Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Sinnhaftigkeit des 9-Euro-Tickets: Nur billig ist auch keine Lösung
> Die Verkehrswende braucht einen funktionierenden Nahverkehr. Der sollte
> zwar günstiger sein als das Auto, muss aber seinen Preis haben.
Bild: Nur billig ohne Ausbau heiß überfüllte Züge: U-Bahn in München
Welch bizarre Geschichte. Da deuten Politiker und Umweltaktivisten die hohe
Anzahl verkaufter 9-Euro-Tickets tatsächlich als Beleg für die politische
Sinnhaftigkeit dieser Discount-Aktion. Seien wir lieber ehrlich:
Schnäppchen kommen immer gut an. Deswegen sagt die Nachfrage nach einer
hochsubventionierten Dienstleistung [1][gar nichts über deren
gesellschaftlichen Nutzen] aus. Wer einen mit Milliardenkosten angeheizten
Nachfrageboom zu einer Erfolgsgeschichte hochstilisiert, weil er ins eigene
Weltbild der Verkehrswende passt, argumentiert, nun ja, billig.
Will man das auslaufende Sparangebot umweltpolitisch seriös evaluieren,
gibt es nur einen einzigen Maßstab: die Entwicklung des Autoverkehrs.
Allein dessen spürbarer Rückgang könnte ein verbilligtes Ticket auch für
die Zukunft rechtfertigen. Doch allzu viel hat man dazu bisher nicht
gehört.
Zahlen zu einem anderen Phänomen liegen unterdessen schon vor – und die
entlarven das Billigticket als expliziten Flop: Die Pünktlichkeit der Bahn
lag im Juni und Juli auf dem tiefsten Stand des ganzen Jahres, deutlich
schlechter auch als im gesamten Vorjahr. Dass die Augustzahlen besser
ausfallen werden, darf man, wenn man die letzten Wochen öfter im
Regionalverkehr unterwegs war, bezweifeln.
So bleibt nach drei Monaten Bahnchaos die nicht gänzlich überraschende
Erkenntnis, dass volle Züge verkehrspolitisch gesehen kein Wert an sich
sind. Zumal auch der öffentliche Nahverkehr Energie und Ressourcen
verbraucht. Umweltpolitisch kann es daher nicht sinnvoll sein, durch
Billigangebote zusätzlichen Verkehr zu generieren – selbst wenn es
öffentlicher Verkehr ist.
Kluge Verkehrspolitik drängt primär das Auto zurück. Nicht zielführend ist
es daher, die Bahnen vorsätzlich so sehr zu überlasten, dass Fahrgäste
wegen Überfüllung der Waggons am Bahnsteig zurückbleiben müssen – was
durchaus vorkam in den letzten Wochen. Ebenso ist es nicht hilfreich, wenn
der Fahrplan durch den Ansturm mehr denn je zur unverbindlichen
Zahlenkolonne wird. Um Menschen vom Auto in die „Öffis“ zu bringen, müssen
Bus und Bahn verlässliche Verkehrsmittel sein.
Nun wird an dieser Stelle der Einwand kommen, man müsse dann eben das
Bahnangebot ausweiten. Das stimmt, absolut. Doch anzunehmen,
Zusatzkapazitäten ließen sich auch nur ansatzweise in einem ähnlichen Tempo
aufbauen, wie die Politik das 9-Euro-Ticket aus dem Hut zauberte, wäre
reichlich naiv.
Ein Nahverkehrssystem, das in der Lage wäre, das hohe Fahrgastaufkommen der
letzten Monate zu verkraften, bräuchte Jahre Vorlauf. Mindestens. Eher
Jahrzehnte. Beispielhaft zeigt das die Rheintalstrecke. Sie ist die
Hauptverkehrsachse zwischen der Schweiz und der Nordsee. Sie hat heute
streckenweise nur zwei Gleise, eines für jede Richtung. Darauf muss sie
ICEs, den Regionalverkehr und den Güterverkehr abwickeln. Damit ist der
Fahrplan dicht. Schon heute zieht jede Verspätung eines ICE viele weitere
Verspätungen nach sich. An zusätzliche Züge ist deswegen beim besten Willen
nicht zu denken. Und an längere Züge übrigens auch nicht, weil mitunter der
Bahnsteig zu kurz ist.
Nun kann man zwar über durchaus reichlich feststellbare Versäumnisse der
Vergangenheit reden, etwa darüber, dass der Bau von zwei weiteren Gleisen
dieser Strecke seit 30 Jahren in Planung ist, aber das hilft aktuell
natürlich nicht weiter. So bleibt nur die Erkenntnis, dass die gerne
verbreitete Weisheit, die Bahn müsse halt ihre Kapazitäten ausweiten,
zumindest mancherorts und auf mittlere Sicht einer Traumwelt entstammt.
Zumal es ähnliche Sachzwänge zuhauf gibt. Auf Nebenstrecken sind
zusätzliche Zugverbindungen mitunter nicht möglich, weil die Gleise
einspurig sind und nur bestimmte Bahnhöfe Zugbegegnungen zulassen. Auf
Mittelgebirgsstrecken kann es unterdessen die Zugkraft der Lok sein, die
die Zuglänge limitiert. Mal ganz abgesehen davon, dass zusätzliche Waggons
nicht in einem halben Jahr zu organisieren sind, vom nötigen Zugpersonal
ganz zu schweigen.
