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# taz.de -- Vier Bilanzen des Popjahres 2021: Melancholie in Lichtgeschwindigke…
> Einige wollten es nicht wahrhaben, aber Pop stand 2021 im Zeichen der
> Coronapandemie. Sie lähmte das Biz und machte sich im Sound bemerkbar.
Bild: Spielend Jazz mit Dancefloor kombinieren: Moor Mother
Die Behauptung, dass das Album stirbt oder verdrängt wird von Singles,
Mixtapes und EPs, die immer hastiger in den Streaming-Orbit geschossen
werden, ist einerseits zur Binse geworden – andererseits schlicht falsch,
wenn man sich den jungen Pop-Mainstream 2021 anschaute. Die Neuseeländerin
[1][Lorde], einer der größten Stars der Generation Y bis Z, hat ihr Album
„Solar Power“ veröffentlicht. Das dritte Werk der 26-jährigen Sängerin i…
nicht nur eines der Popalben des Jahres, weil es den Psychedelic-Folk einer
Lana del Rey mit der sonnigen Energie von Spätneunziger-Acts wie Natalie
Imbruglia anreichert; das Ganze ist in Sachen Dramaturgie und Songwriting
auch eine Hommage an das Album als Kunstform an sich.
Ähnliches kann man von „Sometimes I Might Be Introvert“ von [2][Little
Simz] behaupten. Die britische Rapperin hat in den vergangenen Jahren eine
Karriere vom Undergroundstar zur Hoffnung des Conscious-Rap hingelegt –
dazu nun ihr bislang bestes Werk veröffentlicht, ein musikalisch und
politisch ambitioniertes Spektakel, das trotz Dutzender Stimmungs- und
Richtungswechsel, Gäste und Interludes nie überladen wirkt.
Gemeinsam mit „Black Encyclopedia of the Air“, dem aktuellen Album der
Spoken-Words-Künstlerin Moor Mother aus Philadelphia, war „Sometimes …“
2021 mein liebstes HipHop-Album. Wobei dieses Label den Rap, Jazz, Noise
und Gospel fusionierenden Sound von Moor Mother nicht ausreichend
beschreibt. Die Hoffnung darauf, dass man auf dem alten Esel Rock noch
reiten kann, bewahrten hingegen – erneut – [3][International Music]. Auf
den Säulen von Psychedelic- und Krautrock ruht ihr mächtiges Album
„Ententraum“, das im Stechapfelrausch gezeugte Kind von Lou Reed, Andreas
Spechtl und Helge Schneider. Die sedierte Gitarrenmusik, mit der
International Music bekannt wurde, erweitert das Trio um sonst eher
Indie-fremde Einflüsse wie Tropicália und sogar – oh Gott – wohldosierten
Prog.
Der dürfte sich für PinkPantheress anhören wie ein Relikt aus dem
vergangenen Jahrhundert. Als „New Nostalgic“ bezeichnet die 2001 geborene
Londonerin den Sound auf ihrer tollen Debüt-EP „To Hell with It“ – was
interessant ist, weil es zeigt, was sich für sie und ihre Fans auf Tiktok
nach Nostalgie anhört: Breakbeats überzuckert mit Bubblegum-Pop. Ihre
intuitiven Anderthalbminüter sind das Gegenteil ausproduzierter
Alben-Kunstwerke. Und daher ist die Britin ein Gegengewicht zu den
gewichtigen Pop-Epen 2021. Julia Lorenz
Lorde: „Solar Power“ (Universal)
Little Simz: „Sometimes I Might Be Introvert“ (Age 101)
Moor Mother: Black Encyclopedia of the Air (Anti)
International Music: „Ententraum“ (Staatsakt)
PinkPantheress: To Hell with It (Parlophone)
## Elektronische Fire Music
Dass das Coronavirus elektronische Tanzmusik zur Einkehr bringt, war 2021
eine Illusion: Ein zunächst dahinsiechendes DJ-Jetset im Lockdown führte
nicht zur Stärkung regionaler Szenen. Stattdessen gab es „Plague-Raves“,
illegale Partys, und die Debatten drumrum zeigten, wie verantwortungslos
manche Stars handeln, wenn es um ihre Profite geht. Business as usual auch
in hiesigen Clubs, nach Impfungen und 2G-Regelung durfte und musste aus
rein monetären Gründen wieder gefeiert werden. Das bestätigte eine
Befürchtung: Der Dancefloor liegt zurzeit in Agonie und ist keinesfalls
erste Wahl, um nach Progressivität zu forschen. Aus Underground ist ein
Mainstream geworden, in dem etwa Musik der US-Produzentin The Blessed
Madonna an der Oberfläche von Videospielen läuft.
