| # taz.de -- Musik-Symposium zu Vielfalt: Konzertbühne als Spiegel der Gesellsc… | |
| > Das Symposium „Afrodiaspora – Composing While Black“ im Berliner | |
| > Musikinstrumenten-Museum unterzog den Kanon der Klassik einer kritischen | |
| > Betrachtung. | |
| Bild: Der Komponist William L. Dawson ca. 1933 | |
| „Das Schlimmste, was einem afrodiasporischen Künstler passieren kann, ist | |
| Erfolg“, postulierte der Hamburger Musikwissenschaftler und Saxofonist | |
| Harald Kisiedu am Sonntagnachmittag im Berliner Musikinstrumenten-Museum | |
| beim Symposium „Afrodiaspora – Composing while Black“. | |
| Dessen Motto ist gleichlautend mit dem dramaturgischen Schwerpunkt des | |
| Deutschen Sinfonie Orchesters Berlin (DSO) zur Spielzeit 2025/26: „Musik | |
| Schwarzer Komponist:Innen aus vier Jahrhunderten und zahlreichen | |
| Ländern“ steht beim DSO in dieser Saison im Fokus. Das Publikum nimmt den | |
| thematischen Schwerpunkt an, wie es auf Nachfrage heißt. | |
| Erfolg hat seine Schattenseiten. Denn Kisiedus Bemerkung war als | |
| sarkastische Anspielung auf John Lewis gefallen. Der US-Musiker und | |
| Mastermind des Modern Jazz Quartet (MJQ) konzertierte bereits 1957 bei den | |
| Donaueschinger Tagen der Neuen Musik mit einer Fuge. Lewis’ Auftritt wurde | |
| damals zum großen Erfolg und stellte sogar die Uraufführung von „Agon“, | |
| eines Werkes von Igor Strawinski, in den Schatten. „König Jazz entthront | |
| König Zwölfton“, titelte die Bild. | |
| ## Epistemische Gewalt | |
| In den folgenden 15 Jahren traten keine schwarzen Komponist:Innen mehr | |
| bei den Donaueschinger Tagen der neuen Musik in Erscheinung. Nach der Fuge | |
| von John Lewis sucht man auch heute im Internet noch vergebens. | |
| Suchmaschinen wie Google und KI-Tools reagieren deshalb verwirrt. Kisiedu | |
| spricht dagegen von einer systematischen Verweigerung von Mobilität und von | |
| „epistemischer Gewalt“, die dem Komponisten angetan wurde. | |
| Warum muss ich die ganze Zeit an Friedrich Merz’ Sehnsucht nach deutschem | |
| Schwarzbrot in Angola denken? Und an den feuilletonistischen Aufschrei, als | |
| weiße Kritiker:Innen in FAZ und SZ vor wenigen Wochen partout nicht | |
| verstehen wollten, dass unkommentierte Fotos mit Black-Face-Darstellungen | |
| von „Othello“-Inszenierungen am Hamburger Schauspielhaus Menschen in | |
| Wallung bringen? | |
| Kanon und Konzertleben der klassischen Musik sind hierzulande nach wie vor | |
| eurozentristisch geprägt. Das heißt, schwarze Performer:Innen oder | |
| [1][Werke von schwarzen Komponist:Innen sind die Ausnahme] und nicht | |
| die Regel. Um die Sichtbarkeit zu verbessern, liefert der [2][Chicagoer | |
| Komponist und Musikwissenschaftler George E. Lewis] in seinem | |
| Keynote-Vortrag eine Bedienungsanleitung: „Acht schwierige Schritte zur | |
| Dekolonisierung der Neuen Musik“: Etwa Punkt eins, | |
| „Verwandtschaftsbeziehungen hinter sich lassen“, bei dem er über die | |
| „institutionalisierte Whiteness“ nachdenkt, die einseitige Ausrichtung auf | |
| die immer gleichen Werke. | |
| ## Vorbild Okwui Enwezor | |
| Bei Punkt sechs, „Kuratorische Entscheidungen internationalisieren“, | |
| wünscht er sich neue Gestaltungsmodelle, nicht von den üblichen | |
| verdächtigen Expert:Innen. Lewis verlangt von akademischen Musikprogrammen, | |
| dass sie auf allen Ebenen vielfältiger werden. [3][Als Vorbild nennt er den | |
| Kunst-Kurator Okwui Enwezor (1963-2019]) und dessen Programm für die | |
| documenta 11 in Kassel. | |
| Kurz erwähnt Lewis auch den Science-Fiction-Roman „Die Scherben der Erde“ | |
| (2021) des britischen Autors Adrian Tchaikovsky, in dem die Menschheit in | |
| einer nahen Zukunft der „Polyaspora“ umherflowt, ohne festes Zuhause, dafür | |
| mit vielen interkulturellen Anknüpfungspunkten. Das sei schon längst Praxis | |
| vieler E-Musik-Ensembles und liefere der zeitgenössischen Musik neues | |
| Bewusstsein, wie Lewis durchaus optimistisch bekundet. | |
| Die jüngere Vergangenheit sieht allerdings trüber aus, wie die in Zürich | |
| lehrende Komponistin Isabel Mundry anschaulich erklärt. Rassismus sei an | |
| Musikhochschulen allgegenwärtig. Sie sei aufgrund ihres Geschlechts | |
| diskriminiert worden: Komponistinnen seien in der Formensprache Komponisten | |
| unterlegen, wie ihr Professor behauptete. Mundry erwähnt, wie wichtig für | |
| sie Austausch mit Kolleg:Innen aus anderen Kulturkreisen ist. Bei einem | |
| Residenzprogramm traf sie auf den marokkanischen Komponisten M’barek | |
| Bouhchichi, von seinen Beobachtungen zu ihrer Arbeit zehre sie noch heute. | |
| Abends beim Konzert des DSO unter Leitung der ukrainisch-finnischen | |
| Dirigentin Dalia Stasevska stehen Werke von Maurice Ravel, vom | |
| US-Komponisten William L. Dawson (1899-1990) und der britischen Komponistin | |
| Anna Clyne (geboren 1980) in der Berliner Philharmonie auf dem Programm. | |
| Wie schon zur Uraufführung von Dawsons „Negro Folk Symphony“ 1934 in | |
| Philadelphia wird seinem Werk Ravels „Boléro“ zur Seite gestellt. Dawson | |
| durfte in den segregierten USA der 1920er nicht am Konservatorium | |
| studieren. Er traf damals auch auf Maurice Ravel, erhielt von ihm jedoch | |
| keine Anerkennung. Die wurde ihm am Sonntagabend zumindest retrospektiv in | |
| Berlin zuteil. | |
| 8 Dec 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Julian Weber | |
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