplätze, die für Tourist:innen | |
ausgezeichnet wären, könnten entsprechend teuer gemacht werden. Und das, so | |
die Idee, könnte auch diese dazu bewegen, vom eigenen Verbrennerauto | |
wegzukommen. „Das Narrativ muss sein: Ich brauche gar kein Auto, und die es | |
brauchen, sind arme Säue“, sagt Lichtmannegger. | |
Das bedeutet zwar auch weniger überfahrene Bergeidechsen, Blindmäuse, | |
Rotfüchse oder Dachse auf den Straßen – und damit weniger leichte Beute für | |
den Aasfresser Bartgeier. Brendel: „Aber das wird nicht der entscheidende | |
Punkt sein, der seiner Wiederansiedlung entgegensteht.“ | |
21 Aug 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.nationalpark-berchtesgaden.bayern.de/forschung/monitoring/bartg… | |
[2] /Biologe-ueber-Bartgeier-in-Bayern/!5854996 | |
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## AUTOREN | |
Beate Willms | |
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