Es gibt löbliche Ausnahmen: [4][Speaker Music alias DeForrest Brown] Jr.
kreiert Musik, die so far out klingt, dass sich selbst Menschen mit
geschultem Gehör festhalten müssen. Der industrielle Ikonoklasmus des
Briten Blawan wirkt tumultuös und begeisternd zugleich. Auch wenn seine
avancierten Drumprogrammierungen in Lichtgeschwindigkeit wie Hilferufe
wirken, da links und rechts Nostalgie um die Wette hustet. Kein Wunder
also, dass sich [5][US-Künstlerin Moor Mother] mit dem Projekt Irreversible
Entanglements in den Jazzkosmos verabschiedet hat. Sie prüft dort – genau
wie die Dänen Bremer McCoy (Dub-Ambient) und das Kollektiv BadBadNotGood
(HipHop) –, wo Anschluss an Bekanntes möglich, aber auf der Matrix des Jazz
weiterzuentwickeln ist. Nicht ohne Grund ist Jazz für Themen, die früher
der Elektronik gehörten, ein neue Heimstatt.
Das reicht von postkolonialer Kritik ([6][Nubya Garcia]) bis zur radikalen
Genre-Verbiegerei der Kölner Gruppe SALOMEA: Sie versteckt unter vielen
Referenzen eine Identität, die an die jüdischen Wurzeln des Jazz erinnert
und zugleich futuristisch klingt. Von so was kann elektronische Musik nur
träumen – und mottet sich lieber selbst ein. Da der „neue Jazz“, geschult
am Dancefloor und am Dispositiv von Clubs, noch kein Zuhause hat – in den
alten Jazzkneipen ist er sicher nicht heimisch –, können sich Clubs gerne
als Bühnen anbieten, um elektronische Avantgarde und moderne Fire Music
entstehen zu lassen, die tatsächlich wieder für Fortschritt stehen. Lars
Fleischmann
Speaker Music: „Soul-Making Theodicy“ (Planet Mu)
Blawan: „Soft Waahls“ (Ternesc)
Irreversible Entanglements: „Open the Gates“ (International Anthem)
Bremer McCoy: „Natten“ (Luaka Bop)
SALOMEA: „Drowning In Flowers“ (Golden Ticket)
## Glamour trotz Zermürbung
Eins vorweg: Alle, die es in den letzten zwölf Monaten, im Jahr zwei der
zermürbenden Pandemie, trotz aller widrigen Umstände überhaupt geschafft
haben, etwas aufzunehmen und zu veröffentlichen, verdienen eine
Auszeichnung. Woran man sich später noch erinnern wird? Wenn eine*r ein
gesondertes Kapitel in den Popannalen erhalten wird, so ist das Lil Nas X.
Musikalisch macht der US-Rapper zwar nichts, was es nicht schon gegeben
hätte, aber eben noch nie in seiner Kombination. 2019 landete er mit „Old
Town Road“ einen Überhit, indem er Country mit HipHop destillierte, auf
seinem Debütalbum „Montero“ zelebriert er süßen Mainstreampop, erinnert
mal an Frank Ocean, mal an Soundgarden, arbeitet mit Megan Thee Stallion
und Elton John zusammen und dekliniert überdreht, aber doch ernsthaft die
elementaren Aspekte queeren Lebens durch. Extrem gut an- oder ausgezogen
ist er noch dazu.
Der andere Superstar unserer Zeit, [7][Billie Eilish], veröffentlichte 2021
mit „Happier than Ever“ mit 19 Jahren so etwas wie sein Alterswerk. An den
Referenzen zu Frank Sinatra oder Peggy Lee mag liegen, dass sich beim Hören
dieser Eindruck aufdrängt; auch an der melancholisch-introspektiven
Grundstimmung, mit der Eilish ihr noch recht kurzes Leben reflektiert.
Jene zieht sich auch in anderen Veröffentlichungen durch. Den perfekten
Soundtrack zum Auf-dem-Boden-Liegen in all den elenden Covid-Frust- und
-Einsamkeitsphasen lieferten [8][Space Afrika]. Düstere 90s-Klänge
verschmelzen auf „Honest Labour“ mit zartem Gesang und Gesprächsfetzen zu
Soundlandschaften, in die man nur zu gerne versinkt. L’Rain alias Taja
Cheek hat ihr zweites Album zeitgemäß gleich „Fatigue“ genannt, präsenti…
darauf aber das Gegenteil einer müden Nummer. Die US-Avantgardekünstlerin
und Multiinstrumentalistin lässt Psychedelia auf Jazz, auf R&B, auf
Art Pop, auf Folk treffen. Betörend ist das, herausfordernd, wirklich
großartig.
