Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Ende des 9-Euro-Tickets: Komm bald wieder!
> Die Realität kann manchmal hart sein, also: Das 9-Euro-Ticket ist
> Geschichte. Viele Menschen lässt das traurig zurück. Ein persönlicher
> Abschied.
Bild: Auf ein Wiedersehen
Liebes 9-Euro-Ticket, ich hasse Abschiede, nur Abschiedsbriefe hasse ich
noch mehr, aber dich kann ich nicht alleine mit einer Umarmung und Tränen
gehen lassen. Dafür hast du mir und vielen anderen zu viel bedeutet.
Du bist ein Frühlingskind. Ich erinnere mich gut an den Tag, an dem ich die
erste Nachricht von dir bekam. Ohne Witz, ich konnte es erst gar nicht
glauben, als die Meldung auf meinem Bildschirm aufploppte. Die
Ampel-Parteien hätten sich auf dich geeinigt, stand da Ende März. Manchen,
auch mir, schoss gleich die Frage durch den Kopf: Warum nur für die Monate
Juni, Juli und August? Warum nicht für immer?
Für die Bundesregierung, die damals das zweite [1][Entlastungspaket]
angesichts der sozialen Folgen der Ukrainekrise auf den Weg brachte, magst
du ein kleiner Schritt gewesen sein. Für viele Menschen, für die Idee von
Demokratie, gesellschaftlicher Teilhabe und sozialer Gerechtigkeit und für
das Klima warst du aber ein riesengroßer. Ja, ich weiß, nicht alle sehen
das so.
Manche sind froh, dass sie dich jetzt los sind. Sie haben behauptet, du
[2][würdest eine „Gratismentalität“ befeuern] – was auch immer das
bedeutet. Dass dieser Vorwurf von Ministern solcher Parteien kommt, die
Menschen vertritt, die sich nie über etwas freuen konnten, das es gratis
gegeben hat, weil sie ohne eigenes Zutun immer mehr als genug von allem
hatten und deshalb nie auf „gratis“ angewiesen waren; Menschen also, für
die „gratis“ deshalb ein Schimpfwort zu sein scheint – das sagt jedenfalls
schon viel über diesen Vorwurf.
## Gesellschaftliche Ressourcen
Diese Leute sind nicht nur beim Thema Mobilität so drauf, auch bei anderen
gesellschaftlichen Ressourcen setzen sie sich gegen deren gerechte
Verteilung ein, weil ihr Reichtum auf ungerechter Verteilung basiert. Nimm
dir ihr Gerede deshalb bitte nicht zu Herzen, liebes 9-Euro-Ticket.
Andere aber streiten darüber, ob du denn nun die Aufgabe erfüllt hast,
deren Erfüllung sie sich von dir erhofft haben; dass du nämlich die
notwendige Verkehrswende vorantreibst, also die Menschen dazu bringst, vom
Auto auf die Bahn umzusteigen. Sie [3][argumentieren mit vorläufigen
Studienergebnissen], die unterschiedliche Antworten andeuten.
Du kannst sicher wie ich nachvollziehen, dass das eine wichtige Frage ist.
Es ist auch begrüßenswert, dass diese Menschen sich in ihrer
Auseinandersetzung über dich um Fakten bemühen – und sich nicht wie die
Ersteren allein an ihren Ressentiments orientieren. Aber ich verstehe auch,
wenn es dich kränkt, dass sie dich auf den Aspekt Klima reduzieren, dich
allein als Experiment sehen. Ich kann dir versichern: Viele andere und ich
sehen dich als Anfang von etwas Neuem, als Realwerden des scheinbar
Undenkbaren, als gelebte Utopie. Warum? Weil du, zumindest im Bereich
Mobilität, gezeigt hast, dass eine gerechtere Gesellschaft trotz
vermeintlicher monetärer Sachzwänge im Hier und Jetzt praktikabel ist.
Auch wenn du jetzt gehen musst, diese egalitäre Erfahrung wird bleiben.
