# taz.de -- US-Jazz-Trompeter Wadada Leo Smith: Eine Rastarepublik der Improvis… | |
> Dritter im Bunde der zweiten Freejazzgeneration: Beim Festival | |
> „MaerzMusik“ in Berlin kommen Werke des US-Trompeters Wadada Leo Smith | |
> zur Aufführung. | |
Bild: Wadada Leo Smith mit seinem Signaturinstrument | |
Während die erste, um die Jahrzehntwende 1950er/60er bekannt gewordene | |
Free-Jazz-Generation (u.a. John Coltrane, Albert Ayler, Archie Shepp, Don | |
Cherry, [1][Sun Ra] oder [2][Pharoah Sanders]) mit Ausnahme von Cecil | |
Taylor und Ornette Coleman eher Revolutionäre, Mystiker und Visionäre | |
hervorbrachte, gab es in der zweiten, die Ende der 1960er auf sich | |
aufmerksam machte, eine ganze Reihe Intellektueller. Diese haben sich von | |
Anfang an auch an der akademischen Musikwelt kritisch abgearbeitet und sich | |
nicht darauf beschränken wollen, als Instrumentalisten und Performer aktiv | |
zu sein. | |
Man beanspruchte nun auch den Bereich der Komposition und der Partitur für | |
sich, entwickelte musikalische Systeme und eigene Notationsformen und | |
beschäftigte sich mit Musiktheorie und Geschichtsschreibung. | |
Nach Anthony Braxton (etwa 2019 mit dem, den ganzen Berliner Gropius Bau | |
bespielenden Riesenwerk „Sonic Genome“ beim Jazzfest) und George Lewis | |
(Mitglied der Akademie der Künste, Berlin, oft in der Stadt und zum | |
Beispiel 2021 auch als Kurator zum Thema Afrodiaspora beim Festival | |
„MaerzMusik“ präsent), die in den letzten Jahren große Werke in Berlin | |
aufführten, wird nun auch der dritte große Intellektuelle dieser zweiten | |
Free-Jazz-Generation in der Stadt mit der Aufführung zweier Stücke aus | |
diesem Jahr bei der „MaerzMusik“ als Komponist geehrt: Wadada Leo Smith. | |
## Entscheidende Impulse aus Chicago | |
Allen dreien ist gemeinsam, dass sie das eingangs erwähnte Label („Free | |
Jazz“) schon lange hinter sich gelassen haben. [3][Dass sie entscheidende | |
erste Anstöße aus der Szene in Chicago rund um das Art-Ensemble bekommen | |
haben] (sie sind alle Mitglieder der dort 1965 gegründeten AACM, | |
Association for the Advancement of Creative Musicians – Lewis hat auch eine | |
sehr lesenswerte Geschichte der Organisation geschrieben: „A Power Stronger | |
Than Itself: The AACM and American Experimental Music“ (University of | |
Chicago Press, 2008)). | |
Selbstorganisation war ihnen stets wichtiger als Verträge mit der | |
Musikindustrie. Und obwohl alle herausragende Instrumentalisten, war ihnen | |
allen wichtig, dass sie sich eben nicht nur als Saxophonisten (Braxton), | |
Posaunisten (Lewis) oder Trompeter (Smith) betätigen, sondern auch als | |
musikalische public intellectuals. | |
Genau wie Braxton hat auch Smith seine eigene Notationsmethode entwickelt, | |
die er schon früh zum Einsatz gebracht hat. Das „Ankhrasmation“ getaufte | |
System bezieht sich auf das altägyptische Wort/Zeichen für Leben (Ankh), | |
den äthiopischen „Anführer“ (Ras) und die globale Mutter (Ma). | |
## Ein multiafrozentrischer Ansatz | |
Dieser, wenn man so will, multiafrozentrische Ansatz, also ein sich auf | |
verschiedene afrikanische Kulturen und Traditionen beziehendes Verständnis, | |
prägt viele seiner Titel und Inhalte, hindert ihn aber nicht, Kulturen und | |
vor allem Musiker_innen aus aller Welt einzubeziehen: [4][darunter etwa | |
auch DDR-Free-Jazz-Größe Günther „Baby“ Sommer] oder Elton Dean von Soft | |
Machine, die großen Alten aus Chicago wie Malachi Favors, Leroy Jenkins | |