Derlei Lichtblicke waren dringend nötig. Der New Yorker Lo-Fi-Rapper Deem
Spencer bot netterweise sogar an, bei Bedarf, einen Himmelskörper zu
bewegen: „Do you need more light? I can move the moon over here for us“,
verspricht er in „New Light“, einem von zehn Tracks auf „Deem’s Tape“…
so charmant unperfekt klingen, dass ich sie 2021 öfter gehört habe als
alles andere. Beate Scheder
Lil Nas X: „Montero“ (Columbia)
Billie Eilish: „Happier than Ever“ (Interscope)
Space Afrika: „Honest Labour“ (DAIS)
L’Rain: „Fatigue“ (Mexican Summer)
Deem Spencer: „Deem’s Tape“ (DS & the Flower Shop)
## Worte auseinandernehmen
„Ausdeutschen“ heißt ein Roman des geschätzten Andreas Neumeister, dessen
Titel mir dieses Jahr oft in den Sinn kam. Die abgründige Verbkonstruktion
hatte er bei seinem Großvater gehört, der es in dem Sinne verwendete, um
„etwas mit Nachdruck zu erklären“. 2021 wurde nonstop ausgedeutscht. Im
Bann der Pandemie macht Verlautbarungssprache das eigentümliche Verhältnis
zwischen Realität und Fiktion zwar nicht zunichte, aber erschwerte den
spielerischen Umgang erheblich.
Der alarmistische Grundton in den Medien ließ Sloganeering in Songtexten
verblassen. Das Virus entstellt als Nebeneffekt auch Sprache:
„Infiltrationen der Lunge“ anyone? Interessante Musik 2021 verzichtete auf
Texte oder nahm Worte so auseinander, dass nur Knirschen übrigblieb. Wie
„Fast Fashion“ der russischen Künstlerin [9][Lolina] (Alina Astrowa), die
darin Wortfetzen wiederkäut, Ausschnitte von TED-Talks,
Gewinnspielsendungen und hyperekstatische Radiomoderation zermalmt,
hochpitcht, endlos repetiert, bis eine Stimmenkloake entsteht. Und medial
durchgemangelt klingt auch ihr Sound: Klospülungbeats,
Warteschlaufen-Loops, verkrüppelte Hooklines einer Maustaste beim
Runterscrollen und das verrauschte Krächzen beim Mailbox-Abhören.
Genrebending war angesagt. US-Jazzer [10][Jeff Parker] frönte seiner
HipHop-Leidenschaft ohne dabei deren Machoattitude abzurufen. Sein Album
„JP’s Myspace Beats“ besteht aus 24 Instrumentals, die die Fresse halten
und den Flow aus Samples, Breaks und der Keksdosen-Ästhetik im Homestudio
beziehen. Musik, weit jenseits von amtlichem Wichtigkeitsgestus und doch
elegant und supergegenwärtig in ihrer lakonischen Vielfältigkeit.
2021 war ein Jahr des konzentrierten Hinhörens, Wegschwingens und
Ausfadens, sich Gerade-noch-vom-Abgrund Wegbeamens, wie es dem
Ambientsound der Kanadierin [11][Kristen Gallerneaux] und der Russin
[12][Perila] (Alexandra Zakharenko) gelang. 2021 war wie eine Dauerintrige
von Finsterlingen, die sich mit 195 km/h und Fernlicht auf der Überholspur
vorbeidrängeln möchten. Gegen die tägliche Nötigung half der
impressionistische Spacejazz des dänischen Duos [13][Bremer McCoy] sparsam
dosiert für den Hygge-Kitsch bei der nächsten Kissenschlacht. Julian Weber
Lolina: „Fast Fashion“ (Deathbomb Arc)
Kristen Gallerneaux: „Strung Figures“ (Shadow World)
Jeff Parker: „JP’s Myspace Beats“ (International Anthem)
Perila: „7.37/2.11“ (Vaagner)
Bremer McCoy: „Natten“ (Luaka Bop/Studio!K7)
30 Dec 2021
## LINKS
[1] /Neues-Album-von-Lorde/!5794423
[2] /Neues-Album-von-Rapperin-Little-Simz/!5796545
[3] /Neues-Album-von-International-Music/!5770543
[4] /Elektronikproduzent-ueber-Lage-der-USA/!5739260
[5] /Alben-von-Moor-Mother-und-Loraine-James/!5799635
[6] /Konzert-von-Nubya-Garcia-in-Berlin/!5633030
[7] /Bruder-und-Produzent-von-Billie-Eilish/!5811213
[8] /Dub-Duo-Space-Afrika/!5807073
[9] https://www.youtube.com/watch?v=vEUq9GFxeJ0
[10] /US-Jazzer-Jeff-Parker-auf-Tour/!5396578
[11] /Soundscapes-von-Kristen-Gallerneaux/!5795173
[12] /Ambientsound-von-Perila/!5626565
[13] /Musikduos-als-demokratische-Bastionen/!5816917
## AUTOREN
Lars Fleischmann
Julia Lorenz
Beate Scheder
Julian Weber
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