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# taz.de -- Kultfilm „Lola rennt“ wird 20: Tempo, Techno, Telefonzelle
> 20 Jahre ist es her, dass „Lola rennt“ zu einem Hit wurde. Der Kultfilm
> zeigt: Berlin hat sich verändert und auch das Kommunikationsverhalten.
Bild: Tom Tykwer, Armin Rohde und Franka Potente am Filmset, 1997
So lange rennen [1][könnte Lola heute gar nicht mehr]. Nicht, weil Franka
Potente die Puste ausgehen würde, um Himmels willen – die Schauspielerin
ist vermutlich fit wie ein Turnschuh, sie hatte vor ein paar Jahren ein
Work-out-Buch namens „Kick Ass“ herausgebracht und ernährt sich zudem, so
hört man, vegan. Aber zwanzig Minuten lang ungestört durch Berlin-Mitte zu
rennen (denn so lange dauern die drei alternativen Durchläufe in Tom
Tykwers ikonischen Schmetterlingseffekt-Experiment jeweils) – das ist
zwanzig Jahre nach der Premiere des Films schlichtweg nicht mehr möglich.
Statt der im Film sachte angerempelten Frau würde Lola in ihrem ersten Lauf
über fünf RucksackträgerInnen aus Japan stolpern und nicht mehr aufstehen.
Im zweiten würde sie in ein Bierbike crashen und unter Männerwampen
verschwinden. Und im dritten direkt von einem Car-Sharing-Auto mit Münchner
Kennzeichen umgenietet werden.
Doch Lola liefe vermutlich gar nicht erst los. Und der unglückliche Manni,
gespielt vom damals 27-jährigen Moritz Bleibtreu, würde nicht unruhig und
an einer Telefonzelle darauf warten müssen, dass seine Freundin das
verlorene Hehlergeld auftreibt und ihm mitbringt. Denn Lola hätte ihm
längst zehnmal gewhatsappt. Hätte ihn in Kenntnis gesetzt vom erfolglosen
Besuch bei dem in der Bank arbeitenden Vater vom Überfall, vom Casinoglück:
„Lola rennt“, der sich in nur 81 Minuten als deutscher Tonfilm in die
internationale Filmgeschichte einschrieb (zum zweiten Mal mit einer
Protagonistin namens Lola), steht nicht nur für die Vergangenheit und die
städtebauliche und gesellschaftliche Veränderung einer Stadt. Sondern auch
für ein verschollenes Kommunikationsverhalten, das signifikant für die
Struktur des Films ist.
Der erzählerischen Geschwindigkeit, auf die Tykwer durch Lolas permanente
Bewegung aufbaut und die den Film übrigens auch von seinem formalen
Vorbild, dem 1981 entstandenen Werk Krzysztof Kieslowskis „Der Zufall
möglicherweise“ unterscheidet, hätte permanente Digitalkommunikation
zwischen Lola und Manni nicht gutgetan. Es hätte den Film gestoppt,
verlangsamt, die unschönen Handybildschirme auf der Leinwand hätten seine
ausgeklügelte, scharfe Visualität gesprengt. Es sei denn, man hätte Lola
gleich als „Screen Life“-Film inszeniert – als eine Geschichte, die sich
nur auf Computerbildschirmen abspielt.
1998 ist Lola stattdessen draußen unter freiem Himmel, handyfrei und
analog. Ihr Tempo, der von Tykwer in vielen Halbtotalen und Nahaufnahmen
ins Bild gesetzte Körper Potentes, ihr Kopf mit dem wehenden knallroten
Haar, das entschlossene Gesicht – all das wirkt umso energischer und
energetischer in der (bis auf wenige Szenen) leeren, gemütlich-ramschigen,
menschenlosen Umgebung des ungentrifizierten Bezirks Mitte. Lola rennt,
Berlin pennt. Pennt sich aus, wahrscheinlich: Die Techno-Clubs, für die
Berlin in den Neunzigern weltberühmt wurde und deren Sound sich in Tykwers,
Johnny Klimeks und Reinhold Heils Filmmusik spiegelt, siedelten sich mit
Vorliebe in leeren Fabrikgebäuden im Ostteil der Stadt an, neben den
Gründerzeithäusern, die im Film noch leer stehen.
