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# taz.de -- Neues Album von Loraine James: Softe Kritik an den Verhältnissen
> Auf dem Album „Gentle Confrontation“ der Produzentin Loraine James geht
> es um Selbstfindung. Und Selbstliebe, mit überraschenden Wendungen.
Bild: Hat mit 27 ein sehr reifes Album vorgelegt: Loraine James
Das Jahr 2003 – was könnte einem dazu einfallen? Die US-Invasion in den
Irak, die im März begann. Der Rekordsommer, in dem in Europa Thermometer
47,5 Grad erreichten. Vielleicht auch „Dangerously in Love“, das Debüt der
US-amerikanischen R&B-Sängerin [1][Beyoncé], das im Juni erschien. Für die
britische Musikerin und Produzentin Loraine James war 2003 ein Jahr, das
ihr Leben veränderte.
Den [2][zweiten Song] auf ihrem [3][neuen Album „Gentle Confrontation“] hat
sie danach benannt. Es war das Jahr, in dem ihr Vater starb. „When I was
seven, my Dad went to Heaven, possibly / I looked at the Sky, uncertainty /
It hurt me, Uncertainty“. James trägt den Text vor, begleitet nur von einem
schlichten musikalischen Arrangement. Gefühlvoll, getragen erzählt sie ihre
Geschichte, die Geschichte einer Verletzung – „It hurt me“ ist die Zeile,
die sich einbrennt –, ohne aber ins Pathetische abzurutschen.
„2003“ ist schon im Mai vorab erschienen, der Track gab die Richtung für
das Album „Gentle Confrontation“ vor, konzeptuell vor allem, thematisch,
den sanften Konfrontationskurs, wie es der Albumtitel suggeriert. James
konfrontiert sich mit sich selbst, wagt sich an eine Familienaufstellung
heran. In den 16 Songs des knapp unter einer Stunde langen Werks geht es um
familiäre Beziehungen und emotionale Prägungen, Selbstfindung, Selbstliebe
auch.
[4][Loraine James] ist 1995 in London geboren. 2015 begann sie
elektronische Tracks auf Bandcamp zu veröffentlichen, ihr Debütalbum
„Details“ brachte sie noch selbst heraus. „Gentle Confrontation“ ist ihr
drittes Album bei Hyperdub, insgesamt ist es ihr fünftes Werk innerhalb von
sechs Jahren.
## Beziehungen und Gefühle
In James scheint einiges zu brodeln, das noch heraus möchte.
Kindheitserinnerungen, Familiengeschichten sind das im aktuellen Album vor
allem. Sie analysiert Beziehungen und was diese bedeuten, was es heißt, für
andere da zu sein. Sie erzählt Alltagsschnipsel und von Zugehörigkeit, von
Gefühlen für andere, aber auch solchen für sich selbst. Auf dem Cover sieht
man die Musikerin, wie sie den Kopf in die eigenen Arme schmiegt und
gedankenverloren aus der Kamera blickt.
In der Pressemitteilung ihres Labels ist zu lesen, dass James Musik machen
wollte, die sie als Teenager gerne gemacht hätte, beeinflusst von damaligen
Favoriten, von Postrock und Frickel-Electronik wie DNTEL, Lusine und
Telefon Tel Aviv.
[5][In einer Instagram-Story] wiederum postete sie kürzlich ein
Schwarz-Weiß-Bild, auf dem sie Schallplatten in die Kamera hält: Werke der
R&B-Sängerinnen Brandy und Aaliyah, der Chicagoer Postrock-Band
[6][Tortoise] und der US-Emo-Band American Football, und darüber der Satz
„What influenced the Album“.
Experimentelle Intelligent Dance Music haben diese Einflüsse ergeben, in
die sich Grime, Glitch, Garage, UK-Drill, und Ambient mischen, R&B auch,
ein wenig Soul und Folk. Field Recordings sind zu hören und auch
ASMR-Sounds, rockige Klänge eher als Sample oder hintergründige Klangfarbe.
## Berührende Unmittelbarkeit
„Gentle Confrontation“, der titelgebende Auftaktsong, hat etwas von einer
Ouvertüre in der Oper. Er beginnt mit anschwellender Orchestermusik, in die
sich ein elektronischer Beat drängt, der langsam, aber sicher die Oberhand
gewinnt, Drum-Samples kommen noch hinzu, die im Loop sanft vor sich hin
hämmern. [7][„Let you go“], der dritte Song, nach „2003“, wartet mit
R&B-Referenzen und Autotune auf. Die New Yorker R&B-Sängerin und
-Produzentin KeiyaA ist es, die man da hört.
