| # taz.de -- Dancefloor begegnet Mode und Ballett: Footwork goes Feuilleton | |
| > Der Chicagoer Ghetto-Dancefloorsound Footwork ist in der Hochkultur | |
| > angekommen. Das zeigen neuen Alben von Jlin, von DJ Mann und Heavee. | |
| Bild: Heavees Album „Unleash“ klingt manchmal wie ein Modem aus den Nullerj… | |
| Beim Boxen kann Footwork über Sieg oder Niederlage entscheiden. Gute | |
| Beinarbeit bedeutet, Balance halten zu können, den Raum auch am Boden | |
| optimal zu nutzen, Distanz zu Gegner*innen zu halten, gleichzeitig nah | |
| genug heranzukommen, um reaktionsschnell und präzise mit den Fäusten Hiebe | |
| setzen zu können. Kein K.O. ohne gute Footwork. | |
| Voll auf die Zwölf geht es auch bei der elektronischen Tanzmusik, die als | |
| Footwork bezeichnet wird, nur, dass die Schläge nicht mit der Faust | |
| ausgeteilt werden, sondern aus der Drum Machine prasseln, und das mit irre | |
| hohem Tempo. Um eine mit HipHop-Elementen genährte Spielart von | |
| [1][Ghetto-House] handelt es sich bei Footwork, dem Sound, der in der West- | |
| und Southside von Chicago seine Ursprünge in den späten 1990ern hat. | |
| [2][Rhythmisch aufgeheizt, zusammengesetzt aus fiebrigen Beats] – wir | |
| sprechen hier von 150 bis 165 Bpm – und repetitiven Samples. [3][Wer auf | |
| Footwork tanzen will, braucht Ausdauer und eine trainierte Beinmuskulatur] | |
| oder hat beides spätestens nach ein paar durchtanzten Nächten [4][auf dem | |
| Dancefloor, wo die Musik zu irren Verrenkungen einlädt, als seien die | |
| Glieder aus Gummi und der Fußboden heiß wie eine Herdplatte.] Eine | |
| hypnotische Wirkung hat das, akustisch wie visuell. | |
| Ebenfalls als hypnotisierend, nur reiner, sanfter, vergleichbar aber darin, | |
| wie das Stilmittel der Repetition eingesetzt wird, könnte man die | |
| minimalistische Musik des US-Komponisten Philip Glass beschreiben. Seine | |
| endlosen Klavierläufe, Etüden, Streicher-Arrangements, in denen sich wieder | |
| und wieder die gleichen Motive aneinanderzureihen scheinen, minimalistische | |
| Tonfolgen, zurückgenommene Klangteppiche, die sich ausdehnen in Zeit und | |
| Raum. In denen man sich verlieren kann. | |
| Dass auch [5][Jerrilynn Patton das passiert ist, als Jugendliche, als sie | |
| gemeinsam mit ihrer Mutter Stephen Daldrys „The Hours“ ansah, hat die | |
| US-Künstlerin, die sich Jlin] nennt und deren Tracks gemeinhin mit dem | |
| hochenergetischen Footwork-Genre assoziiert werden, kürzlich dem britischen | |
| Onlinemagazin Mixmag erzählt. „The Hours“ ist ein Film, der sich auf | |
| unterschiedlichen Zeitebenen an Virginia Woolfs Roman „Mrs Dalloway“ | |
| annähert, in Variationen eben und mit sich wiederholenden Motiven – in | |
| gewisser Weise so, wie sich auch Werke von Glass aufbauen, der dazu den | |
| Soundtrack komponierte. Dieser habe sie mehr fasziniert als der Film, eine | |
| Obsession mit Glass' Musik habe sich daraus entwickelt. | |
| ## Mit Philipp Glass und Dior | |
| Einen Traum erfüllt hat sich Patton also, als sie Glass dafür gewinnen | |
| konnte, an ihrem neuen Album „Akoma“ bei einem Track mitzuwirken. Sie habe | |
