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# taz.de -- Neue Elektroalben für den Sommer: Raumgrenzen mit Ohren streicheln
> Was rumpelt denn da? Wer spricht so blechern? Vier neue Elektronikalben
> von Actress, Lolina, Jan Jelinek und CHBB, die dem Sommer Stempel
> aufdrücken.
Bild: Wollte eigentlich Profifußballer werden: Darren J Cunningham alias Actre…
In der jüngeren Architekturtheorie geht es beim Thema Stadtplanung nicht
mehr allein um die Bauform, Architektur werden im Rückgriff auf
Kognitionstheorie auch sinnerzeugende Eigenschaften bescheinigt. Jene
sensorische Komponente hat der finnische Architekt Juhani Palasmaa mit den
Worten beschrieben, dass Menschen „die Grenzen des Raums mit den Ohren
streicheln“. Klang und seine spezifische Umgebung spielen auch in Gebäuden
eine wichtige Rolle.
In der Sphäre der elektronischen Musik streichelt momentan niemand die
Grenzen des Raums besser mit den Ohren [1][als der britische
Elektronikproduzent Actress (Darren J. Cunningham)]. Passend zum kleinen
Architekturexkurs ist sein neues Album mit dem Begriff „Statik“ deutsch
betitelt.
Schroff, verwaschen, eiernd klingt sein Entwurf, und doch packen einen
diese elf Stücke, gerade weil Cunningham grundsätzlich keine Flächen
quantisiert und seine Beats nie mit Metronom programmiert. Die Statik mag
schief sein, aber sie trägt durch den Einsatz alter Drumcomputer oder durch
das völlige Ausblenden von Rhythmus.
Seine eigene Musik bezeichnet der 45-Jährige als „R&B Concrète“, ihm liege
viel an der elektronischen Avantgarde, wobei die Popaspekte zwar in den
Innereien seiner Musik vergraben sind, aber dennoch die eine oder andere
Hookline sich gegen dicke Schlieren abstrakter Klangflächen behauptet.
## Filigranes Rauschen
Actress’ Musik rauscht gewaltig, doch das Rauschen ist weniger monumental
als filigran und selten geradlinig, so dass immer ein interessanter
Stop-&-Go-Effekt entsteht. Actress hat in einem Gespräch mit dem
Onlinemagazin „Kaput“ erklärt, er produziere keine Tracks, sondern
Sequenzen und setze diese nach und nach zusammen. Trotzdem hat diese Musik
deutliche Konturen.
Das Video zum Stück „Dolphin Spray“ ist bei einer Autofahrt auf dem Land
vermutlich in Skandinavien mit verwackelter Kamera in körnigem Schwarzweiß
gedreht und fasst Bauten, Landschaft und Straßen ins Bild, „Statik“ nimmt
viele lose Enden der urbanen britischen Dancefloorkultur auf und baut sie
zu einer hyper-illusionistischen Klangarchitektur aus.
Obwohl sie für ein früheres Album (unter dem Künstlernamen Inga Copeland)
Musik mit Actress eingespielt hat, kommt das aktuelle Album [2][der in
London tätigen estnisch-russischen Künstlerin Lolina (Alina Astrova)]
scheinbar aus einem Klangparalleluniversum. „Unrecognisable“ ist Teil eines
größer angelegten immersiven Kunstwerks. Teil eins war ein im Stile von
Modezeichnungen entworfener interaktiver Comic.
## Interaktiver Comic
Darin geht es um eine SciFi-Story, in der zwei Londoner Gebäude eine
Hauptrolle spielen. Der 87-stöckige zylinderförmige Wolkenkratzer „The
Shard“ einerseits, andererseits der Underground-Musikclub „Ormside
Projects“, in dem Lolina in realiter auftritt. I[3][m Comic gibt es in
London keine Kultur mehr], es ist eine dystopische Stadt mit zugenagelten
Häusern und schwer bewachten, von der Regierung beherrschten Wahrzeichen
wie „The Shard“.
Menschen agieren im Verborgenen, telefonieren nonstop, sitzen in Autos und
observieren. Eine Widerstandsgruppe namens „The Unrecognisables“ will „The
Shard“ sprengen, bricht die Operation aber ab, damit niemand zu Schaden
kommt. Die Regierung kommt diesem Plan auf die Spur. Verdächtigt sind zwei
junge Frauen, Paris und Geneva, Stadtplanerin die eine, Ex-Clubgängerin die
andere, beide bei den Unrecognisables aktiv.
Lolina nimmt in ihrer Story [4][Anleihen bei JG Ballards] Klassiker
„High-Rise“, aber auch die klandestinen Aussteigertipps aus „Die
elektronische Revolution“ von William S. Burroughs kommen in den Sinn.
Klickt man im Comic die Kopfbedeckungen der beiden Frauen an, ertönen
disparate Einzelspuren – Stimmen, Pianogeklimper, Percussionkrach –, die
beim Weiterscrollen einen unheimlichen Soundscape ergeben.
## Die Unkenntlichen
Teil zwei von „Unrecognisable“ war eine Live-Performance, in der Lolina die
Protagonistin Paris in den Mittelpunkt rückte, die in „The Shard“
eingebrochen war, um ein abspenstiges Mitglied der Unrecognisables zu
suchen. Teil drei ist nun ein Album mit neun Tracks. In den Texten geht es
um den aufreibenden Alltag von Paris und Geneva, zwischen Panikattacken und
Fluchtweg-Ausbaldowern. Die Künstlerin schlüpft mit dem modulierten
Pitchshifting ihrer Stimme in verschiedene Rollen.
