| # taz.de -- Londoner Ausnahme-Künstlerin Lolina: „Ich denke immer über Musi… | |
| > Die estnisch-russische Künstlerin Lolina über ungleiche | |
| > Besitzverhältnisse im Popbiz, Staatenlosigkeit und Schwierigkeiten beim | |
| > Neustart. | |
| Bild: Diskurspop 2,0: Lolina | |
| taz: Lolina, „Music keeps me going like I can’t get enough“ singen Sie im | |
| Text zum Song „Music Is the Drug“ von Ihrer aktuellen EP „Face the Music�… | |
| drunter liegt ein Dancebeat. Eine konkrete Beschreibung, was Musik mit | |
| Ihnen macht. Erklären Sie bitte das Motiv für den Song? | |
| Lolina: Das muss man im Kontext der gesamten EP „Face the Music“ sehen, die | |
| mit dem gleichnamigen Song startet. Die Titelzeile steht am Anfang. Face | |
| the Music bedeutet im Englischen so viel wie du bist verantwortlich für | |
| dein Tun. Diese Phrase habe ich wörtlich genommen: Stell dich der Musik. Im | |
| Song wechsle ich zwischen den Bedeutungen hin und her. Einmal zähle ich die | |
| Bestandteile des Gesichts (face) auf: Augen, Wangenknochen, Augenbrauen … | |
| Dann geht es auch um mich, was passiert, wenn ich auf der Suche nach Musik | |
| bin, auf der Straße und in anderen Kontexten, in denen Musik ertönt. | |
| Außerdem begebe ich mich im Song „Music Is the Drug“ in einen Club und | |
| suche dort nach Musik. Wieder nehme ich es wörtlich, zugleich denke ich | |
| dort auch an Drogen. Ich wende mich affirmativ der Musik zu, aber zugleich | |
| stelle ich sie in Frage. | |
| Vorhin haben Sie Musik erwähnt, die Sie auf der Straße hören. Da denke ich | |
| sofort an London und den Kontext britischer Clubmusik, mit dem Ihr Sound | |
| assoziiert wird. Auch wenn Sie Ihre eigene Musik darauf beziehen, hat sie | |
| sich gewandelt. Erklären Sie bitte, was Ihnen Dancefloor-Musik bedeutet? | |
| Sie ist sehr wichtig für mich. Ich geriet in die Musikszene überhaupt durch | |
| den Dancefloor und das Ausgehen, als ich nach London gezogen bin. [1][Bis | |
| heute passieren im Clubkontext immer noch interessante Sachen.] | |
| Euphorische Gefühle und affirmative Haltung sind die Basis vieler Popsongs. | |
| In der Musik und den Texten Ihres Albums „The Smoke“ ging es um andere | |
| Themen: Erschöpfung, Übellaunigkeit, Entfremdung …, nicht nur die Gefühle | |
| waren über Kreuz, auch die Musik war experimentell. Ich bin mir nicht | |
| sicher, ob Sie Pop eigentlich mögen oder ob Sie gegen seine Regeln | |
| aufbegehren? | |
| Oft werde ich gefragt, ob ich den nun Pop mache oder experimentelle Musik. | |
| Und ich glaube, die Annahme dahinter ist, dass es zwei grundverschiedene | |
| Pole sind. Pop muss nicht notwendigerweise affirmativ sein und | |
| experimentelle Musik kann auch eskapistisch klingen. Manche meiner Songs | |
| klingen eher wie Pop, andere wie experimentelle Musik, für mich ist das | |
| eins. Aber klar, ich reflektiere in meinen Texten das Gefühl, sich | |
| entfremdet zu fühlen und hilflos. Aber es sollte auch möglich sein, dass | |
| ich es nicht nur reflektiere, sondern darüber hinaus den Prozess der | |
| Musikproduktion mitdenke, so dass ich dabei totale Entscheidungsfreiheit | |
| habe. | |
| Das war gerade ein Plädoyer für Meta-Popmusik. Schildern Sie bitte, wie | |
| sich Ihr früheres Alias Inga Copeland und Lolina voneinander unterscheiden? | |
| Und in welcher Beziehung stehen Sie eigentlich als Alina Astrova zu den | |
| beiden? | |
| Die Idee, dass ich anders bin als die Persona, die ich darstelle, gab es | |
| schon zu Zeiten von Hype Williams. Als ich dann meine Solokarriere begonnen | |
