Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- 50 Jahre Art Ensemble of Chicago: Zukunft, aus Vergangenheit gebaut
> Das Art Ensemble of Chicago verbindet Alte und Neue, klassische und
> populäre, schwarze und weiße Musik. Zum 50. Jubiläum gibt es ein neues
> Album.
Bild: Das Art Ensemble of Chicago im Garten; Roscoe Mitchell trägt gelbe Krawa…
Haus der Berliner Festspiele, [1][ein Abend während des Jazzfests 2018]:
Auf der Bühne steht Moor Mother, eine afroamerikanische Musikerin, in
Schwarz gekleidet, lange, zurückgebundene Dreadlocks, die Augen geschlossen
beim Singen. Mit sonorer Stimme trägt sie Verse vor, rappt wie eine
Beatnik-Dichterin: „We are on the edge of victory / After all that dope and
dancing and drunkenness […] We are on the edge of victory and the choir is
singing in the background: Yeah!“ Stakkato-Geigen ertönen, man hört das
Trippeln von Trommeln, das Spotzen eines Saxofons.
Es ist das Art Ensemble of Chicago, in dessen Mitte Moor Mother ihre Kreise
zieht; die Künstlerin aus Philadelphia, die in der Popszene für ihren
düster-brodelden, experimentellen Sound geschätzt wird, ist Gastmusikerin.
Flankiert wird sie von zwei Grandseigneurs der Gründergeneration des
MusikerInnen-Kollektivs, von Roscoe Mitchell und Famoudou Don Moye.
In diesem Jahr feiert das Art Ensemble of Chicago sein 50-jähriges
Bestehen. Und ebenjenes „We are on the Edge“ – „Wir sind am Rande“ od…
„Wir stehen am Abgrund“ könnte man es gleichermaßen übersetzen – gibt …
vor einiger Zeit erschienenen Jubiläumsalbum seinen Titel. Es ist mehr als
zwei Stunden Musik lang – langweilig aber ist es keinen Augenblick, denn
prallvolle Musikgeschichte wird in diesen zwei Stunden lebendig: Free Jazz,
klassische europäische Avantgarde, Oper, Karibik-Sounds und Afrobeat.
Seit mehr als zehn Jahren hatte das Art Ensemble kein eigenständiges
Studioalbum mehr veröffentlicht, nun dieses Mammutwerk, das man als
vorläufiges Vermächtnis der ersten Art-Ensemble-Generation verstehen kann.
Abgesehen vom Sun Ra Arkestra gibt es keine andere Formation, die
einerseits so sehr an der Aufhebung musikalischer Formen gearbeitet und
andererseits so sehr schwarze Musiktraditionen („Great Black Music“) in
andere Kontexte überführt hat. Und die sich dessen bewusst war, dass
Erneuerung nur aus und mit dem Alten (und den Alten!) entstehen kann.
Die Kontinuität dieses Ansatzes betont Roscoe Mitchell, das letzte lebende
Mitglied der Urbesetzung, im Telefongespräch. „Ein Motto des Art Ensembles
lautete damals: ‚Ancient to the Future.‘ Das passt auch heute noch. Denn so
gehen wir stets an unsere Musik heran: Wir beginnen mit Altbekanntem, und
von dort aus betreten wir Orte, die wir noch nicht kennen.“ Der 79-jährige
Saxofonist, Klarinettist und Perkussionist hat seine Mitstreiter –
Trompeter Lester Bowie (1941–1999), Kontrabassist Malachi Favors
(1937–2004) und Saxofonist Joseph Jarman (1937–2019) überlebt.
## „Neue Sachen lernen“
Bis vor Kurzem lehrte Mitchell Komposition am kalifornischen Mills College,
nun ist er emeritiert. Zur Ruhe setzen will er sich nicht. „Ich bin mehr
als je zuvor in meinem Leben daran interessiert, neue Sachen zu lernen. Ich
bräuchte viel mehr als bloß ein Leben, um all das über Musik zu lernen, was
ich gerne lernen würde“, sagt er.
