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# taz.de -- Hyperrhythm aus USA und GB: Wenn der Körper als Hirn genutzt wird
> Mensch und Maschine, Licht und Dunkelheit: neue Alben der US-Künstlerin
> Jlin und des britischen Produzenten Actress.
Bild: Mit dem Kopf kaum zu erfassen: die komplexen Rhythmen der US-Künstlerin …
In unberechenbaren Schüben erklingen abgehackte Stimmen. Wie in einem
Schluckauf hüpfen sie über unvermittelt einsetzende, trockene
Trommel-Sounds, scharfe Snareschläge und einen untergründig schubsenden
Bass. Es fällt schwer, den Aufbau des Tracks „Nandi“ zu erfassen, der sich
auf dem neuen Album „Black Origami“ von der US-Künstlerin Jerrylinn Patton
alias Jlin findet.
Statt diesen Hyperrhythmen mit dem Kopf zu folgen, fällt es leichter, ihnen
durch körperliche Bewegung nachzuspüren. Der britische Schriftsteller und
Journalist Kodwo Eshun erfand in seinem 1998 erschienen Buch „More
Brilliant than the Sun“ (deutsch: „Heller als die Sonne: Abenteuer in der
Sonic Fiction“) den Begriff „Hyperrhythm“. Auf die schnellen Breaks des
seinerzeit in voller Blüte stehenden Drum ’n’ Bass bezogen, bezeichnete
Eshun damit einen Rhythmus, den wir nicht mehr intellektuell fassen können.
Um solche Beats zu verstehen, muss stattdessen der ganze Körper als Hirn
genutzt werden. Rhythmus wird so zur Schnittstelle zwischen der Maschine,
die ihn erzeugt, und dem Menschen.
Die elektronischen Stücke von Jlin stehen mit einem Bein in der Tradition
US-amerikanischer Clubmusik. Sie machte ihre ersten Schritte mit Footwork,
einem Dancefloor-Genre aus ihrer Heimatstadt, das eng an Tanzkultur
geknüpft ist. Das Herz der Footwork-Szene, die in der Tradition von
House-Musik steht, schlägt nun mal in der „Windy City“ Chicago.
Unweit der windigen Stadt liegt die Industriestadt Gary im US-Bundesstaat
Indiana, wo Jlin aufgewachsen ist und heute noch lebt. 2011 tauchte sie mit
zwei Tracks auf dem zweiten Teil der Compilation „Bangs & Works“ des
britischen Labels Planet Mu auf, die der schnellen, auf zerhackten und neu
arrangierten Samples basierenden Musik über Chicago und die USA hinaus
internationale Aufmerksamkeit verschaffte.
## In tausend Splitter zerbrochene Tracks
2015 gab die Musikerin mit ihrem Debütalbum „Dark Energy“ ein starkes
Statement ab, das Footwork schließlich abstrahierte. Statt auf Samples aus
Soul, Funk und HipHop zu setzen, baut Jlin ihre Tracks aus selbst
gefertigten Klängen. „Angefangen habe ich mit Footwork, aber es hat sich zu
etwas anderem entwickelt“, rekapituliert sie und stellt klar: „Ich bin
keine Footwork-Künstlerin.“ Dennoch erinnern ihre Beats an den rollenden
und gleichzeitig hakeligen Rhythmus des Genres. Und auch die Machart der
Tracks zeigt, in welcher Schule sie gelernt hat. Sie basieren auf Cuts, auf
dem Zerschneiden und Zusammenfügen von kleinteiligen Sequenzen. Die Tracks
wirken, als seien sie erst in tausend Splitter zerbrochen und anschließend
wieder zusammengesetzt worden.
Unzählbare Schläge bäumen sich zu hyperaktiven Beats auf. Wie Kodwo Eshun
in „More Brilliant than the Sun“ ausführt, erzeugt maschinell produzierte
Musik aber keineswegs weniger Gefühle. Auch bei Jlin intensiviert ihre
Arbeitsweise eher die Erfahrung von Emotionen. Die Klänge, die um die
synthetischen Drums herumschwirren, sind eindringlich, hin und wieder
unangenehm und lassen energische Fluchtbewegungen in den Körper fahren.
Harmonien gibt es wenige, stattdessen erklingen hin- und hergerissene
Gesangssamples, begleitet von pulsierenden Subbässen und disharmonischen
Klängen von Synthesizern. „Wenn ich etwas produziere, ist es immer ein
Ausdruck meiner Persönlichkeit“, erklärt Jlin der taz. „Alles kann in
Rhythmus übersetzt werden – allerdings geht es mir nicht allein darum. Die
Klänge müssen sich richtig anfühlen. Wenn sie das nicht tun, bedeutet
Rhythmus gar nichts!“
Die US-Produzentin erforscht klangliche Dunkelheit ohne negative
Vorzeichen. „Ich kann nicht ändern, wie Menschen denken, aber ich kann
meine Auffassung durch meine Arbeit und in Interviews teilen“, sagt sie.
