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# taz.de -- Protest gegen Coronamaßnahmen in Berlin: Absurdes Nebeneinander
> Tausende CoronaskeptikerInnen kamen nach Berlin, darunter viele Rechte.
> Die Polizei stoppte ihre Demo, gewährte aber die Kundgebung.
Bild: Irgendwie in keine Richtung konsequent – Mund- und Nasenschutz à la Co…
BERLIN taz | Um 15.33 Uhr ist es dann so weit. Michael Ballweg, der
Anführer der CoronaskeptikerInnen, steht auf der Bühne vor der Berliner
Siegessäule und eröffnet seine Kundgebung. Vor dem Stuttgarter stehen
zehntausende Gleichgesinnte, die Schar zieht sich bis zum Brandenburger
Tor. „Wir fordern die sofortige [1][Aufhebung der Coronamaßnahmen] und die
Abdankung der Bundesregierung“, ruft Ballweg. Und die Menge johlt und
klatscht.
Es ist eine denkbar bunte Masse, die hier jubelt. Familien, Rentner,
Esoteriker, Impfgegner. Unter ihnen aber auch Reichsbürger und
Rechtsextreme. Sie alle eint, dass sie die derzeitigen
Infektionsschutzregeln ablehnen. Pace-Fahnen wehen, Gandhi-Bilder werden
hochgehalten, daneben flattern aber auch schwarz-weiß-rote Reichsfahnen.
„Frieden, Freiheit, Liebe“, steht auf Shirts. „Meine Freiheit matters.“…
wieder: „Volle Souveränität jetzt.“ Es wird meditiert und gesungen.
„Corona, ciao, ciao, ciao.“ Und daneben ertönen „Merkel muss weg“- oder
„Lügenpresse“-Rufe, wie man sie von Pegida kennt.
Es ist ein teils absurdes Nebeneinander. Die CoronaskeptikerInnen aber
feiern ihre Großdemonstration am Samstag als Erfolg, als neuen Höhepunkt
ihres Protests. Ein Redner jubelt über einen „historischen Tag“. Es ist
aber auch ein neuer Höhepunkt der Unvernunft.
Denn Masken trägt von den Coronademonstrierenden am Samstag so gut wie
niemand. Im Gegenteil werden diese strikt abgelehnt, vorbehalten für die
„Schlafschafe“, wie es heißt. Wer sie, wie etwa JournalistInnen, dennoch
trägt, erntet abschätzige Blicke. „Masken machen krank“, heißt es auf
Schildern. Und auch Abstände werden auf der Kundgebung nur sporadisch
eingehalten. Einige Demonstranten begrüßen sich mit Küsschen, auf einer
Bühne stehen zwischendrin Redner Arm in Arm und schunkeln. Es sind Szenen,
die eigentlich durch die Auflagen der Versammlungsbehörde verboten sind.
Und die zu erwarten waren.
[2][Bis zum Schluss war über die Demonstration vor Gericht gestritten
worden]. Am Mittwoch hatte [3][Berlins Innensenator Andreas Geisel] (SPD)
den Aufzug zunächst verboten – mit Verweis auf den Infektionsschutz und das
massenweise Ignorieren von Auflagen bereits bei der ersten [4][Großdemo der
Corona-SkeptikerInnen am 1. August] in Berlin. Das Berliner
Verwaltungsgericht aber kippte das Verbot, in der Nacht zum Samstag räumte
auch das Oberverwaltungsgericht die Beschwerde der Versammlungsbehörde ab
und erlaubte die Kundgebung und eine Demonstration unter Auflagen.
Am Nachmittag nun steht Anmelder Michael Ballweg, mit Wuschelhaar und
weißem „Querdenken“-Shirt, triumphierend auf der Bühne. „Geisel ist eine
Geißel der Demokratie“, wettert er gegen den Innensenator. Der SPD-Mann
müsse „sofort“ sein Amt abgeben und mit ihm Berlins Regierender
Bürgermeister Michael Müller. „Beide treten die Grundrechte aller Menschen
mit Füßen.“ Und wieder brandet Applaus auf.
Geisel selbst wird später am Abend vor die Presse treten und Zahlen nennen.
Rund 38.000 Menschen sollen insgesamt nach Schätzungen der Polizei am
Protest gegen die Coronamaßnahmen teilgenommen haben.