## Verramschung öffentlicher Mobilität
Das alles zeigt, [2][wie komplex das Bahnsystem ist]. Daher werden
Transportkapazitäten im öffentlichen Verkehr zumindest regional auf lange
Sicht ein knappes Gut bleiben. Werden knappe Güter aber unter Preis
verhökert, kommt es zu Mangellagen – eben überfüllten Zügen, in die keiner
mehr einsteigen kann. Deswegen muss man auch Zugkapazitäten mit Bedacht
bewirtschaften; darf sie nicht verscherbeln. Es ist befremdlich, wie
hartnäckig diese physischen Limitierungen von jenen ignoriert werden, die
sich verrannt haben in die Idee vom Billigticket. Manche träumen gar von
der Kostenlosvariante. Möglich wäre die zweifellos auf dem Land, wo Busse
heute reichlich heiße Luft durch die Gegend fahren. Aber auch nur dort.
So kommt man – immerhin das – zum Verdienst des 9-Euro-Tickets: Es hat
offenbart, wie schlecht es um den Nahverkehr in Deutschland steht. Wer
politisch für eine Verkehrswende eintritt, sollte deswegen jetzt dafür
kämpfen, dass Bus und Bahn wieder mehr Wertschätzung zuteil wird. Das muss
sich vor allem in mehr Geld niederschlagen und ein Teil davon sollte auch
durch eine finanzielle Belastung des fahrenden und ruhenden Autoverkehrs
aufgebracht werden, denn den will man ja zurückdrängen. Damit brächte man
die Verkehrswende besser voran als durch eine Pseudolösung, deren Kern die
Verramschung öffentlicher Mobilität ist.
Von Albert Einstein soll der Satz stammen: „Was nichts kostet, ist nichts
wert.“ Und das gilt eben auch im Verkehr. Sozialpolitisch müsste man dann
gegebenenfalls im Steuer- und Sozialsystem nachhelfen, um diese Mobilität
allen Teilen der Bevölkerung erschwinglich zu machen. Aber das ist eine
andere Baustelle und hat mit Verkehrspolitik nicht zu tun.
Nur einen Aspekt des 9-Euro-Tickets könnte man als Modell für die Zukunft
in Erwägung ziehen: das Einheitsticket für den bundesweiten Nahverkehr. Wer
ein Monatsticket für seinen Verkehrsverbund besitzt, sollte dieses
weiterhin bundesweit im Nahverkehr nutzen können, denn das Zonendenken ist
gerade für Pendler im Grenzbereich der Verbünde lästig und mitunter auch
teuer. Für die Verkehrsunternehmen wäre eine solche Lösung vermutlich
verkraftbar. Vielleicht brächte sie sogar Zusatzeinnahmen, weil
Monatskarten noch attraktiver würden.
So ist die Prämisse guter Verkehrspolitik schnell erzählt: Die Fahrt mit
der Bahn sollte immer billiger sein als die Fahrt mit dem Auto. In diesem
Rahmen darf die Bahn dann aber gerne gutes Geld kosten. Wenn die Einnahmen
dann dazu dienen, die Qualität der Reise zu verbessern, ist damit allen
mehr gedient als mit einem Angebot, das eine Umsonstmentalität bedient,
aber in der Praxis kollabiert. Kollabieren muss.
27 Aug 2022
## LINKS
[1] /Debatte-um-das-9-Euro-Ticket/!5864045
[2] /Desolate-Lage-der-Deutschen-Bahn/!5859759
## AUTOREN
Bernward Janzing
## TAGS
Schwerpunkt Klimawandel
Verkehrswende
9-Euro-Ticket
ÖPNV
klimataz
Verkehrswende
Verkehrswende
Bahnfahren
Ampel-Koalition
Öffentlicher Nahverkehr
365-Euro-Ticket
## ARTIKEL ZUM THEMA
Verkehrswende in London: Drastisch weniger Auto fahren
Wie kann eine Großstadt das 1,5-Grad-Budget bei Verkehrsemissionen
einhalten? Einer Studie zufolge ist es am effektivsten, kaum noch Auto zu
fahren.
Schlechte Aussichten fürs 49-Euro-Ticket: Ohne Bus hilft auch kein Ticket
Der Preis allein bewegt nicht zum Umstieg auf den ÖPNV, zeigt eine neue
Studie zum 9-Euro-Ticket. Denn es hatte kaum Auswirkung auf
Alltagsmobilität.
Ende des 9-Euro-Tickets: Umsonst und gut so
Hinter der Empörung über „Gratismentalität“ verbirgt sich ein Weltbild.
Menschen sollten zu der Forderung nach kostenloser Mobilität stehen.
Ende des 9-Euro-Tickets: Komm bald wieder!
Die Realität kann manchmal hart sein, also: Das 9-Euro-Ticket ist
Geschichte. Viele Menschen lässt das traurig zurück. Ein persönlicher
Abschied.
Debatte um das 9-Euro-Ticket: Bloß nicht verlängern
Das 9-Euro-Ticket ist reine Geldverschwendung. Niemand steigt auf die Bahn
um, die Schnäppchenjäger reisen einfach nur mehr.
9-Euro-Ticket für den Nahverkehr: Neun Ideen für die Verkehrswende
Nächste Woche startet das 9-Euro-Monatsticket. Doch dabei darf es nicht
bleiben: Neun Vorschläge für die Zukunft des Verkehrs.
Einmaliger Feldversuch: Flatrate für den Nahverkehr
Die Länder haben dem 9-Euro-Ticket zugestimmt. In den kommenden drei
Monaten dürfte es nun voll werden in Bussen und Bahnen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.