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# taz.de -- Nahverkehrsmanager über 9-Euro-Ticket: „Knalleffekt für drei Mo…
> Nahverkehrsmanager Ingo Wortmann zweifelt, ob das 9-Euro-Ticket wirklich
> nachhaltig ist. Er hätte das Geld lieber in den Ausbau des ÖPNV gesteckt.
Bild: Schon vor dem 9-Euro-Ticket oft überfüllt: Stadtbahn in Stuttgart
taz: Herr Wortmann, am Mittwoch startet das [1][9-Euro-Ticket], mit dem
Interessierte im Juni, Juli und August den Nahverkehr in ganz Deutschland
nutzen können. Sie als Nahverkehrsmanager: Freuen Sie sich darauf oder
fürchten Sie sich davor?
Ingo Wortmann: Ich fürchte die nächsten drei Monate sicherlich nicht. Ich
freue mich darauf, was wir für Erfahrungen machen werden, wie sich die
Verkaufszahlen und wie sich vor allem die Nutzung entwickeln. Aber klar ist
auch: Es wird auf der einen oder anderen Verbindung stark überfüllte Züge,
Busse, U-Bahnen oder Trambahnen geben, insbesondere auf den
Freizeitstrecken. Wir werden zwar auch unsere Reserven einsetzen, aber die
sind nicht üppig genug, um die gesamte zusätzliche Nachfrage überall
aufzufangen.
Wie bereiten sich die Verkehrsbetriebe auf den zu erwartenden Ansturm vor?
Zuerst einmal mussten wir alles dafür vorbereiten, dass wir dieses Ticket
überhaupt verkaufen können. Wir haben innerhalb kürzester Zeit die
digitalen Vertriebswege umprogrammiert oder die Automaten neu eingerichtet.
Jetzt schauen wir, wie viele Fahrzeuge wir zusätzlich einsetzen können. Die
Verkehrsunternehmen haben natürlich eine Betriebsreserve. Aber die Lage ist
vor Ort sehr unterschiedlich.
In München zum Beispiel ist diese Betriebsreserve bis Mitte Juni völlig
ausgelastet, weil wir mit Bussen einen sehr aufwendigen
Schienenersatzverkehr für die U-Bahn fahren müssen, denn dort wird gebaut.
Deshalb haben wir erst ab Mitte Juni wieder etwas Spielraum. Bei der U-Bahn
selbst ist es in München nicht so einfach. Da warten wir traditionell in
der Sommerpause unsere Fahrzeuge, weil die Nachfrage geringer ist. Zum
Oktoberfest müssen wir wieder das volle Programm fahren. Wir müssen nun
schauen, wie wir das in den drei Monaten mit dem 9-Euro-Ticket zusätzlich
über die Bühne bekommen.
SPD, Grüne und FDP haben sich [2][über Nacht das 9-Euro-Ticket einfallen
lassen], ohne sich vorher mit jemandem zu beraten. Wenn man Sie gefragt
hätte, wie es laufen sollte, was hätten Sie gesagt?
Ich hätte wahrscheinlich gesagt: Machen wir es lieber etwas teurer, aber
dafür länger. Lieber ein halbes Jahr, aber dann zum Beispiel für 18 Euro.
Jetzt haben wir diesen Knalleffekt für drei Monate. Ich weiß nicht, ob das
wirklich nachhaltige Effekte bringt.
Grundsätzlich finden Sie das Projekt gut?
Vom Grundsatz her hätte ich die 2,5 Milliarden Euro, die der Bund für das
9-Euro-Ticket zur Verfügung stellt, lieber für Investitionen in die
Infrastruktur und für neue Fahrzeuge bekommen. Aber die politische
Entscheidung ist eben so gefallen, wie sie jetzt ist. Als Branche versuchen
wir, das Beste daraus zu machen. Wir sehen auch die Chancen.
Welche Chancen?
Wir haben die Chance, Kundinnen und Kunden zurückzugewinnen. Das müssen wir
nach der Coronapandemie auch. In München liegen wir bei 80 Prozent der
Nachfrage von vor Corona, branchenweit sind es zwischen 70 bis 80 Prozent.
Darüber hinaus wollen wir neue Kunden gewinnen. Damit noch mehr Menschen
sagen: Der ÖPNV ist doch eine Alternative zum Auto und gar nicht so
schlecht.
Die öffentliche Diskussion kreist sehr stark um die erwartete Überlastung
der Züge auf Urlaubsstrecken, etwa an die Ostsee oder nach Sylt. Aber sind
die größten Probleme nicht im Berufsverkehr zu erwarten?
