# taz.de -- Pop-Kultur-Festival in Berlin: Mitsing-Mantra gegen die Angst | |
> Trost stiften. Auch das kann Popkultur. Und ganz beiläufig | |
> gesellschaftlichen Dialog ermöglichen, jenseits von Fake News und | |
> sozialer Spaltung. | |
Bild: Steht für das Hier und Jetzt und die Musikgeschichte: Neneh Cherry am Do… | |
Welche Relevanz hat Popmusik dieser Tage eigentlich? Bietet sie überhaupt | |
noch Möglichkeiten, darüber zu reflektieren, wie man leben möchte? Oder ist | |
sie allenfalls noch ein sinnentkoppeltes Element im Lifestyle, den sich ein | |
jeder zurechtbastelt? | |
Eine Antwort auf diese Frage durfte man vergangene Woche von Mittwoch bis | |
Freitag in der Berliner Kulturbrauerei suchen. Hier fand mit „Pop-Kultur“ | |
das wohl „offiziellste“, sicher aber eines der diskursträchtigsten aller | |
hiesigen Musikfestivals statt. Veranstaltet wird dieser Nachfolger der | |
„Berlin Music Week“ vom Musicboard Berlin, einer bundesweit einzigartigen | |
Institution, die sich die Förderung von Popkultur auf die Fahnen | |
geschrieben hat. | |
Die Unterstützung mit öffentlichen Geldern bedeutet nicht zuletzt, dass | |
hier Freiräume eröffnet werden können, die andernorts durch | |
Kommerzialisierungsdruck am Verschwinden sind. Das ist dem inhaltlich | |
diversen Festival in seinem vierten Jahr auch gelungen. Neben Livekonzerten | |
gab es Filme, Performances, Ausstellungen, Talkrunden – in einer Dichte, | |
die bisweilen überforderte. | |
Besondere Programm-Highlights bildeten sogenannte Commissioned Works, | |
eigens für das Festival konzipierte Auftragsarbeiten. Auch hier war die | |
Palette breit: Die Hamburger Avantpop-Songwriterin Sophia Kennedy | |
inszenierte mit „Sky Blue Cowgirl“ eine Jugend in Kentucky. Die | |
Performance-Künstlerin Pan Daijing, sonst eher in experimentellen Kontexten | |
unterwegs, reflektierte in ihrer Arbeit, was Pop für sie überhaupt | |
bedeutet. | |
## Gut reflektierte schlechte Laune | |
Die Neuköllner Band Hope inszenierte derweil zusammen mit dem | |
Raumchoreografen Moritz Majce die Dunkelheit. In der Finsternis lauern | |
eben nicht nur Abgründe, sie kann auch ein wohliger Kokon sein. In einem | |
solchen wähnte sich offenbar auch das Publikum: In dem teils völlig | |
abgedunkelten Raum legt sich mancher gleich auf den Boden. Über den Raum | |
verteilt ließen die Musiker flächigen Post-Rock entstehen. Eine | |
eindrückliche Erfahrung, die unsere Wahrnehmung von Livemusik neu | |
kalibrierte. | |
In den vergangenen Jahren stand bisweilen der Vorwurf im Raum, das | |
Pop-Kultur-Festival sei ein Gemischtwarenladen mit einigen zugkräftigen, | |
aber von allem Berlinspezifischen abgekoppelten Headlinern. Diesmal | |
hingegen wurde die Frage, wo die hiesige Popkultur steht, vielstimmig | |
beantwortet. Unterschiedlichstes fand zugleich statt: alternativer HipHop | |
der Wiener Rapperin Ebru Düzgün aka Ebow, gut reflektierte schlechte Laune | |
der Stuttgarter Punkband Die Nerven oder unfolkloristische Folkore der | |
Elektronikkünstlerin Andrra. | |
Komplettiert wurde dieses flirrend-bunte Gegenwartskaleidoskop durch | |
Auftritte einiger Legenden: So erzählte der sympathische Irmin Schmidt, | |
Keyboarder der deutschen Avantgarde-Band Can, bei mehreren Gelegenheiten | |
aus seinem Leben. Und auch The Last Poets, New Yorker Pioniere des | |
Conscious-Raps, die unlängst im 50. Jahr ihres Bestehens das Album | |
