# taz.de -- Jazzfest in Berlin: Diskurs üben wir noch | |
> Das Berliner Jazzfest unter der Leitung von Nadin Deventer ging zu Ende. | |
> Besonders eine Komposition und der britische Nachwuchs überzeugten. | |
Bild: Jason Moran am Klavier | |
Am Sonntagabend ging [1][das 55. Berliner Jazzfest] zu Ende. 200 | |
Musiker_innen aus 15 Ländern hatte die neue künstlerische Leiterin, Nadine | |
Deventer, zu ihrem viertägigen Programmdebüt eingeladen. Mit insgesamt zehn | |
verschiedenen Acts war das Jazzfest im Festspielhaus eröffnet worden. | |
Dass sich die Musiker, die nicht auf der großen Bühne, sondern auf | |
improvisierten Bühnen im Haus verteilt waren, wie das Trio Heinz Herbert | |
oder Thumbscrew, mit Publikumspausengesprächen und Soundproblemen | |
konfrontiert sahen, gehörte zu den vermeidbaren Unzulänglichkeiten. Dennoch | |
überzeugten die drei jungen Schweizer Musiker vom Trio Heinz Herbert durch | |
ihre Improvisationen mit Elektronik, Effekten und Mikrostrukturen von | |
Klängen. | |
Von den zahlreichen Projekten, in die die New Yorker Gitarristin Mary | |
Halverson involviert ist, brachte sie als Artist in Residence – neben ihrem | |
kongenial besetzten Oktett für den Abschlussabend – ihr gemeinsames Trio | |
Thumbsrew mit dem Bassisten Michael Formanek und Tomas Fujiwara, | |
Schlagzeug, nach Berlin. Im Hinblick auf ihre Hommage an die Opfer von | |
Pittsburgh berichtete Formanek, sie hätten die Synagoge und die Menschen | |
gut gekannt und oft gleich um die Ecke geprobt. | |
In das Festival integriert waren Sonderführungen durch die Ausstellung des | |
afroamerikanischen Künstlers Arthur Jafa, „A Series Of Utterly Improbable, | |
Yet Extraordinary Renditions“, die noch bis zum 25. November in der Julia | |
Stoscheck Collection Berlin gezeigt wird. Jafa geht es um eine visuelle | |
Ästhetik, die der Kraft, Schönheit und Verfremdung der afroamerikanischen | |
Musik in der US-Kultur entspricht. Neben Abbildungen von David Murray und | |
dem Sun Ra Arkestra ist eine Lynchjustizszene aus dem Jahre 1919 in der | |
Ausstellung zentral. | |
## Soundteppich aus Krach und Free-Jazz | |
Um den Mangel an Gedenkstätten für afroamerikanische Geschichte geht es in | |
Jason Morans Auftragskomposition „The Harlem Hellfighters. James Reese | |
Europe and the Absence Of Ruin“. Diese erinnert an den legendären | |
afroamerikanischen Orchesterleiter James Reese Europe, der sich freiwillig | |
als Soldat für den Ersten Weltkrieg meldete. Moran lud für seine großartige | |
audiovisuelle Komposition zu seinem Trio Bandwagon sieben junge Musiker aus | |
dem Londoner Nachwuchsnetzwerk Tomorrow’s Warriors ein. | |
Das überzeugendste Solo des Festivals, das in einer Mischung aus hohen | |
Tönen, Verfremdungen und Spannungspausen ruhte, spielte darin der junge | |
Trompeter Ife Ogunjobi. Geschickt changiert dieser Festivalhöhepunkt | |
zwischen Ragtime-Themen und zeitgenössischer Jazzimprovisation. Moran | |
widmete die Aufführung dem Trompeter Roy Hargrove, der am Freitag im Alter | |
von 49 Jahren verstarb. | |
In den Texten von Moor Mother, die sie über einem Soundteppich aus Krach | |
und Free-Jazz schreit, geht es um Macht- und Erinnerungslosigkeit des | |
schwarzen Amerika. „Fuck the Police“ ruft im Anschluss an Moor Mother die | |
lebhafte Chicagoer Trompeterin Jaimie Branch bei ihrem Auftritt, der | |
Protest gegen die rassistische Polizeigewalt gegen junge schwarze Männer in | |
den USA ist bei diesem Festival allgegenwärtig. | |
Das Festival reklamierte für sich, ein Ort für Auseinandersetzung und | |
Diskurs sein. Doch auch wenn die afroamerikanische Science-Fiction-Autorin | |
Octavia E. Butler und Sun Ra als Ideengeber genannt wurden: So richtig | |
wollte sich keiner der auftretenden Künstler darauf einlassen. | |
## Eine verpasste Chance | |
Der Afrofuturismus sollte Menschen in der Diaspora als Projektionsfläche | |
für ein vermeintlich besseres Leben im Outer Space dienen, doch das Sun Ra | |
Arkestra war beim Festival gar nicht dabei. Hingegen fand zeitgleich und | |
völlig uninformiert voneinander im Berliner Theater HAU 1 eine dreitägige | |
Konferenz zum Afrofuturismus statt. Eine verpasste Chance, die Musik mit | |
der Expertise in einer Stadt zusammenzubringen. | |
Das Eröffnungswerk, Nicole Mitchells Komposition „Mandorla Awakening II: | |
Emerging Worlds“, ist von der Geschichte her zwar an einem utopischen Ort | |
im Jahre 2099 angesiedelt, doch auch sie möchte ihr Werk nicht einem Ismus | |
zugeschlagen wissen. Die Flötistin spricht von überlappenden Klangsphären | |
und der Identität als schwarzer Frau, verweist auf den Gebrauch | |
traditioneller japanischer Instrumente und Einflüsse neuer Musik und | |
präsentiert aktuelle Weltmusik, die in eine ekstatische Gospelperformance | |
des Sängers Avery R. Young mündet. | |
Mitchells Auftritt wurde ermöglicht durch die Vernetzung mit dem Enjoy Jazz | |
Festival, wo ihr Black Earth Ensemble am Samstagabend auftrat. In Mannheim | |
fand mit der Weltpremiere von Archie Shepps „Fire Music“ auch gerade das | |
wichtigste Jazzkonzert des Jahres zum Thema statt; dem Berliner Schwerpunkt | |
zur afroamerikanischen Musik vermochte der Auftritt des legendären Art | |
Ensemble of Chicago hingegen nur sehr bedingt zu entsprechen. Er entbehrte | |
jeglicher Dringlichkeit, mit der diese Musik einst die Herzen der Menschen | |
erreichte. | |
Beim Clubprogramm im Prince Charles traten der Chicagoer Schlagzeuger | |
Makaya McCraven mit einer Jam-Performance zu seinem Album „Universal | |
Beings“ sowie die junge Londoner Saxofonistin Nubya Garcia auf, die mit | |
urbanen Grooves und Anleihen beim Astral Jazz der frühen 1970er Jahre in | |
ihrem Berlin-Debüt überzeugte. Dass auch sie aus dem Umfeld der Tomorrow’s | |
Warriors stammt, machte dieses Londoner Netzwerk zur Entdeckung des | |
Festivals. | |
5 Nov 2018 | |
## LINKS | |
[1] https://www.berlinerfestspiele.de/de/aktuell/festivals/jazzfest/ueber_festi… | |
## AUTOREN | |
Christian Broecking | |
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