Da bin ich gespannt, ob das so ist. Viele Leute werden erst einmal schauen,
wie das 9-Euro-Ticket in der Freizeit funktioniert. Beim Berufsverkehr bin
ich mir nicht sicher, ob wirklich viele Neukundinnen und -kunden das
9-Euro-Ticket ausprobieren. Da geht es ja um ganz eingeschliffene
Verhaltensweisen und lange Gewohnheiten. Wer daheim und im Büro eine
Tiefgarage hat und mit dem Auto dann auch noch wegen des Spritrabatts beim
Tanken spart, wird nicht umsteigen. Ansonsten haben wir im Berufsverkehr
noch nicht wieder die Fahrgastzahlen wie vor der Pandemie. Insoweit haben
wir noch ein bisschen Puffer.
Und wenn es trotzdem zu Problemen kommt?
Bekommen wir im Berufsverkehr Probleme, wird es schwierig sein, die zu
lösen. Wenn wir sonntags mehr Fahrgäste haben, können wir zusätzliche
Fahrzeuge nehmen, die wir sonst nur im Berufsverkehr einsetzen. Aber im
Berufsverkehr rollt fast schon alles. Da müssen wir vielleicht versuchen,
die Leute zu überzeugen, sich anders zu verteilen, etwa später ins Büro zu
fahren oder im Homeoffice zu bleiben.
[3][Im ÖPNV fehlen 15.000 Beschäftigte]. Wird die Personalnot jetzt nicht
extrem verschärft?
Ja. Selbst wenn wir Fahrzeuge haben, müssen wir auch das Personal haben.
Wir sind sehr knapp an Personal und können auch von daher nicht sehr viel
mehr Leistungen bringen. Ich könnte einfach sagen: Wir machen eine
Urlaubssperre über die Sommerzeit. Aber das funktioniert nicht. Wir müssen
unseren Leuten Urlaub geben, insbesondere denen, die an die Schulferien
gebunden sind. Wir müssen mit sehr knappen Ressourcen haushalten.
Warum wird noch kontrolliert? Wenn viele Millionen ein 9-Euro-Ticket haben,
kann man sich das doch sparen.
Das wollen wir uns generell nicht sparen. Kontrollieren wir überhaupt nicht
mehr, gehen sofort die Zahlen der Schwarzfahrer hoch. Aber in besonders
vollen Zügen oder Bussen werden wir natürlich nicht in dem Maße
kontrollieren können wie üblich.
Wäre es nicht sinnvoller gewesen, den Nahverkehr drei Monate kostenlos
anzubieten?
Wenn wir es umsonst gemacht hätten, würden wir nicht die Erkenntnisse
gewinnen, die wir versuchen, über die Marktforschung zu erhalten. Wir
wollen ja möglichst genau wissen, wie viele Menschen wie oft und wo
gefahren sind. Das ist für die Auswertung der Aktion essenziell. Für den
nachhaltigeren Erfolg ist die 9-Euro-Lösung richtig.
Fahrradverbände sorgen sich, dass Radreisende in den kommenden drei Monaten
sozusagen unter die Räder kommen, weil für Fahrräder in den Bahnen kein
Platz ist.
Beim 9-Euro-Ticket ist keine bundesweite Fahrradmitnahme vorgesehen. Wenn
jemand eine Monatskarte oder ein anderes Ticket mit Fahrradmitnahme hat,
darf er das in seinem Geltungsbereich wie bisher nutzen. Darüber hinaus
muss man dafür bezahlen. Am Ende muss das ein Stück weit das Leben regeln.
Es muss klar sein, wenn die Bahn voll ist und das Rad nicht mehr reinpasst,
muss der Radler oder die Radlerin die nächste Bahn nehmen. Da muss man sich
vor Ort arrangieren. Eine generelle Regelung dazu ist schwierig.
Das 9-Euro-Ticket wäre fast geplatzt, weil es einen harten Streit gibt
zwischen Bundesverkehrsminister Volker Wissing und den
Landesverkehrsminister:innen. Die sagen, die 2,5 Milliarden Euro
Kompensation vom Bund reichen nicht.
Das Problem ist: Wir haben massive Energiepreissteigerungen zu verzeichnen,
beim Diesel und auch beim Strom. Ein normales Unternehmen würde den Preis
erhöhen oder das Angebot einschränken. Aber wir können das nicht, weil wir
das 9-Euro-Ticket haben. Deshalb möchten wir auch einen Ausgleich für die
gestiegenen Energiekosten. Ansonsten werden wir nach Auslaufen des
9-Euro-Tickets entweder die Preise deutlich erhöhen oder das Angebot
reduzieren müssen, um betriebswirtschaftlich durchzukommen. Das sollten wir
vermeiden, damit nach dem 9-Euro-Ticket keine Katerstimmung aufkommt.