| ihn gebeten, sich morgens nach dem Aufstehen ans Klavier zu setzen, | |
| irgendetwas zu spielen, es aufzunehmen und ihr zuzuschicken, berichtet sie. | |
| Das Ergebnis, „The Precision of Infinity“, kam bereits vorab heraus. Im | |
| Februar lief der Track bei der Schau von [6][Maria Grazia Chiuris] | |
| Kollektion für Dior Herbst / Winter 2024/25 in Paris. | |
| Das unverwechselbare wasserfallartige Pianospiel Glass' im Kontrast zu | |
| sirrenden Drums, metronomartigen, immer wieder stolprig versetzten Beats, | |
| beides läuft gegeneinander, überholt und unterbricht sich. Tatsächlich | |
| untermalt der Track ziemlich gut die von den 1960er Jahren inspirierte | |
| Eleganz der Designs von Dior, deren fließende A-Linien in gedämpften Tönen | |
| und feinsten Stoffen. Besser womöglich als die Mode, die man in einem Club | |
| tragen würde. | |
| Jerrilynn Patton, geboren 1987, ist quasi im Windschatten Chicagos | |
| aufgewachsen, in der 50 Kilometer entfernten Industriestadt Gary/Indiana, | |
| wo sie noch heute lebt. 2007 begann Jlin, Musik zu machen, inspiriert eben | |
| vor allem von Footwork. In dem 2014 viel zu früh verstorbenen DJ Rashad, | |
| einem Pionier des Genres, fand sie einen Mentor, er unterstützte sie noch | |
| bei der Realisierung ihres Debütalbums. | |
| Ihr Talent erkannten bald auch andere. Als der Modedesigner Rick Owens sie | |
| 2014 mit dem Soundtrack für seine Modenschau in Paris beauftragte, weil ihn | |
| ihr Track „Erotic Heat“ begeistert hatte, arbeitete sie noch in einer | |
| Stahlfabrik. | |
| 2015 veröffentlichte sie dann das Debütalbum „Dark Energy“ und wurde als | |
| innovative Neuerfindung des Footwork-Genres gefeiert, „Black Origami“ | |
| folgte 2017, „Autobiography“ 2018. „Autobiography“ war das bislang letz… | |
| Album, das sie veröffentlichte, wenn man dieses überhaupt so nennen möchte, | |
| handelte es sich doch weniger um ein Solo, sondern um den [7][Soundtrack | |
| für ein Ballett des britischen Choreographen Wayne McGregor.] Auch Tanz, | |
| aber nicht solcher, für den man irgendwo die Nacht zum Tag macht, mehr | |
| Highbrow als Party. | |
| ## Überraschende Zutaten | |
| Zwischen diesen Polen bewegt sie sich seitdem, zwischen Feuilleton- und | |
| Clubpublikum. Sie produzierte zahllose Remixes für Künstler*innen wie | |
| Marie Davidson, komponierte Musik für SOPHIE, arbeitete mit Björk. Für den | |
| Schwarzen US-Choreographen Kyle Abraham komponierte sie eine neue, eigene | |
| Variante von Mozarts Requiem. 2023 war sie für ihre Komposition | |
| „Perspectives“ für das Quartett Third Coast Percussion für den Pulitzer | |
| Preis nominiert. | |
| Schon „Dark Energy“ war für die Footwork-Schublade eigentlich zu | |
| experimentell, Jlin braucht eher ein eigenes Genre. | |
| [8][Jlintheinnovator.com] lautet passenderweise die URL ihrer Website. | |
| Wobei auch Footwork nicht auf der Stelle trabt. Interessante | |
| Neuerscheinungen jüngeren Datums stammen etwa von Heavee und DJ Manny, | |
| beide aus Chicago, beide ursprünglich Tänzer. DJ Manny knüpft mit | |
| „Hypnotized“, das im November bei Planet Mu veröffentlicht wurde, an sein | |