oder Roscoe Mitchell und immer wieder Marion Brown, Andrew Cyrille, Anthony | |
Davis, Braxton, aber auch Vijay Iyer und Peter Kowald aus Wuppertal. | |
Mittlerweile ist seine Hauptband, The Golden Quartet, komplett verjüngt | |
worden, aber persönlich wird der 83-Jährige bei der „MaerzMusik“ gar nicht | |
anwesend sein. Seine grafischen Notationen unterscheiden sich stark von | |
etwa Braxtons, bei dem Ziffern, Wege, Vektoren die entscheidende Rolle | |
spielen. | |
Bei Smith sind dagegen Farbigkeit und fast bildkompositorisch zu | |
verstehende, mit der Fläche arbeitende Konstellationen wichtig. | |
Andererseits besteht er darauf, dass es sich eher um eine Sprache bzw. | |
Schrift („language signs“) handelt als um „Graphik“. Überhaupt ist es … | |
nur Smith selbst, sondern auch die verblüffende, hörbare Kontinuität seiner | |
ästhetischen Absichten, die den bei seiner Musik besonders viel | |
diskutierten Unterschied zwischen „improvisierten“ und „interpretierten“ | |
Stücken schrumpfen lässt. | |
## Frühes Meisterwerk „The Bell“ | |
Der Kunstkurator und Jazzautor Hamza Walker hat sich lange mit Smith' | |
frühem Meisterwerk „The Bell“ beschäftigt, das 1968 mit Muhal Richard | |
Abrams, Leroy Jenkins und Anthony Braxton auf Braxtons „3 Compositions of | |
New Jazz“ erscheint. Danach hörte er sich die Streichquartette an, die | |
Smith viel später komponiert hat, und ihm fiel auf: „The Bell“ ist – | |
strukturell – genau ein solches Streichquartett. | |
Aber „The Bell“ korrespondiert in seinem Interesse an den nichtlinearen, | |
Bögen und Rundungen beschreibenden Klangbewegungen und abrupt auftauchenden | |
Klangfarben auch mit dem brandneuen, bei „MaerzMusik“ im Programm | |
stehenden, für westafrikanische, amerikanisch indigene und tibetische | |
Percussion komponierten „The Celebration of Unity with the Indigenous | |
People’s Nations Across the USA“. | |
Glocken blieben also auch ein Thema in den letzten fast sechs Jahrzehnten. | |
Aber auch die entspannt entschiedene Organisation der Musik, nicht | |
unbedingt ein Markenzeichen seiner damaligen Mitstreiter, teilt frappante | |
Ähnlichkeiten mit seiner anderen neuen Arbeit, die nun bei „MaerzMusik“ | |
aufgeführt wird: „The Flight of the Eagle: The Sonic Memorial of Jiddu | |
Krishnamurti“ für 8 Trompeten und 4 Bassdrums (2024). Dass Trompeten | |
einerseits gerne Flächen definieren, andererseits besonders geeignet sind, | |
mit ihrem klanglich Anderen – zu Hektik neigenden Klangquellen: Drums, | |
Electronica, E-Gitarren – zu interagieren. | |
## Artistic Research | |
Soll ich Leuten, die nicht von der bildenden Kunst kommen, erklären, was es | |
mit dem vor allem an Kunstunis seit einigen Jahrzehnten umkämpften Begriff | |
der künstlerischen Forschung, des artistic research auf sich hat, liefert | |
mir Wadada Leo Smith immer ein sehr gutes Beispiel für den Nutzen solcher | |
Forschung. | |
1998 nahm er gemeinsam mit dem auch sonst stark an historischen | |
Rekonstruktionen (dem musikalischen Äquivalent dessen, was in Kunst und | |
Performance „Reenactment“ heißt) interessierten Gitarristen Henry Kaiser | |
ein Doppelalbum mit dem Titel „Yo! Miles“ auf. In relativ großer Besetzung | |
rekonstruierten die beiden die elektrische Phase von Miles Davis. Viele der | |
Aufnahmen aus dieser Zeit enthielten ja vom Produzent Teo Macero aus Live- | |
und Studio-Aufnahmen vorgenommene, oft abrupte Schnitte. | |
Manchmal war zwischen komponiert-konstruierten, akut-improvisierenden und | |