„Understand What Black Is“ veröffentlichten, machten sich für ihren | |
Auftritt mit einem Talk warm. | |
Das 70-jährige Gründungsmitglied Abiodun Oyewole und seinen Mitstreiter | |
Umar Bin Hassan schien es, obwohl sie gerade aus einem Transatlantikflug | |
gepurzelt waren, nicht Richtung Bett zu ziehen. Die beiden überboten | |
einander zu mitternächtlicher Stunde in bester Rap-Tradition mit munteren | |
Schnurren („Wie ich einst den Ku-Klux-Klan beklaute und im Knast landete. | |
Und man mir dort nicht glaubte, dass ich ein Last Poet bin!“). | |
Perkussionist Baba Donn Babatunde lächelte derweil in sich rein und trank | |
fast eine Flasche Whiskey aus. Ihr Konzert am Donnerstagabend erwies dann | |
als eine zwiespältige Angelegenheit: einerseits berührend, nicht zuletzt | |
wegen der Gedenkminute für Aretha Franklin und das kürzlich verstorbene | |
Last-Poet-Mitglied Jalal Mansur Nuriddin. Andererseits wurde es durch die | |
Affinität der Band zu Verschwörungstheorien („Aids ist eine Erfindung | |
weißer Wissenschaftler“) und schlichte Kapitalismuskritik doch arg platt | |
und etwas anachronistisch. | |
## Trip-Hop auf der Höhe der Zeit | |
Neneh Cherry gelang es dagegen, für das Hier und Jetzt und zugleich für | |
viel Musikgeschichte zu stehen. Ihre ersten Erfahrungen sammelte die | |
Schwedin schon als Teenager in der Punkband The Cherries – und 40 Jahre | |
später ist sie immer noch toll. Obwohl sie mit Ausnahme von „Woman“ und | |
„Manchild“ auf Hits verzichtete und stattdessen ihr neues Album „Broken | |
Politics“ vorstellte, das im Oktober erscheinen wird, ist das Publikum ganz | |
bei ihr. Trip-Hop auf der Höhe der Zeit. Am Vorabend hatte Julian Knoth, | |
Bassist und Sänger bei den Nerven, mit seinen Bandkollegen an gleicher | |
Stelle ein großartig angespanntes Konzert gespielt. Bei Cherry aber stand | |
er in der Konzerthalle – und sah einfach nur glücklich aus. | |
Ähnlich euphorisiert ließ das Publikum auch die Protest-Song-Revue zurück, | |
die die in Berlin lebende australische Songwriterin Kat Frankie auf die | |
Bühne brachte, unterstützt von Hendrik Otremba (Sänger der Band Messer) und | |
etlichen Gästen. Vom klassischen Protestliedgut, wie dem „Rauch-Haus-Song“ | |
von Ton Stein Scherben, spannten die Musiker den Bogen zu „Wenn ich ein | |
Turnschuh wär“, dem Migrationskommentar der Goldenen Zitronen, der heute | |
aktueller denn je klingt. Und ein Cover von Michael Jacksons „They Don’t | |
Care About Us“ wurde, dargeboten von vielen Künstlern, zu ganz großem | |
Tennis. | |
Einen tollen Kollektivmoment gab es auch beim schön psychedelischen | |
Auftritt der Türen. Sänger Maurice Summen, zugleich Chef des Berliner | |
Labels Staatsakt – dessen 15. Geburtstag auf dem Festival gefeiert wurde, | |
unter anderem mit Konzerten von Swutscher und International Music –, | |
animierte das Publikum zum Festivalabschluss zu einem Mitsing-Mantra gegen | |
die Angst. Und die ist ja bekanntlich die Wurzel von so viel Hässlichkeit. | |
Trost stiften. Auch das kann Popkultur. Und ganz beiläufig | |
gesellschaftlichen Dialog ermöglichen, jenseits von Fake News und sozialer | |
Spaltung. Solange der Musik das gelingt, muss sie sich die Relevanzfrage | |
nicht wirklich stellen. | |
19 Aug 2018 | |
## AUTOREN | |
Stephanie Grimm | |
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