## Marco, Karina und ein AfD-Abgeordneter
Dabei steht der Protest schon gleich am Anfang kurz vor dem Abbruch.
Bereits am Vormittag wollen die CoronaskeptikerInnen mit einem
Demonstrationszug von Torstraße Ecke Friedrichstraße aus durch die
Innenstadt ziehen. Doch die Polizei blockiert den Weg. Der Grund: Die
Infektionsschutz-Auflagen werden flächendeckend nicht eingehalten. Zwei
Stunden steckt der Demonstrationszug fest. Um 13 Uhr dann kommt die
Durchsage der Polizei: [5][Der Aufzug soll aufgelöst werden].
Markus Haintz vom „Querdenken Anwaltsteam“ stellt sich auf einen
Lautsprecherwagen und fordert die Menge auf, trotzdem durchzuhalten,
einfach sitzenzubleiben. Die ganze Welt schaue heute auf Berlin. „Sprecht
die Bürger in Uniform an“, ruft er. „Verweigert diesen rechtswidrigen
Befehl!“ Immer wieder skandiert die Menge in Richtung Polizei: „Schließt
euch an!“ Die Stimmung ist aufgeheizt, aber friedlich.
Einer, der sich ganz vorne in der Menge bewegt, ist Harald Laatsch,
[6][AfD]-Fraktionsmitglied im Berliner Abgeordnetenhaus. Der Politiker ist
mit Hemd und Jackett unterwegs, filmt das Geschehen, scherzt mit einer
Demonstrantin. An die Organisatoren auf dem Lautsprecherwagen wendet er
sich immer wieder. Einmal nennt er ihnen den Namen des Einsatzleiters, den
er den „Erfüllungsgehilfen“ von Herrn Geisel nennt.
Spricht man mit einzelnen Demonstrierenden, ergibt sich ein schwer zu
fassendes Bild. Der 36-jährige Marco aus Stuttgart sagt, er sei ein
Krisengewinner. Wegen der globalen Lieferengpässe, erhalte seine Firma
viele neue Aufträge. Trotzdem sei er hier, weil er gegen Waffenexporte sei.
Was das mit der Demonstration zu tun habe? „Die Leute hier sind für die
weltweite Völkerverständigung auf der Straße“, meint er. Und tatsächlich,
wenig später zieht eine Gruppe PolInnen mit riesigen rot-weißen Flaggen
über die Friedrichstraße. Fragt man sie, wogegen sie demonstrieren, sagen
sie: „das Coronavirus, Bill Gates und die Weltverschwörung“.
Karina aus Regensburg scheint eine der Vernünftigeren zu sein. Die
40-Jährige arbeitet in der Kundenberatung in einem Pflegeheim. Sie musste
mitansehen, wie Angehörige ihre Eltern über Monate nicht besuchen konnten.
Insgesamt fehle ihr eine Diskussion über die Kosten-Nutzen-Rechnung der
Maßnahmen, sagt sie. Von einer neuen Normalität sieht sie sich noch weit
entfernt. Ihr Sohn müsse jetzt die erste Klasse wiederholen, weil er im
zweiten Halbjahr kaum Unterricht hatte.
## Niemand stört sich an Reichsbürgern und Rechtsextremen
Der Demonstrationszug löst sich schließlich langsam auf, die Menge wandert
Richtung Siegessäule ab, zur Bühne von Michael Ballwegs Truppe Querdenken
711. Am Brandenburger Tor, vor der nahe gelegenen russischen Botschaft und
vor dem Bundestag haben sich da schon dutzende Reichsbürger versammelt. Sie
schwenken Fahnen und halten Banner, die Deutschland für besetzt erklären.
Andere tragen Shirts der Identitären oder eines „Berserker Clans“. Der
rechtsextreme „Volkslehrer“ Nikolai Nehrling ist vor Ort, auch Neonazis der
Splitterpartei „Die Rechte“ oder des III. Wegs. Ein Demonstrant fordert
Solidarität mit der inhaftierten Holocaustleugnerin Ursula Haverbeck.
Die Mitdemonstrierenden scheinen sich nicht weiter daran zu stören. Auch
die Polizei lässt sie zunächst gewähren. Dafür sind es einige hundert
Antifa-AktivistInnen, die in Demonähe ihren Protest gegen die
Rechtsextremen ausdrücken. Die Polizei aber drängt sie schnell ab, hält sie
von den CoronaskeptikerInnen fern.
