| # taz.de -- Alben von Moor Mother und Loraine James: Tanzen und Stolpern gegen … | |
| > Moor Mother macht Protestmusik, ohne Slogans wiederzukäuen. Die Musik von | |
| > Loraine James verspricht eine bessere Gegenwart. | |
| Bild: Moor Mother | |
| No more master clock!“ – „Nie wieder nach der Uhr der Herren!“ Irgendwa… | |
| inmitten einer Lärmkaskade auf ihrem neuen Album „Black Encyclopedia of the | |
| Air“ schreit die US-amerikanische Dichterin und Musikerin Moor Mother, | |
| bürgerlich Camae Defstar, diesen Slogan ins Mikrofon. Es ist die ultimative | |
| Ermächtigungsgeste. Kontrolle über die Zeit zu besitzen, das ist eine | |
| klassische Forderung emanzipatorischer Bewegungen. | |
| Die Revolutionäre der Pariser Commune schossen 1871 angeblich auf die | |
| Turmuhren, ein Jahrhundert später traten die überwiegend Schwarzen | |
| Ford-Arbeiter:innen in Lordstown im US-Bundesstaat Ohio in den Streik wegen | |
| der Taktung des Fließbands. | |
| Für [1][Moor Mother, die ihr Alter nicht nennt,] ist der Kampf um die Zeit | |
| der Mittelpunkt eines philosophischen Programms. „Black Quantum Futurism“ | |
| nennt Moor Mother diese Philosophie, die sie gemeinsam mit ihrer Partnerin, | |
| der Community-Anwältin Rasheedah Phillips, entwickelt hat. Unter Rückgriff | |
| auf Quantenphysik und afrikanischen Mythen und Philosophien über Zeit | |
| formulieren die beiden die Theorie eines „Black Quantum Futurism Creative“. | |
| Anstelle das Objekt einer linearen Zeit zu sein, die messbar und befristet | |
| ist, wird sie oder er zum Subjekt einer zyklischen Zeit, in der die | |
| Kategorien von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufgehoben sind. | |
| ## Schleppende Beats | |
| Aber „Master Clock“ hat noch eine zweite Bedeutung. Der Titel spielt auch | |
| den unerbittlichen Tempomat eines elektronischen Aufnahmestudios an, nach | |
| dessen Geschwindigkeit sich der Rest der Musikinstrumente zu richten hat. | |
| Moor Mother umgeht dessen Takt, indem sie und ihre unzähligen | |
| Mitmusiker:innen sich immer wieder der kollektiven Improvisation | |
| hingeben. | |
| „My purpose, my collective work“, singt sie auf „Shekere“, während im | |
| Hintergrund eine improvisierte Violine gegen den Takt eines schleppenden | |
| HipHop-Beats läuft. | |
| Auf „Encyclopedia of the Air“ wird ein knappes Jahrhundert Schwarzer | |
| Musikgeschichte in einer Art Zeitfalte komprimiert. Die deepen R&B-Beats | |
| der Soulquarian-Ära treffen auf die zerhackten Drumpatterns von Jungle, und | |
| all das wird versöhnt durch Flöten und Vibrafone als Signaturinstrumente | |
| des Spiritual Jazz. | |
| Mittendrin beschwört Moor Mother immer wieder „Ancestors“, die Vorfahren: | |
| Musiker:innen wie Sun Ra, der nach Stationen in Chicago und New York ab | |
| den 1970ern in ihrer Heimatstadt Philadelphia eine lange Tradition | |
| improvisierter Musik begründet hat; aber auch die eigene Familie. | |
| ## Südstaaten-Soul | |
| Ihr verstorbener Vater hat der Künstlerin die frühesten Erinnerungen an | |
| Musik mitgegeben; Erinnerungen an den Südstaaten-Soulsänger Sam Cooke, der | |
| den Rassismus der 1960er Jahre in den hoffnungsvollsten Protestsong der | |
| Bürgerrechtsbewegung überführte: „A change is gonna come.“ | |
| Denn auch Moor Mother macht Protestmusik, aber keine, die sich im | |
| Wiederkäuen von Slogans erschöpft. Mit ihrer Musik wolle sie Schwarze | |
| Traumata durcharbeiten, ohne sich vom Gewicht der eigenen Leidensgeschichte | |
| niederringen zu lassen, hat sie in einem Interview zu „Black Encyclopedia | |