skulptural-gedacht collagierten Teilen nicht zu unterscheiden. Die | |
spielende Rekonstruktion bringt die musizierenden Körper zurück und | |
verschafft Musiker_innen wie Zuhörer_innen die Möglichkeit, sich auch | |
erneut in den Status der Entscheidungen, die dem Original zugrunde lagen, | |
gegebenenfalls anders einzufühlen: Vom körperlichen Nachspielen aus lässt | |
sich die Natur des Macero-Schnitts besser im Verhältnis zu den anderen | |
kompositorischen Maßnahmen von Miles Davis verstehen und einstufen. | |
## Wie Schnitte an Teo Maceros Mischpult | |
Auch hier ist eine merkwürdige Dialektik zwischen Komposition und | |
Improvisation am Werk, wie sie für Wadada Leo Smith von Anfang an | |
entscheidend war. Denn die Schnitte, die Teo Macero macht, sind weder das | |
eine noch das andere. Aber eben doch entscheidende strukturelle Eingriffe. | |
Und genau dieser Punkt ist auch für Smith so wichtig: Es ist egal, in | |
welcher Musiktradition wir diese Eingriffe vornehmen, aber es ist wichtig, | |
dass sie eine Verbindlichkeit bekommen (nicht unbedingt, dass sie als | |
Vorschriften daherkommen). | |
Die Untersuchung von Miles Davis war aber nur eine winzige Facette der | |
zahllosen und stilistisch diversen Projekte von Smith, der eben schon seit | |
den mittleren 1970ern auch an Hochschulen lehrt, zuletzt ein Fach, das sich | |
„African American Musical Improvisation“ nennt, an der Cal Arts. | |
Improvisation ist laut Smith eher eine Art in der Welt zu sein, als eine | |
Art zu spielen. In den Liner Notes zu dem alten Album mit Anthony Braxton, | |
auf dem „The Bell“ zur Aufführung kommt, bekennen sich alle Musiker zu | |
diesem neuen in-der-Welt-Sein, einem Modus, der für sie historisch nach dem | |
„kompletten Zerfall westlicher Werte spielt“ (Braxton). | |
Das Mittel der Überwindung: das Kollektiv, die Gruppe. 47 Jahre später, bei | |
einem Podium, das über 50 Jahre AACM diskutiert, ergänzt Smith: Ja, klar, | |
das Kollektiv. Aber es muss ein Kollektiv sein, das sich keinen Verlust | |
einer der beteiligten Individuen leisten kann. Er spitzt diesen Gedanken | |
bei einer Ausstellung seiner Scores in Chicago auf die Forderung zu, dass | |
das „letztlich die Art und Weise sei, wie unsere Republik funktionieren | |
müsse, auch wenn sie das noch nie erreicht hat.“ | |
Auf seiner Webseite fordert er Waffenstillstand überall: Ukraine, Gaza, | |
West Bank, Sudan, Kongo und Myanmar. Welche Republik er meint, ist nicht | |
ganz klar, aber die Redeweise – „our republic“ – lässt auf die USA | |
schließen (von 2015 aus gesehen). | |
Zugleich schreibt er Hommagen an den schrägen indischen Weisen Krishnamurti | |
und bekennt sich zum Rastafarianismus und hat damals für seinen | |
Band-cum-Workshop Creative Construction Company mit all den Weggefährten | |
der ersten Jahre, den Begriff der Kreativität in den Ring geworfen: Nicht | |
gerade eine unabgewetzte Begriffshülle, mit der er aber mehr und anderes | |
verbindet als der neoliberale Jargon. Zuletzt hat Smith aber darüber wieder | |
versucht, die Integration zu beschreiben, die seine Musik anstrebt: | |
Republik, Esoterik, Repatriation? Eine sehr großzügig entspannte Musik, die | |
sich auch große kognitive Dissonanzen erlaubt – und so klingen soll, dass | |
wir das Gefühl haben, nicht auf eine davon verzichten zu können. | |
27 Mar 2025 | |
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## AUTOREN | |
Diedrich Diederichsen | |
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