# taz.de -- Neues Album von Anna Calvi: Queerer Kampfgeist | |
> Große Revue mit Samtvorhang, dazu Gitarren und elektronischer Pop: Anna | |
> Calvi hat auf „Hunter“ keine Lust auf geschlechtliche Festlegungen. | |
Bild: Kehrt mit opulentem Breitwandpop zurück: Anna Calvi | |
Als Anna Calvi in die Pubertät kam, spürte sie, dass etwas nicht stimmte. | |
So weit nichts Besonderes, immerhin übersteht diese Lebensphase wohl | |
niemand ohne eine handfeste Identitätskrise; im Fall der Britin aber | |
gestaltete sich die sogenannte Frauwerdung besonders traumatisch. Denn | |
Calvi wollte nicht zur Frau werden. | |
Heute, 20 Jahre später, hat sie – einer neuen Liebe sei Dank – | |
herausgefunden, dass die Kategorien „Frau“ und „Mann“ nur die Endpunkte | |
eines Spektrums benennen. Kurzum: Calvi hat auf ihrem neuen, dritten Album, | |
„Hunter“, den queeren Kampfgeist entdeckt. Und deshalb kann ein Text, der | |
Calvi als Frau beschreibt, nur eine Momentaufnahme sein. Wirklich festlegen | |
mag sie sich da nicht mehr. | |
In Zeiten, in denen sich Superstars wie Miley Cyrus als „genderfluid“ oder | |
„non-binary“ definieren, ihre Geschlechtsidentität also als beweglich | |
begreifen, ist Queerness zwar längst kein randständiges Thema mehr; Calvis | |
musikalische Übersetzungsleistung ist dennoch eine ungewöhnliche. | |
Denn ihr Sound, der ihr neben Brian Enos glühender Verehrung auch eine | |
Nominierung für Preise wie den renommierten Mercury Price einbrachte, wirkt | |
seltsam unzeitgeistig: Opulenten Breitwandpop, weihevoll bis fiebrig, | |
wendet Calvi mit ihrer voluminösen Stimme ins Operettenhafte. Von bebendem | |
Alt wechselt die Sängerin in luftige Höhen, flüstert erhitzt, bevor sie | |
ihre Stimme im nächsten Song wieder vibrieren lässt. | |
## Unbehagliche Drohkulisse | |
Gemeinsam mit Musikern wie Adrian Utley von Portishead und Martyn Casey von | |
den Bad Seeds, Experten für dunklere Spielarten des Pop, hat Calvi ihrer | |
Vokalakrobatik zwischen Maria Callas und PJ Harvey ein standesgemäßes | |
Gewand geschneidert: Körperlicher und verschwitzter als [1][auf ihren | |
Vorgängeralben] klingt ihr Hybrid aus verwaschenem Gitarrenrock und | |
elektronischem Pop in Stücken wie „As a Man“. | |
Im Song „Indies or Paradise“, in seiner unheilvollen Stimmung exemplarisch | |
für den Klang der Platte, errichtet Calvi eine unbehagliche Drohkulisse, | |
bis ein Noise-Ausbruch die Spannung lösen darf. | |
Über allem liegen Schleier des Vagen, Schatten des Postpunk; die Single | |
„Don’t Beat the Girl out of My Boy“ hingegen geht mit seinem | |
Schubidu-Refrain als beinahe konventioneller, hymnischer Popsong durch. Bei | |
alledem umkreist Calvi textlich Dualismen wie Jäger und Beute, Macht und | |
Ohnmacht. Und fragt sich dabei, was Jäger eigentlich so machen, wenn die | |
Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen ist. Vielleicht weinen sie ja ins | |
Kissen? | |
All das ist große Revue mit Samtvorhang, großes Drama. Stimmig ist also, | |
dass Calvi diese zugleich sehr groß und sehr intim gedachte Platte vor | |
Kurzem mit großer Medienpräsenz im [2][Berliner Technoclub Berghain] | |
uraufgeführt hat. Schließlich wird geschlechtliche Uneindeutigkeit dort so | |
eindrucksvoll performt wie an wenigen anderen Orten. | |
5 Sep 2018 | |
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## AUTOREN | |
Julia Lorenz | |
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