## Berlin wie eine gemalte Kulisse
Tagsüber („Lola rennt“ spielt zwischen 11.40 Uhr und High Noon) war nüscht
los in Mitte. Und wenn vor der Bankkulisse am Bebelplatz (heute ein
Fünf-Sterne-Luxushotel), die Lola nach dem erfolglosen Schnorren mithilfe
einer Pistole kapert, in der zweiten Storyvariante Polizeiautos warten,
sieht man im Hintergrund den verlassenen Prachtboulevard Unter den Linden –
eine On-location-Szene, die heute nicht mehr machbar wäre. Bei Tykwer wirkt
Berlin wie die gemalte Kulisse einer Flipper-Spielfläche, durch die Lola
als rote Kugel von Straßenecke zu Straßenecke schnellt – mit dem gleichen
Ziel, nämlich Geld aufzutreiben.
Als einer der letzten RegisseurInnen eines Berlin-Films hatte Tykwer die
Stadt also wie eine geräumige Theaterbühne nutzen können – später, nach
Einzug der TouristInnen und Smoothie-Ketten, musste man die verbleibende
Enge entweder erzählerisch einbauen und sich auf bestimmte, kartografisch
mehr oder weniger undefinierte Orte beschränken, so wie Andreas Dresen in
seinem Prenzlauer-Berg-Porträt „Sommer vorm Balkon“ von 2005. Oder man
integrierte die vielen Menschen, die Wuseligkeit und das Chaos einer
Großstadt ins Drehbuch, in die Handlung, so wie in Jaume Collet-Serras 2011
entstandenem Actionthriller „Unknown Identity“, oder, im letzten Jahr, in
der Spionage-Serie „Berlin Station“. (Oder man drehte gleich alles im
Babelsberg-Set.)
Gegen das Tempo Lolas, das die wachsende, schneller werdende Stadt
symbolisiert und das ein Jahr vor der Verlegung des Regierungs- und
Parlamentssitzes die damit verbundene Hektik prophezeit, wirkt ihr Ensemble
umso langsamer. Was beabsichtigt ist: Weil Tykwer den Schwerpunkt nicht auf
die Figuren, sondern auf die Struktur gelegt hat, die ProtagonistInnen und
Nebenrollen Lola, Manni, Lolas Eltern, die MitarbeiterInnen der Bank und
den obdachlosen Finder nur grob, als Archetypen quasi zeichnen wollte, kann
man in ihnen nicht viel mehr erkennen als ihre Funktion.
Die erweist sich, jedenfalls in Lolas Fall, jedoch als enorm freigeistig
angelegt: Bei dem Gangsterpärchen Lola und Manni sind die Rollen
vertauscht. Zwar ist Manni der Kurier mit dem Geldbeutel, der die Kontakte
zu den richtig Bösen hat. Er ist in einem traditionellen
Geschlechterverständnis der „breadwinner“ der Beziehung. Doch Manni lässt
das Geld in der U-Bahn liegen, er versagt. Er ruft seine Freundin an und
bittet um Hilfe. Damit kehrt sich das Verhältnis zwischen den Liebenden um:
Manni wartet – und Lola handelt.
Lolas Schnelligkeit, Mut, Unerschütterlichkeit und Ideenreichtum ist es zu
verdanken, dass die beiden am Ende der dritten Variante nicht nur
ungeschoren, sondern auch noch reich aus dem Kuddelmuddel um 100.000 Mark
Schulden hervorgehen.
Immerhin haben die Penunzen, anders als bei Dr. Evil, dessen erpresserische
Forderung nach „One million dollars!“ im ersten Austin-Powers-Film für
Erheiterung unter den Staatsoberhäuptern der Welt führte, trotz
Währungsunion und Wirtschaftskrisen einigermaßen an Wert behalten: Der
Verlust – oder Gewinn – von 51.000 Euro würde eine Lola und einen Manni
auch heute noch ganz schön kirre machen.
20 Aug 2018
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## AUTOREN
Jenni Zylka
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