Wie immer bei Lolina zieht das hypnotische Gemurmel von Massenmedien an der
musikalischen Grundstruktur und sorgt für Stress. Die Vocals atmen Ennui
und verzerren durch aufreizende Relaxtheit den Storyplot derart, dass man
irgendwann diesen permanenten musikalischen Dämmerzustand als Labsal
empfindet. „A disaster is never really that far away / When you don’t know
anybody on the streets“.
Dazu rumort es klaustrophobisch dissonant mit eiskalter Eleganz. Fast alle
Sounds werden von einem Billo-Casio Sampling-Keyboard erzeugt. Lolina war
schon immer eine Meisterin der Selbstbeschränkung. Und man wünscht sich,
dass diese Geschichte von „Unrecognisable“ weitergeht, als
Spammail-Fortsetzungsgeschichte?
## Spammail-Manipulation
„Social Engineering“ heißt das neue Album des Berliner Produzenten Jan
Jelinek. Stimmen spielen darauf eine entscheidende Rolle. Sie sind nicht
menschengemacht, sondern basieren auf einem Speechprogramm. Jelinek hat die
Texte von 13 Spammails mittels Voice-Synthesis von einem
Casiotone-Synthesizer in Sprache umwandeln lassen. „Social Engineering“ ist
der soziologische Begriff für Manipulationen, die mit Spam- und
Phishingmails einhergehen.
Eine weibliche Stimme, die entfernt an die Vocoderstimme aus Laurie
Andersons Song „Oh Superman“ erinnert, sagt: „Dieses Video wird dir die
Augen öffnen und endlich den Weg in die finanzielle Freiheit aufzeigen.“
Kurz danach zerbirst diese Aufforderung in Fragmente, einzelne Wortsilben
werden gedehnt wiedergegeben. In einigen der 13 Tracks fungieren die
stimmgewordenen Zahlungsaufforderungen a capella, in anderen sind sie
subkutan von Fieldrecordings durchlöchert, zerrende Störtöne sorgen für
akustische Aussetzer.
Bei „Social Engineering“ gefällt die Weiterverarbeitung von Text in
synthetische Stimmen. William Burroughs hat in „Die elektronische
Revolution“ die Stimme als Waffe bezeichnet. So ausdruckslos, wie die
generierten Stimmen bei Jelinek inszeniert sind, trifft das zu. Der ganze
Schutt des Kapitalismus, verdichtet zu enervierenden Lockrufen, nervt
gewaltig und klingt so ungeschlacht wie alte KI. Jelinek, der selbst einmal
Opfer einer Phishingmail wurde, sieht in der unheimlich seltsamen Fabelwelt
aus Warenfetischismus und horrenden Geldgeschenken absurden Humor am Werk.
## Social Engineering als Kunstform
Warum nicht dieses Wonnegrausen als Kunstform etablieren? Für den Fall
sammelt am Informatik-Fachbereich der TU München schon mal ein
wissenschaftliches Projekt Spammails und wertet sie aus. Ihre akustische
Umsetzung zu hörspielartigen Vignetten ist dem „Collagisten“ (Jelinek über
Jelinek) mit „Social Engineering“ definitiv gelungen.
Stimmfetzen tauchen auch auf dem prähistorischen Technoalbum „CHBB“ auf. So
benannt nach den Initialen der beiden Musiker:innen Chrislo Haas und
Beate Bartel. Beide wurden unter dem Namen Liaisons Dangereuses mit ihrem
Song „Los Ninos Del Parque“ 1982 weltberühmt. Die Aufnahmen für „CHBB�…
zeitlich vorher entstanden. Bisher war nur ein Bruchteil der 20 Tracks
bekannt.
[5][Sie erschienen 1981 als limitierte Tapes beim Düsseldorfer
Kassettenlabel Klar!80]. Dass nun ein delikat klingendes Doppelalbum
veröffentlicht wird, ist die archäologische Musiksensation des Jahres. Denn
die fraktalen Hypnobeats und Sequenzer-Loops, erzeugt mit einem einzigen
monofonen Korg MS-20 Synthesizer, waren ihrer Zeit so weit voraus, dass sie
auch heute einen Sandsturm auf dem Mars auslösen könnten.
[6][Der Schriftsteller Peter Glaser] hat damals mit dem „unheimlich
straighten“ Duo in Düsseldorf zusammengewohnt und beobachtete an ihm einen
„Projektprozess“ beim Musikmachen. Die Versenkung ins Material sei so tief
gewesen, dass sich das Duo selbst wieder „aus den Sequenzern herauszuholen
versuchte“.
Die Toningenieurin Beate Bartel erklärt, „Chrislo hat nur in den Maschinen
gelebt“. Chrislo Haas hat Sequenzer Loops entworfen, die sich im Takt
umdrehen. Beim Drehen an den Knöpfen seines Korg hat er die Grenzen des
Raums mit den Ohren gestreichelt.
11 Jul 2024
## LINKS
[1] /Hyperrhythm-aus-USA-und-GB/!5406916
[2] /Londoner-Ausnahme-Kuenstlerin-Lolina/!5902020
[3] https://www.ormside.co.uk/unrecognisable/
[4] /Schluesselwerk-von-JGBallard-Crash/!5642885
[5] /Compilation-Duesseldorf-Tape-Underground/!5955479
[6] /Doku-ueber-den-Chaos-Computer-Club/!5785872
## AUTOREN
Julian Weber
## TAGS
Elektronik
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