| habe, 2013, hat mich besonders interessiert, was ich mit einer Trennung als | |
| Ausgangspunkt für Überlegungen anstellen kann. Im Song [2][„Advice to Young | |
| Girls“] habe ich im Text eine Trennung eingebaut zwischen mir als jungem | |
| Mädchen und mir als erwachsene Künstlerin und jemand, der Ratschläge | |
| erteilt. Das habe ich auch beim Sound inszeniert, denn der Gesang klang so, | |
| als sei er durch ein Handy aufgenommen. Als ich mich dann Lolina genannt | |
| habe, war es eine erneute Trennung. Ausgangspunkt meiner Überlegungen war, | |
| wie ich als Musikerin neu starten kann. Geht das überhaupt, wo mich die | |
| Leute schon kennen? Eine Neuerfindung ging nicht. Also habe ich überlegt, | |
| was passiert beim zweiten und beim dritten Neustart. | |
| Bei Ihnen schließt man trotz anderer Namen immer auf Sie als Komponistin. | |
| Ja, eben, es gelang mir nicht, Aber ich habe den Neustart dazu genutzt, um | |
| laut über Musik nachzudenken. Zum Beispiel auf der Bühne. [3][Oft wähle ich | |
| für Konzerte Equipment, mit dem ich mich noch nicht auskenne.] Ich habe | |
| damals Pionier CDJs für mich entdeckt, pitchbare CD-Spieler. So habe ich | |
| mich aus freien Stücken zum Musikamateur gemacht, um die Idee des | |
| Neubeginns zu verdeutlichen. | |
| Ihr Album von 2021 haben Sie „Fast Fashion“ getauft. Es geht um die | |
| Vergeudung von Ressourcen, die entstehen, wenn Mode für den kurzzeitigen | |
| Gebrauch hergestellt wird. | |
| Ich habe damit über den Prozesscharakter von Mode nachgedacht. Das Adjektiv | |
| „schnell“ zeigt an, dass es ein Zeitebene in diesem Prozess gibt. Vor „Fa… | |
| Fashion“ habe ich das Album „Who Is Experimental Music?“ veröffentlicht … | |
| davor „The Smoke“. Seine Musik besteht aus klassisch strukturierten Songs. | |
| Sie arbeiten digital, aber denken analog. Wieso? | |
| Mein Freund Mark Cremins verknüpfte mich mit dem Willem-Twee-Analog-Studio | |
| im holländischen Den Bosch. Die Betreiber wollen verhindern, dass immer | |
| mehr altes Equipment in Museen landet und dadurch nicht mehr | |
| funktionstüchtig ist. Ich konnte da in aller Ruhe analoge Geräten | |
| ausprobieren und landete bei Tonbandgeräten, mit denen ich Soundcollagen | |
| kreierte. Ich schnitt mit ihnen, so wie in den 1950ern. [4][Dabei habe ich | |
| gelernt, dass bei der digitalen Produktion am Computer vieles | |
| rationalisiert wurde.] | |
| Wie haben Sie das umgesetzt? | |
| Für die Musik von „Who Is Experimental Music?“ habe ich aus dem Internet | |
| Samples genommen, diese am Computer zerlegt und in den iPod-Shufflemodus | |
| eingespeist. So wurden sie nach dem Zufallsprinzip abgespielt. Diese | |
| Aufnahme habe ich wiederum geloopt und auf USB-Sticks gebrannt, so dass ich | |
| sie am CDJ-Spieler anschließen konnte. Die Musik ist digital produziert, | |
| aber eine Referenz an den analogen Aufnahmeprozess. | |
| Oder sind Sie eine Konzeptkünstlerin? | |
| Der Prozess dauert viel länger und ist mühevoller, als es meine | |
| Beschreibung suggeriert. Für „Fast Fashion“ habe ich monatelang | |
| Klangcollagen aus Tonspuren von Modenschauen zu kreiert und diese | |
| miteinander vermischt: zwei Modenschauen einer Marke aus unterschiedlichen | |
| Jahren. | |
| Ihre Musik klingt stets medialisiert, als würde eine Infoscreen durch den | |
| Sound laufen. | |
| Klar, die Verbindung liegt nahe. Aber ich möchte nicht nur darüber | |
| nachdenken, was es heißt, in einer Welt zu leben, in der nonstop Bildern | |