| of the Air“ erzählt. | |
| Auf ihrem Stück „Race Function Limited“ schildern Moor Mother und der | |
| britische Rapper Brother May all die Zumutungen, denen Schwarze aufgrund | |
| ihrer Hautfarbe ausgesetzt sind. | |
| In diesem düsteren Songtext werden Schwarze als Kanonenfutter im Irakkrieg | |
| verheizt, wohnen in heruntergekommenen Sozialwohnungen und werden durch | |
| willkürliche Polizeikontrollen schikaniert. Moor Mother kontrastieren | |
| Alltagserfahrungen von Rassismus mit Ermächtigungsgesten des Schwarzen | |
| Dancefloors: den präzise gesetzten Stolperkickdrums von Footwork und einem | |
| Sample von „The Ha Dance“, einem House-Klassiker der queeren Ballroomszene | |
| New Yorks. Es sind historische Momente von Trost, in denen aufscheint, was | |
| möglich sein könnte. | |
| ## Interkulturelle Realität | |
| Wo Moor Mother mit ihrer Musik die Grenzen der Zeitwahrnehmung zu | |
| transzendieren versucht, rennt die britische Künstlerin Loraine James mit | |
| ihrem Album „Reflection“ gegen diese Grenzen an. Die Elektronik-Produzentin | |
| lebt in London, wo die Sehnsucht nach einer Fantasieversion der imperialen | |
| Vergangenheit die ernsthafte Beschäftigung mit der Gegenwart längst | |
| verdrängt hat. | |
| Die Diskussionen um die Statuen von ehemaligen Sklavenbesitzern im | |
| öffentlichen Raum, die Strohmann-Debatten um „Critical Race Theory“ im | |
| britischen Unterhaus – sie alle sind Ausdruck einer „postkolonialen | |
| Melancholie“ (Paul Gilroy), die den Blick auf die interkulturelle Realität | |
| verstellt. | |
| [2][Loraine James reagiert darauf mit] sehnsuchtsvollen Pianoakkorden. | |
| Immer wieder umtänzeln sie auf ihrem Track „We’re building something new“ | |
| einen digitalen Beat, der mit Tempiwechseln immer wieder dem | |
| offensichtlichen Groove ausweicht: „Tear down the statues“ rappt Iceboy | |
| Violet dazu in einer leicht androgynen Tonlage, bevor er beklagt, seine, | |
| die Schwarze Geschichte Großbritanniens, nicht in der Schule gelernt zu | |
| haben. | |
| ## Die einfachen Dinge | |
| Sie habe zuletzt viel Frustration über den Zustand der britischen | |
| Gesellschaft verspürt, hat Loraine James diesen Sommer in einem Interview | |
| erklärt. „Simple things“ – einfache Dinge – hat sie einen Track genann… | |
| der als Reaktion auf die Tötung von George Floyd entstanden ist. | |
| Einfache Dinge sind für James: die Straße heruntergehen, ohne von der | |
| Polizei kontrolliert zu werden, weil man Schwarz ist. Denn die britische | |
| Gegenwartsvermeidung führt immer wieder dazu, dass Komplexität von | |
| Identität brutal auf körperliche Merkmale reduziert wird. | |
| Die Musik von Loraine James verspricht eine bessere Gegenwart: Eine, in der | |
| es möglich ist, als queere Schwarze Frau eine Vorliebe für weiße Nerdmusik | |
| wie Ambient und Emo zu pflegen. Dies zeigt sich in jedem ihrer | |
| verfrickelten Beats, deren Swing sich immer dann ausbildet, wenn sie sich | |
| nicht wiederholen. | |
| Und sie zeigt sich in den Songtexten von Loraine James, die immer wieder | |
| das Gefühl des Nicht-Identischen beschreiben: von den Selbstzweifeln an den | |
| eigenen Fähigkeiten bis zum Eingeständnis der Charaktereigenschaften, die | |
| man an sich selbst nicht mag. Tanzen kann man zu „Reflection“ nur etwas | |
| holprig. Mit der Musik über den bedauernswerten Zustand der britische | |
| Gegenwart nachdenken aber umso besser. | |
| 19 Sep 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Christian Werthschulte | |
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