Diese Haltung zur Musik und zum Leben hat ihn auch die Association for the
Advancement of Creative Musicians (AACM) gelehrt. Das
Improvisationskollektiv gründete sich im Chicago der Sechziger als –
schwarzes – Pendant zu den Ensembles der Freien Musik in Europa, wo sich in
den Sechzigern Kollektive um Labels wie Free Music Production (Berlin)
bildeten. Das Art Ensemble war und ist so etwas wie die Hausband des AACM.
Dessen Karriere nimmt aber nicht in Chicago Fahrt auf, sondern in Paris.
Dorthin verschlägt es das Quartett 1969, weil sie in Frankreich leichter an
Live-Engagements kommen. Es soll eine intensive Schaffensperiode werden, 15
Alben entstehen innerhalb von zwei Jahren. Seinerzeit spielen sie Songs wie
„A Brain for the Seine“ und Alben wie „Message to Our Folks“ (1969) und…
Jackson in Your House“ (1969) ein – Letzteres zeigt am Eindrucksvollsten,
wie Mitchell & Co. Stereotypen der schwarzen, „wilden“ Musik mit Scatgesang
und Performanceelementen konterkarieren.
## Ein Sammelsurium aus Percussion-Spielzeugen
Live stehen sie für großes Spektakel, tragen Gesichtsbemalung und Gewänder,
die Bühne ist ein Sammelsurium aus Percussion-Spielzeugen. „Nach dem Art
Ensemble sollten experimentelle Musik und Jazz nie wieder dasselbe sein“,
schreibt Paul Steinbeck, Autor der Bandbiografie „Message to Our Folks“
(University of Chicago Press, 2017) – zutreffend, weil das Art Ensemble ein
Nebeneinader der zuvor als Antagonismen wahrgenommenen Musikstile
ermöglichte: Alte und Neue Musik, schwarze und weiße Musik, klassische und
populäre Musik.
„Helden waren für mich Leute wie Jean Karakos“, erklärt Mitchell der taz.
Karakos, Betreiber des französischen Labels BYG, initiiert 1969 das
Festival Actuel in Belgien. „Da spielten John Cage, Frank Zappa und das Art
Ensemble auf ein und derselben Bühne“, erinnert sich Mitchell – für ihn w…
die Begegnung mit Karakos ähnlich fruchtbar wie das Zusammentreffen mit
Jazz-Erneuerer Albert Ayler Jahre zuvor in Berlin (zwischen 1958 und 1961
war Mitchell beim Militär in Heidelberg stationiert). Auch das Werk anderer
Freejazzer wie Ornette Coleman und Eric Dolphy erlebte er als Befreiung:
„Plötzlich ergab alles Sinn!“, sagt er.
Der freigeistige Spirit ist es, der das Art Ensemble heute für junge
Künstler wieder attraktiv macht. Für die Cellistin Tomeka Reid etwa, die
als Gast auf „We are on the Edge“ mitgewirkt hat. Die 42-Jährige spielte in
ihrer Heimatstadt Washington zunächst in Orchestern, kam dann mit ihrem
klassischen Musik-Background Ende der Neunziger nach Chicago. „Beim AACM
habe ich unter anderem gelernt, dass es okay ist, Fehler zu machen. Ich
habe das Komponieren in Echtzeit gelernt. Und das AACM gab mir den Raum,
mich künstlerisch zu entfalten, zu wachsen“, erklärt sie im
Telefongespräch.
## „Individuelle und kollektive Erfahrungen“
Was Improvisieren ihr bedeutet? „Du kannst all die unterschiedlichen
Erfahrungen deines Lebens in diese Musik einbringen. Individuelle und
kollektive Erfahrungen werden im Prozess des Improvisierens eins. Das Art
Ensemble steht für den Gedanken, in der Gruppe du selbst sein zu können,
ohne dich verstellen zu müssen.“
Auf „We are on the Edge“ sind all diese Qualitäten zu hören – Dialoge,
Call-and-response-Techniken, der tastende, essayistische Ansatz der Musik.