Um wie viel Geld geht es?
Angemeldet von den Ländern sind 1,5 Milliarden Euro für 2022. Und die
brauchen wir. Wenn wir unseren Beitrag zu den Klimazielen erbringen sollen,
müssen wir bis 2030 zusätzliche Mittel bekommen. Die
Landesverkehrsminister:innen fordern deshalb eine Aufstockung der
sogenannten Regionalisierungsmittel, damit wir im Jahr 2030 auf zusätzliche
Gelder von 11 Milliarden Euro kommen. Das ist die Summe, die wir benötigen,
um Angebot und Kapazitäten im ÖPNV so aufzubauen, dass die Klimsachutzziele
im Verkehr erreicht werden können.
Die Deutsche Umwelthilfe fordert ein 365-Euro-Jahresticket für den
Nahverkehr ab September. Wäre das eine gute Lösung?
Aus unserer Sicht jetzt auf keinen Fall. Wir müssen erst mal dafür Sorge
tragen, dass das Angebot ausgebaut wird. Wir haben teilweise auf dem Land
fast überhaupt kein regelmäßiges Angebot mehr außer Schülerverkehr. Als in
Bayern das 365-Euro-Ticket diskutiert wurde, haben Landräte aus dem
ländlichen Raum gesagt: Super Idee, aber wo ist der Bus, den unsere
Bürgerinnen und Bürger nutzen können? In den Städten ist der ÖPNV vor
Corona schon sehr stark augelastet gewesen. Wenn wir hier noch weitere
Nachfrageeffekte durch günstige Tickets haben, werden sich die Leute mit
Grausen abwenden. Deswegen müssen wir als ersten Schritt das Angebot
ausbauen. Dazu brauchen wir mehr Finanzmittel und mindestens zehn, besser
zwanzig Jahre finanzielle Planungssicherheit.
Also wird es erst in vielen Jahren besser?
Wenn die Mittel steigen, werden wir sukzessive das Angebot verbessern. Das
geht Schritt für Schritt. Wir können nicht auf einen Schlag alles machen.
Aber die Verkehrsunternehmen haben Konzepte in der Schublade, die wir
umsetzen können, wenn das Geld da ist. Wir haben kein Erkenntnisdefizit,
wir haben ein Umsetzungsdefizit.
Wie würde der Ausbau auf dem Land aussehen?
Jeder ländliche Raum und überhaupt jeder Raum benötigt einen Maßanzug für
den ÖPNV. Es gibt viele Möglichkeiten, zum Beispiel die Reaktivierung von
Strecken bei der Eisenbahn. An vielen Orten sind Strecken in den
vergangenen Jahrzehnten stillgelegt worden, die heute hohe
Nachfragepotenziale aufweisen.
Es können Bussysteme mit einem verlässlichen Stundentakt eingerichtet
werden, von frühmorgens bis abends und auch am Wochenende mit garantierten
Anschlüssen. Außerdem gibt es die Möglichkeit, On-Demand-Angebote wie
Sammeltaxis einzurichten. Bei einer sehr dünneren Siedlungsstruktur rechnen
sich Busse irgendwann nicht mehr. Hinzu kommen Radverleih oder
Mitnahmesysteme. In Oberbayern hat ein Dorf Carsharing auf dem Lande
eingerichtet. Aus solchen Elementen entsteht ein Maßanzug für die
Mobilitätsbedürfnisse der Menschen vor Ort.
Angenommen, die Bundesregierung würde sagen: Wir stecken nicht 100
Milliarden Euro in die Aufrüstung, sondern in den ÖPNV. Wie lange würde es
dauern, bis solche Konzepte umgesetzt wären?
100 Milliarden bräuchten wir bei Weitem nicht zusätzlich, weniger als die
Hälfte würde uns bis 2030 genügen. Beim Bus sind wir schnell. Da kann man
innerhalb von ein, zwei Jahren einiges erreichen, vorausgesetzt, wir haben
genug Fahrerinnen und Fahrer. Bei der Schiene dauert es länger.
Wenn wir Planfeststellungsverfahren oder Ähnliches machen, brauchen wir
mehrere Jahre. Ich kann mich erinnern, ich habe mal in meinem Berufsleben
eine Eisenbahn reaktiviert. Da waren die Gleise aber vorhanden. Da haben
wir fünf Jahre gebraucht, mit allem drum und dran, mit Abstimmungen und
Vergaben. Bei einem klassischen Trambahnprojekt würde ich sagen, je nachdem
wie lang die Strecke ist, braucht man inzwischen rund zehn Jahre. Und das
ist zu lang, wir müssen schneller werden.
31 May 2022
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## AUTOREN
Anja Krüger
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