| und Töne durch uns fließen. Ich erforsche, welche musikalischen | |
| Entscheidungen ich daraus ableiten kann. | |
| Was hat es mit Ihrem Alias Lolina auf sich? Spielt es mit Nabokovs | |
| „Lolita“? Wie der Schriftsteller leben Sie schon eine Weile im Exil, wobei | |
| Sie freiwillig nach London gegangen sind. | |
| Die Nabokov-Connection ist eher eine vage Referenz. Lolina ist eine | |
| Kombination aus meinem Vornamen Alina und dem SMS-Kürzel Lol. Nix Ernstes. | |
| Wo sie jetzt nach meinen Wurzeln fragen: Ich bin noch zu Sowjetzeiten | |
| geboren, in Samara. Meine Eltern sind mit meinem Bruder und mir zur | |
| Jahreswende 1989/90 nach Estland gegangen. Damals hatte ich nur eine | |
| Geburtsurkunde. Nach der estnischen Unabhängigkeit 1991, als es um die | |
| Staatsangehörigkeit ging, konnten Menschen, die wie ich nicht in Estland | |
| geboren sind, nicht automatisch estnische Staatsangehörigkeit beantragen. | |
| Mein erster Pass war ein graues staatenloses Dokument. Ich hatte das | |
| Aufenthaltsrecht, aber war keine estnische Bürgerin. Im Alter von 16 konnte | |
| ich mich einbürgern lassen, habe ich auch getan. Es muss ungefähr zur | |
| selben Zeit gewesen sein, als Estland der EU beigetreten ist. Danach war es | |
| mir möglich, in England zu leben. Nach dem Brexit, 2017, musste ich mich um | |
| eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung bemühen, um weiterhin in England | |
| leben zu können. Einerseits habe ich als Immigrantin die Erfahrung gemacht, | |
| dass Nationalität sich ändern kann. Andererseits ist meine Nationalität | |
| nicht die einzige Verbindung zu den Orten, an denen ich gelebt habe. Ich | |
| spreche alle drei Sprachen und kenne Menschen in allen drei Ländern. | |
| Was sagen Sie zum Krieg? | |
| Wenn ich jetzt sage, ich bin gegen den russischen Angriffskrieg in der | |
| Ukraine und gegen Putin, tue ich das aus einer Position, die mit allen drei | |
| Ländern verbunden ist. Ob ich will oder nicht, ich bin auch eine | |
| Verbindung, die zwischen ihnen existiert. | |
| Wie sieht Ihr Alltag in London aus? Sie sind Teil einer Musikszene, die | |
| sich an Orten wie dem Café Oto abspielt. Es gibt eine osteuropäische | |
| Workingclass-Diaspora und es gibt reiche Russ:Innen, die dem schönen Leben | |
| von Londongrad frönen. Was kriegen Sie davon mit? | |
| Ja, ich gehöre zur Musikszene, die sich an Orten wie dem Café Oto und dem | |
| Kunstraum Ormside Projects abspielt. Das reiche Stadtleben ist davon | |
| meilenweit entfernt. Es ist eine Gated Community: Als einige Anarchisten | |
| eine leerstehende Oligarchen-Villa besetzt haben, um gegen den Krieg zu | |
| protestieren, griff die Polizei sofort ein. Die ungleiche Verteilung von | |
| Wohlstand betrifft alle. Meine Lebensbedingung als Musikerin ist näher | |
| an denen von osteuropäischen und anderen Migranten. Ich komme aus der | |
| Mittelklasse, so wie die meisten in den Clubs. Als Musikerin weiß ich | |
| zumindest über die Besitzverhältnisse in meinem Metier bescheid. Ich | |
| betreibe mein eigenes Label, besitze die Mastertapes, habe die Rechte an | |
| meiner Musik. | |
| Wie definieren Sie Schönheit? Ihr Werk wurde oft als „Anti-Musik“ | |
| bezeichnet. | |
| Über Schönheit in Musik nachzudenken empfinde ich als eskapistisch. Wenn | |
| sich Musik um Schönheit und Eskapismus dreht, dann mache ich Anti-Musik. | |
| Aber das ist vielleicht zu einfach, denn ich denke gerne darüber nach, was | |
| Musik ist, was sie sein könnte. | |
| 8 Dec 2022 | |
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