Für Jlin birgt Dunkelheit Schönheit und Kraft. Damit fordert sie
nachdrücklich eine kulturhistorische Bewertung heraus, die die Farbe
Schwarz und Düsterkeit negativ versteht. Diese Annahme dient für
rassistische Ideologien zur Legitimation von Diskriminierung und Gewalt
Schwarzer Menschen durch Weiße. Auch gegen solche gesellschaftlichen
Ergebnisse der Wahrnehmung von Dunkelheit möchte Jlin angehen. Das liege in
ihrer Verantwortung als Nachfahrin von Menschen aus Afrika, erklärt sie.
Mit dem Verhältnis von Helligkeit und Dunkelheit spielt auch der britischen
Produzent Darren Cunningham alias Actress, wie er mit Blick auf die Musik
auf seinem vor kurzem erschienenen Album „AZD“ (sprich „Acid“) erklärt.
„Wenn ich nicht durch klangliche Gesten Licht in Teile der Dunkelheit
bringe, versuche ich es mithilfe von Struktur oder dem Narrativ der Tracks.
Das kann die Melodie sein, die so aufgebaut ist, dass sie auf Hoffnung
anspielt, was eine andere Form von Licht ist. Es kann tief begraben oder
näher an der Oberfläche sein, aber man wird das in allen Stücken finden,
die ich bis jetzt gemacht habe.“
Bei den Tracks auf „AZD“ arbeitet er mit stampfenden Beats zwischen HipHop,
House und Techno und lässt über eine dicke Rauschpatina gleißende
Synthesizer erklingen. Damit verweist die Musik mehr als ein Mal auf die
Tradition von Techno in Detroit. In der futuristischen Maschinenmusik
trifft Licht auf Metall, wird gebrochen reflektiert und verschwindet wieder
im Dunkel.
## Die Grenze zwischen Mensch und Cyborg löst sich auf
Auf dem Cover von Actress’ Album berühren sich zwei Hände, eine aus Fleisch
und Blut, die andere verchromt. In der Spiegelung verschmelzen sie, die
Grenze zwischen Mensch und Cyborg löst sich auf. Das Humanistische begegnet
dem Posthumanen – zwei Tendenzen, in die sich für Kodwo Eshun Ende der
1990er die „Futurhythmaschine“ bewegte. Damals stellte er klar, dass
„humanistischer“ Rhythm & Blues nicht einfach als Gegensatz zu
„posthumanem“ Techno betrachtet werden kann.
Heute geben sich bei Actress die beiden Aspekte die Hand. Groovende,
atmende Beats treffen auf schillernde Flächen und präzise antreibende
Kickdrums im 4/4-Takt. Einer Auffassung von Rhythmus als rein maschinelle
Information, die aus klar bestimmten Entweder-oder-Eingaben besteht,
widerspricht die Undeutlichkeit als bevorzugte Ausdrucksform von Actress.
Der Produzent lässt sich trotz Verweisen auf Detroit Techno, Rap oder
Ambient mit seiner von ihm selbst als „R&B Concrète“ getauften Musik, die
er seit 2008 auf bis jetzt sechs Alben präsentiert hat, nicht auf ein Genre
festlegen.
Dazu kommt der gedrungene, fragmentarische Stil. Auf „AZD“ tummeln sich wie
in älteren Arbeiten in rauschig-verqualmten Geräuschnebeln absaufende
Beatkonstruktionen. Auf ihnen balancieren wankende Melodien, die immer
wieder von vibrierenden Bässen ins Taumeln gebracht werden.
Nicht nur die Beats, sondern die einzelnen Spuren eines Tracks
zusammengenommen, formen für Actress als Einheit den Rhythmus. „Ich
versuche zu zeigen, dass Rhythmen eingefroren werden, sobald sie
aufgenommen wurden“, führt er aus. „Der eigentliche Prozess ist also die
rhythmische Geste.“ In der Momentaufnahme dieser Geste, die sich aus
verschiedenen Aktionen ergibt, erkennt der Produzent eine „nebelhafte
rhythmische Qualität.“ So gleißend scharf Chrom glänzt, so unscharf sind
die Konstrukte, die Actress damit überzieht. Im Zentrum des Rauschens und
Pochens, Flirrens und Schlingerns steht Menschlichkeit.
Wo Jlin mit Hyperrhythmen die Wahrnehmung von Musik auf den gesamten Körper
ausdehnt, erforscht Actress die Verbindung von Mensch und Maschine. Diese
Experimente erzeugen Emotionalität, die nicht schwarz oder weiß ist. Im
Rauch verschwimmen Dunkelheit und Licht, werden vorausgesetzte Bewertungen
in Frage gestellt.
5 May 2017
## AUTOREN
Philipp Weichenrieder
## TAGS
Techno
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