Neben den Studioaufnahmen, die in Ann Arbor im Oktober 2018 eingespielt
wurden, sind sieben Liveversionen enthalten, die ebenfalls in Ann Arbor
beim Edgefest 2018 eingespielt wurden. Bei diesen Stücken sind insbesondere
die Improv-Parts – zum Beispiel die Drums, Congas und Djembés von Don Moye
oder die frickligen Kontrabass-Passagen von Jaribu Shahid, Junius Paul und
Dudù Kouaté – beeindruckend, bei manchen Songs handelt es sich um
Variationen der Studio-Stücke.
Insgesamt überzeugt „We are on the Edge“ mit seinen überraschenden
Wendungen und Einschnitten, im Titelstück hört man etwa zunächst einen
groovenden Kontrabass, der auch Soundtrack-Großmeister Henry Mancini
gefallen hätte, ehe Moor Mother mit ihrem spröden Sprechgesang übernimmt.
Daneben ragen die Stücke heraus, bei denen der junge puertoricanische
Opernsänger Rodolfo Cordova-Lebron den Gesangspart übernimmt – urplötzlich
bekommt die Musik mehr Leichtigkeit, nimmt einen Vaudeville-Schlenker.
Und mit Stücken wie dem polyrhythmisch flackernden, perkussionslastigen
Stück „Chi-Congo 50“ nimmt man verdientermaßen Bezug auf die eigene
Geschichte – „Chi-Congo“ hieß ein früheres Album des Art Ensembles. Mit…
are on the Edge“ scheinen sie nun den Staffelstab an die nächste Generation
weiterzugeben – was beeindruckend gut gelingt.
6 Dec 2019
## LINKS
[1] /Jazzfest-in-Berlin/!5545121
## AUTOREN
Jens Uthoff
## TAGS
Neues Album
Jazz
Album
Kollektiv
Free Jazz
elektronische Musik
Oper
Popmusik
Jazzfest Berlin
Musikfestival
Jazzfest Berlin
Transgender
## ARTIKEL ZUM THEMA
US-Jazz-Trompeter Wadada Leo Smith: Eine Rastarepublik der Improvisation
Dritter im Bunde der zweiten Freejazzgeneration: Beim Festival „MaerzMusik“
in Berlin kommen Werke des US-Trompeters Wadada Leo Smith zur Aufführung.
Musiker Baaba Maal über Gewalt in Afrika: „Nicht fatalistisch sein“
Der senegalesische Musiker Baaba Maal über seine Rolle als UN-Botschafter
gegen Wüstenbildung, Musik für „Black Panther“ und den Weg zum Sample.
George Lewis bei den Wiener Festwochen: Drei Toms und eine Messermoritat
E-Musik-Dekolonisierung. Zur Uraufführung von „Song of the Shank“, der Oper
des US-Komponisten George E. Lewis, bei den Wiener Festwochen.
Alben von Moor Mother und Loraine James: Tanzen und Stolpern gegen die Uhr
Moor Mother macht Protestmusik, ohne Slogans wiederzukäuen. Die Musik von
Loraine James verspricht eine bessere Gegenwart.
Beginn des Jazzfest Berlin: Die Jazzpilze sprießen wieder
Am Donnerstag startet das Jazzfest Berlin. Im Fokus der Ausgabe 2019 steht
die Verknüpfung von Akteuren der freien Szene mit internationalen Stars.
Musik-Festival „Le Guess Who?“: An der geloopten Tuba
Gehaucht, beseelt, frei, improvisiert, harsch – für den Sound bei „Le Guess
Who?“ im niederländischen Utrecht gibt es viele gute Bechreibungen.
Jazzfest in Berlin: Diskurs üben wir noch
Das Berliner Jazzfest unter der Leitung von Nadin Deventer ging zu Ende.
Besonders eine Komposition und der britische Nachwuchs überzeugten.
Festivalempfehlung für Berlin: Geschlecht und Maschine
Das interdisziplinäre DICE-Festival rückt Frauen, nicht-binäre und trans
Künstler*innen in den Fokus. An verschiedensten Orten in Neukölln.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.