Zu Gewalt kommt es dann aber vor der russischen Botschaft, wo sich die
Reichsbürger festsetzen. Die Stimmung dort droht zu kippen, der Polizei
wird „Wir sind das Volk!“ und „Widerstand!“ entgegengeschrien. Aus der
Menge fliegen Glasflaschen, die Polizei setzt vereinzelt Pfefferspray ein
und nimmt immer wieder Demonstrierende fest. „Keine Gewalt!“, schreien die
Demonstrierenden.
Gegen 17 Uhr ist es wieder ruhig, die Menschenmenge vor der russischen
Botschaft soll aufgelöst werden. Die Durchsagen der Polizei quittieren die
Demonstrierenden mit „Wir bleiben hier!“ und „Hinsetzen!“-Rufen. Anstat…
gehen, lassen sie sich lieber von der Polizei mitnehmen. Die Pose des
Märtyrers, sie gefällt hier vielen.
Auch vor dem Bundestag, wo der nach rechts abgedriftete Vegankoch Attila
Hildmann auftritt, werfen laut Polizei einzelne Teilnehmer Absperrgitter
um, dringen in den gesperrten Bereich ein. Auch sie werden von der Polizei
gestoppt. Später wird Hildmann vor der russischen Botschaft festgenommmen,
wie auch 200 weitere Personen. Zu den genauen Hintergründen der Festnahme
des Kochs will sich Innensenator Geisel auf seiner abendlichen
Pressekonferenz aber nicht äußern.
## Einige Demonstrierende haben Zelte dabei
Als prominenten Gast kündigt Querdenken 711 auf der Kundgebung an der
Siegessäule den US-Rechtsanwalt, Umweltaktivisten und Impfgegner Robert
Francis Kennedy junior an. Der Neffe des US-Präsidenten John F. Kennedy
wendet sich in seiner Rede vor den DemonstrantInnen gegen den Aufbau des
neuen 5G-Mobilfunknetzes, warnt vor einer Totalüberwachung und attackiert
in diesem Zusammenhang unter anderem Microsoft-Gründer Bill Gates.
[7][Demo-Anmelder Michael Ballweg] selbst geht auf der Bühne nicht auf die
tumultartigen Szenen vor der russischen Botschaft ein. „Rechtsextremismus
und Linksextremismus haben in unserer Bewegung keinen Platz“, erklärt er.
Und raunt von „bezahlten Aggressoren“, die in den Protest eingeschleust
würden. Dennoch geben sich etliche Sprechchöre und Banner wenig
friedfertig. Gleich gegenüber der Bühne heißt es bezogen auf die Regierung:
„Sperrt sie endlich weg!“ Auf Schildern werden der Virologe Drosten,
Kanzlerin Merkel und andere Politiker in Sträflingskleidung gezeigt,
zusammen mit dem Slogan „Schuldig“. Andere Schilder fordern: „Stoppt den
Putsch des Merkel-Regimes.“
Und Ballweg schlägt sogar noch die Brücke zu Reichsbürgern. Das Grundgesetz
sei ausgehöhlt, sagt auch er. Nicht der Bundestag, sondern der Souverän –
also sie selbst – müssten wieder die Macht übernehmen. Deshalb wolle man in
den nächsten Tagen auch „an einer neuen Verfassung arbeiten“, hier vor Ort
auf dem Kundgebungsgelände.
Schon im Vorfeld hatte Ballweg und sein Querdenken 711 angekündigt, diesmal
nicht nur zu demonstrieren, sondern zu bleiben – mit einem Protestcamp vor
den Brandenburger Tor. Eine dafür angemeldete Dauerkundgebung erlaubte das
Oberverwaltungsgericht letztlich ebenfalls. Tatsächlich haben einige
Demonstrierende Zelte dabei, die Kundgebung zieht sich bis in den Abend.
Und sie wird wieder für Diskussionen sorgen. So viel ist sicher.
29 Aug 2020
## LINKS
[1] /Bund-Laender-Gipfel-zu-Coronamassnahmen/!5710464
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[4] /Coronaproteste-in-Berlin/!5705179
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[7] /Koepfe-der-Corona-Relativierer/!5681132
## AUTOREN
Konrad Litschko
Mitsuo Iwamoto
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