Menschen zeigten sich selbst in vollen Zügen glücklich über dich, sie
machten Platz füreinander, halfen einander mit dem Gepäck – weil sie
wussten, dass du vielen, die es sich sonst nicht leisten können, Reisen
ermöglicht hast. Das habe ich oft erlebt, auch als ich dich das erste Mal
gelöst und aus Euphorie eine [4][13-stündige Fahrt von Berlin nach Bayern]
auf mich genommen habe, obwohl ich es mir mittlerweile leisten kann, mit
dem ICE zu fahren.
## Aus Prinzip
Ich habe mich aus Prinzip für dich entschieden. Ob im Regionalzug oder
morgens in der U-Bahn auf dem Weg zur Arbeit – in den drei Monaten mit dir
habe ich mich oft an jugendliche Bahnfahrten ohne gültigen Fahrschein
erinnert, vor allem an die Angst dabei. Daran, dass ich das Geld für die
Schülermonatskarte, das für meine Familie viel Geld war, immer wieder als
Taschengeld zweckentfremdet habe, weil ich sonst an mancher Unternehmung
mit Freund:innen nicht hätte teilnehmen können.
Ich bin überzeugt, dass die sehr kurze Erfahrung mit dir in Zukunft nicht
allein als Material nostalgischer Anekdoten dienen wird. Menschliche
Erfahrungen waren für gesellschaftliche Entwicklungen schließlich schon
immer entscheidender als politische Parolen und Parteiprogramme. Deshalb,
liebes 9-Euro-Ticket, mach’s gut und bis ganz bald wieder!
31 Aug 2022
## LINKS
[1] /9-Euro-OePNV-Fahrkarte-der-Ampelregierung/!5841584
[2] /9-Euro-Ticket-und-Lindner/!5870327
[3] /Auslaufendes-9-Euro-Ticket/!5874560
[4] /Unterwegs-mit-dem-9-Euro-Ticket/!5858335
## AUTOREN
Volkan Ağar
## TAGS
Bahnfahren
9-Euro-Ticket
ÖPNV
GNS
Mobilität
Entlastungspaket
9-Euro-Ticket
Verkehr
9-Euro-Ticket
9-Euro-Ticket
Schwerpunkt Klimawandel
365-Euro-Ticket
## ARTIKEL ZUM THEMA
Verkehrsminister über 9-Euro-Ticket: Wissing will Nachfolge ab 2023
Bis Ende des Jahres soll die Nachfolge des 9-Euro-Tickets geklärt sein.
Bundesverkehrsminister Volker Wissing wünscht sich eine bundesweite
Abo-Variante.
Was nach dem 9-Euro-Ticket-Aus nötig ist: Zurück zur Realpolitik
Nach dem 9-Euro-Ticket braucht die Förderung der Verkehrswende ein
vernünftiges Konzept. Viel Potenzial lauert im ruhenden Autoverkehr.
Nachfolger von 9-Euro-Ticket: Wissing kündigt Günstig-ÖPNV an
Der Verkehrsminister spricht sich für eine Fortführung der Flatrate für
Busse und Bahnen aus – wenn die Länder zahlen.
9-Euro-Fonds: Weiterfahren für 9 Euro
Eine Kampagne setzt das 9-Euro-Ticket selber fort. Wer mitmacht, kriegt
eventuelle Strafen für ticketloses Fahren erstattet.
Sinnhaftigkeit des 9-Euro-Tickets: Nur billig ist auch keine Lösung
Die Verkehrswende braucht einen funktionierenden Nahverkehr. Der sollte
zwar günstiger sein als das Auto, muss aber seinen Preis haben.
Anschlussprojekt zeitlich unmöglich: Tschüss, 9-Euro-Ticket!
Die Zeit hat Fakten geschaffen: Es wird keinen direkten Anschluss an die
populäre ÖPNV-Flatrate für das gesamte Bundesgebiet geben können.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.