| # taz.de -- Musik-Festival „Le Guess Who?“: An der geloopten Tuba | |
| > Gehaucht, beseelt, frei, improvisiert, harsch – für den Sound bei „Le | |
| > Guess Who?“ im niederländischen Utrecht gibt es viele gute Bechreibungen. | |
| Bild: Musik zum Abheben | |
| Eine Stadt wie Utrecht in den Niederlanden mit den Augen von Lonnie Holley | |
| zu sehen, heißt, den Blick für das Ausrangierte, das achtlos Weggeworfene, | |
| die Details am Straßenrand zu schulen. Der 68-jährige Waste-Art-Künstler, | |
| Improvisationsmusiker und „Lover of Mother Universe“ aus Birmingham in den | |
| US-Südstaaten kommt mit einem ausrangierten Fahrradkorb voller | |
| vermeintlichem Müll zur Stadtführung am Rande des „Le Guess | |
| Who?“-Festivals. Die Wollmütze hat er falsch rum auf, für alle Teilnehmer | |
| des Streifzugs liegt ein Stück Draht zur kreativen Entfaltung bereit. | |
| „Can you dig it?“ Ob man sein Konzept des Zusammenspiels von Materialien, | |
| für den Gemeinsinn und die Idee eines Bewusstseins für den Wert der Dinge | |
| verstanden habe, ist Holleys Standardfrage in die Runde während er mit | |
| Luftpumpe und Fahrradschloss über Luft, Wasser und spirituelle Befreiung | |
| philosophiert. Mit einer ähnlichen Idee von Improvisation, mit der Holley | |
| aus Müll Collagen von fragiler Schönheit formt, spielt auch seine Musik. Am | |
| Abend zuvor hatte der Afroamerikaner das erste Konzert der zwölften Ausgabe | |
| des „Le Guess Who?“ im Großen Saal des labyrinthischen Tivoli Vredenburg, | |
| dem Hauptgebäude des Festivals, gegeben. | |
| Eine stilistisch kaum einzuordnende Musik zwischen Jazz, Blues und Soul mit | |
| gospelartigen Deklamationen über große Themen wie Vergänglichkeit und | |
| Spiritualität und ganz aktuell auch über die USA in Zeiten von Trump. | |
| Holley sitzt an seiner Orgel, die in eine Steppdecke mit dem | |
| Schwarz-weiß-Profil eines Gesichts gehüllt ist, das Timbre und der freie | |
| Fluss seines Gesangs sowie die lose Struktur seiner Songs erinnern an Van | |
| Morrisons Meisterwerk „Astral Weeks“. Dave Nelson an der geloopten Tuba und | |
| Schlagzeuger Matt Patton formen Holleys experimentelle Ideen zu ergreifend | |
| beseelten Songcollagen. Lonnie Holleys stilistisch freie, sowohl zurück als | |
| auch nach vorne blickende Musik steht exemplarisch für den Geist von „Le | |
| Guess Who?“ zwischen Musik, Kunst, Film und Wissenschaft. Es geht um | |
| interdisziplinären Austausch, an dessen Anfang immer die offene Frage | |
| steht, wie sie sich ja schon im Festivalnamen manifestiert. | |
| Die britische Band Seefeel hatte mit ihrem Album „Quique“ 1993 die Kluft | |
| zwischen experimenteller Rockmusik, Dub und Ambient-Techno geschlossen. | |
| Indierock-Fans hörten plötzlich elektronische Musik, Raver versöhnten sich | |
| nach dem ersten Techno-Hype mit der Gitarre. Nun führten Seefeel ihr Werk | |
| wieder auf: Auf dem Weg in den kleinen Raum „Cloud Nine“ unter dem Dach der | |
| Vredenburg fällt der Blick durch bodentiefe Fenster schwindelerregend über | |
| Utrecht City. Im Halbdunkel des Clubs geleiten Bass-Untiefen, ätherisch | |
| gehauchte Vocals, harrsche Gitarrenschleifen und verschwommene Visuals in | |
| eine Stimmung zwischen Erdung und Entrückung. | |
| ## Ein dunkler Kellerraum | |
| Der Club „Basis“ an einer Gracht unweit des Tivoli ist eine der vielen | |
| Satellitenorte, die vom Festival bespielt werden. Ein dunkler Kellerraum | |
| mit kargen Wänden, genau der richtige Ort für das Performance Art-Duo FAKA | |
| aus Südafrika, kuratiert übrigens von Moor Mother, neben Devendra Banhart | |
| und Shabaka Hutchings verantwortlich für das musikalische Programm. DJ und | |
| Produzent Fela Gucci sowie Sänger und Tänzer Desire Marea kämpfen | |
| sicherlich keinen einfachen Kampf für die schwarze Queer-Kultur in ihrem | |
| Land. In reichlich Bühnennebel gehüllt, singt und schreit der fast | |
| unverhüllte Marea zu brüchigen Beats und dunklem elektronischem Grollen. | |
| Eine gespenstische Performance, angelehnt an „gqom“, eine raue, | |
| minimalistische Version südafrikanischer House-Musik. | |
| Eine ganz andere Form der einnehmenden Entrückung beim Konzert der | |
| Folk-Ikone Vashti Bunyan. In der kontemplativen Atmosphäre der Utrechter | |
| Janskerk spielt die 73-jährige Britin Juwelen ihres Albums „Just Another | |
| Diamond Day“ und berichtet dabei ironisch lächelnd und mit sympathischer | |
| ideologischer Distanz aus einer Zeit, als sie mit Pferd durch die englische | |
| Provinz reiste und einen Liebhaber in jeder Stadt hatte. Eine Musik, hier | |
| präsentiert mit einem zweiten Gitarristen, die in ihrer verhuschten | |
| Zartheit eine Bewegung wie „New Weird America“ um Musiker wie Joanna Newsom | |
| oder eben Devendra Banhart entscheidend geprägt hat. | |
| Auch [1][Neneh Cherry ist eine starke weibliche Vertreterin der | |
| Transzendenz zwischen Popstartum und den Peripherien von Punkrock, | |
| Clubmusik und Jazz]. Ihr Auftritt in großer Formation im vollbesetzten | |
| Großen Saal der Vredenburg ist geprägt von perkussiver Wucht, charmantem | |
| Witz, und auch alte Hits wie „Manchild“ haben heute noch Relevanz. | |
| 12 Nov 2018 | |
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| ## AUTOREN | |
| York Schaefer | |
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