| Vorgängeralbum „Signals in my Head“ (2021) an, auf dem er den romantischen | |
| Part von Footwork entdeckte und R&B-Elemente in die Beatsuppe warf. | |
| Überraschender noch sind die Zutaten, die er dieses Mal aneignet, wenn er | |
| sich in Jungle auf „Lost in da Jungle“ stürzt, oder vor allem – das ist … | |
| erstaunlichste Stück auf dem Album – eine Operndiva Arien gegen die | |
| Rhythmen ansingen lässt, wenn er wie Jlin also in hochkulturellen Gefilden | |
| wildert. | |
| ## Flirt der Hochkultur mit dem Ghettosound | |
| Heavees vor Kurzem bei Hyperdub veröffentlichtes Album „Unleash“ klingt | |
| indes mal wie ein Modem aus den frühen Nullerjahren, das sich übers Kabel | |
| ins Internet einwählt. Dann wieder mixt der er R&B, Rap, Jazz und Grime in | |
| die Wundertüte, lässt auf „SearchN 4“ die britische Musikerin BABii mit | |
| ätherischer Stimme singen und auf „Smoke Break“ den Multiinstrumentalisten | |
| Takayuka Nakamura auf der Trompete improvisieren. | |
| Eigenwillige Interpretationen des Genres sind die Werke von Heavee und DJ | |
| Manny auch, nur geht Jlin in ihrem Sound noch einige Schritte weiter. Sie | |
| selbst hat ohnehin des Öfteren betont, sie würde sich nicht als linientreue | |
| Footwork-Künstlerin verstehen. Ganz frei von deren Einflüssen ist sie | |
| jedoch weiterhin nicht, unüberhörbar sind diese auf dem neuen Album, beim | |
| Track „Auset“ etwa oder auch auf „Iris“. Angemessen schnell schlägt das | |
| Herz auch sonst darauf. Das nämlich bedeutet der Titel. „Akoma“ ist das | |
| ghanaische Wort für Herz. | |
| Eingeschlossen hat Jlin in jenes nicht nur Philip Glass. Auch Björk ist | |
| gleich beim Auftakt zu hören, Vocalsamples der isländischen Sängerin sind | |
| es – sehr dezent nur zu vernehmen allerdings –, das Kronos Quartet dann | |
| wiederum recht deutlich auf „Sodalite“. Nur mag da das Konzept nicht so | |
| recht aufgehen, zu erzwungen erscheint die Paarung zwischen den zweifellos | |
| grandiosen Streichern und den überhasteten Beats der Künstlerin. Die | |
| Elemente greifen nicht ineinander, Jlin verfranzt sich in den Untiefen | |
| zwischen U und E. | |
| Allein gelingt ihr der Spagat besser. Auch auf „Summon“ dominieren | |
| Streichinstrumente den Sound, brummen wie ein wütender Bienenschwarm über | |
| die Drums hinweg, sie stacheln sich gegenseitig an, springen aufeinander | |
| drauf, schieben sich zu einem dichten Gewebe zusammen. Sperrig im positiven | |
| Sinne ist das. | |
| Zwei Tracks später, auf „Open Canvas“, zeigt Jlin dann noch mal in Länge | |
| und Breite, was sie auf Lager hat, und versöhnt so vielleicht auch die, | |
| denen der Flirt der Hochkultur mit dem Ghettosound zu viel wird. Sie | |
| entführt in luftige Höhen, um dann wieder im euphorischen Sturzflug im | |
| tiefsten Clubkeller zu landen. Kompositorisch wie rhythmisch ist der Track | |
| voller Wendungen, eine Wucht, dafür braucht Jlin niemanden an ihrer Seite. | |
| 17 Apr 2024 | |
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| [8] https://www.jlintheinnovator.com/ | |
| ## AUTOREN | |
| Beate Scheder | |
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