KeiyaA ist die erste von einer ganzen Reihe an Kolleg*innen, deren
Unterstützung sich James für „Gentle Confrontation“ geholt hat. Über ein
„[8][Déjà-vu]“ rappt RiTchie von der HipHop-Crew Injury Reserve. „[9][O…
Way Ticket to the Midwest (Emo)]“ mäandert unterstützt von Corey
Mastrangelo, Gitarrist der Math-Rock-Band Vasudeva, vor sich hin. Marina
Herlo, George Riley, Eden Samara und Contour heißen die weiteren
Partner*innen.
Berührend in ihrer Unmittelbarkeit, mit ihren an Tagebucheinträge
erinnernden Songtexten fallen dann aber vor allem die Tracks aus, die James
solistisch bestreitet. Auf [10][„Cards with the Grandparents“] meint man
sie wirklich zu vernehmen, die Spielkarten, wie sie aus der Hand gezogen
und rhythmisch auf den Wohnzimmertisch gepfeffert werden.
Vor sich scheint man die Szene zu sehen, die James im Sprechgesang
beschreibt, den dementen Großvater „still very cool“, die Currygerichte,
der Fernseher, mit Soap-Operas in Dauerschleife „Still Seeing Sally
Webster“. Vielsagend ganz ohne Text ist „I DM U“ mit wabernden Synths, die
von einem Schlagzeug durchbrochen werden.
Von Selbstzweifeln erzählt „[11][I’m Trying to Love Myself]“. Nach und n…
schält sich James Stimme darauf aus glitchigen Klanglandschaften heraus.
Mantraartig murmelt James mehr vor sich hin, als dass sie klar artikuliert,
was sie offenbar davon abhält, sich selbst zu lieben: „Wanna be you / wanna
be you / wanna be you.“
## Immer wieder überraschende Wendungen
Die Rückbesinnung, die Auseinandersetzung mit sich selbst geschieht auch
auf musikalischer Ebene. „[12][Glitch the System (Glitch Bitch 2)]“
verweist auf „Glitch Bitch“, den ersten Song ihres [13][Albums „For You a…
I“] aus dem Jahr 2019, ihrem ersten Hyperdub-Album. Melodischer, weicher,
eingängiger fällt die neue Version aus.
„Gentle Confrontation“ ist ein heterogenes Album, Musik die immer wieder
neue Wendungen nimmt, bei der man beim Durchhören vielleicht sogar
zwischendurch nachschaut, ob immer noch dasselbe läuft. Irritieren könnte
das. An den vielen verschiedenen Musiker*innen und Sänger*innen, die
James mit an Bord holte, liegt das einerseits.
Andererseits ist es aber auch das Thema, das nach vielen verschiedenen
Tönen, Stimmungen und Stimmen verlangt. Sehr reif, fast schon wie ein
Alterswerk wirkt „Gentle Confrontation“ bisweilen, „I’m tired of holdin…
tired of holding / Getting older, I’m getting older“ heißt es denn auch im
Finale „[14][Saying Goodbye]“. Loraine James ist aber erst 27. Da kann noch
einiges kommen.
6 Oct 2023
## LINKS
[1] /Konzert-von-Beyonce-in-Hamburg/!5942558
[2] https://lorainejames.bandcamp.com/track/2003
[3] https://lorainejames.bandcamp.com/album/gentle-confrontation
[4] https://lorainejames.bandcamp.com/album/reflection
[5] https://www.instagram.com/setfiretoloraine/
[6] /Neues-Album-von-Tortoise/!5274641
[7] https://lorainejames.bandcamp.com/track/let-u-go-ft-keiyaa
[8] https://lorainejames.bandcamp.com/track/d-j-vu-ft-ritchie
[9] https://lorainejames.bandcamp.com/track/one-way-ticket-to-the-midwest-emo-f…
[10] https://lorainejames.bandcamp.com/track/cards-with-the-grandparents
[11] https://lorainejames.bandcamp.com/track/im-trying-to-love-myself
[12] https://lorainejames.bandcamp.com/track/glitch-the-system-glitch-bitch-2
[13] https://lorainejames.bandcamp.com/album/for-you-and-iv
[14] https://lorainejames.bandcamp.com/track/saying-goodbye-ft-contour
## AUTOREN
Beate Scheder
## TAGS
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