| # taz.de -- Jens Spahn über Corona: „Zweifellos hat es Leid gegeben“ | |
| > Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) über die Pandemie, über Reichsbürger | |
| > vor dem Parlament – und den Patriotismus der Grünen. | |
| Bild: Weitblick ist in der Pandemie nicht immer leicht zu haben: Spahn auf der … | |
| taz: Herr Spahn, Sie wurden neulich von wütenden Bürgern angebrüllt, | |
| ausgebuht und als „Arschloch“ beschimpft. Woher kommt dieser Hass? | |
| Jens Spahn: Das frage ich mich auch. Ich habe noch keine abschließende | |
| Erklärung. Antworten versuche ich im Gespräch zu finden, das ich immer | |
| wieder aufs Neue anbiete. Damit das stattfinden kann, muss es aber die | |
| Bereitschaft geben, einander zuzuhören. Oder sich ein paar Sekunden lang in | |
| den anderen hineinzuversetzen und zu überlegen, warum er eine bestimmte | |
| Position vertritt. | |
| Sie, der Vertreter des Staates, werden von manchen offenbar als Diktator | |
| wahrgenommen. | |
| Corona betrifft uns alle. Deshalb gibt es auch viele emotionale Reaktionen. | |
| Das verstehe ich. Ob es der Mund-Nasen-Schutz ist, der nervt, ob es | |
| Einschränkungen im Alltag sind – das spüren alle unmittelbar. Die Frage | |
| ist, wie man damit umgeht. Ich habe mit Eltern in Nordrhein-Westfalen | |
| gesprochen, die sich über die Maskenpflicht für Kinder im Schulunterricht | |
| ärgerten. Darüber kann man reden. Bei einigen schlug das jedoch in echte | |
| Aggressivität um. | |
| Wie gehen Sie damit um? | |
| Ich lege meine Argumente dar. Es geht bei dieser Krise nicht um eine | |
| absolute Wahrheit, sondern darum, einen Ausgleich zu finden zwischen | |
| verschiedenen Bedürfnissen. Wie schützen wir Schwächere so, dass der Alltag | |
| trotzdem noch funktioniert? Wie wägen wir Sicherheit gegen Freiheit ab? | |
| Solche Fragen muss man nüchtern, manchmal auch nach einer Kontroverse | |
| klären. Wenn allerdings geschrien und gebrüllt wird, wenn es heißt: „meine | |
| Position oder keine“, dann fehlt die Grundlage für Gemeinschaft. | |
| Uns erinnern die Szenen an 2015, als Merkel vor einem Flüchtlingsheim in | |
| Heidenau wüst beschimpft wurde. Sehen Sie Ähnlichkeiten? | |
| Viele erleben diese aggressiven Umgangsformen, und besonders intensiv im | |
| Internet. Vielleicht war diese laute, radikale und | |
| verschwörungstheoretische Minderheit schon immer da – und kann sich jetzt | |
| über das Internet nur besser organisieren. | |
| Sie haben sich Ende März mit dem ersten [1][Bevölkerungsschutzgesetz] dazu | |
| ermächtigen lassen, während der Pandemie geltendes Recht mit Verordnungen | |
| auszuhebeln. Ist es an der Zeit, diese Sonderbefugnis rückgängig zu machen? | |
| Das wäre jetzt der falsche Schritt. Wir sind noch mitten in der Pandemie. | |
| Da müssen wir schnell reagieren können, wenn es nötig ist. | |
| Es wäre ein Signal, dass es Ihnen nicht ums Durchregieren geht. | |
| Es geht darum, möglichst schnell wichtige Entscheidungen für die | |
| bestmögliche Gesundheitsversorgung treffen zu können. Zum Beispiel bei den | |
| Testverordnungen: Die Patientinnen und Patienten hätten wenig Verständnis, | |
| wenn sie nicht untersucht würden, weil monatelang gestritten wird, wer nun | |
| welchen Coronatest bezahlt. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten Sicherheit. | |
| Dafür sind die Sonderbefugnisse da. Außerdem hat das Parlament jederzeit | |
| die Möglichkeit, einzugreifen. Und die Sonderbefugnisse enden wieder, | |
| spätestens Ende März 2021. | |
| Sie spielen als Gesundheitsminister in der Krise eine zentrale Rolle. | |
| Welche Fehler haben Sie gemacht? | |
| Zweifellos hat es Leid gegeben, etwa durch die Besuchsverbote in den | |
| Pflegeheimen. Dieses Leid ist entstanden, um anderes Leid und Tod zu | |
| vermeiden. Gibt es hier Schuld? Hätte Leid vermieden werden können? Mich | |
| bewegen diese Fragen. Vieles wissen wir leider erst im Rückblick. In der | |
| konkreten Situation haben wir in damals sehr unsicherer Lage nach bestem | |
| Wissen und Gewissen entschieden, um die Schwächsten und die Höchstbetagten | |
| zu schützen. | |
| Die Kontaktverbote, die Geschäfts- und Schulschließungen waren | |
| verhältnismäßig? | |
| Wir waren immer näher am schwedischen Weg als am spanischen, auch wenn | |
| manche etwas anderes behaupten. Wir sind im internationalen Vergleich den | |
| liberalen, stärker auf Eigenverantwortung setzenden Weg gegangen. Und wir | |
| sind bis hierhin sehr erfolgreich. In welchem Land wollen die Coronaleugner | |
| eigentlich lieber sein? In Brasilien, Russland, USA? | |
| Die nächste Pandemie wird kommen, prophezeien Virologen. Was können wir aus | |
| Corona lernen? | |
| Eines unserer Erfolgsrezepte ist, dass wir in Deutschland bis heute in der | |
| Lage sind, die Kontakte von Infizierten nachzuverfolgen. So werden viele | |
| Infektionsketten frühzeitig durchbrochen und die Dynamik des Virus stark | |
| gebremst. Das liegt vor allem an unseren guten und engagierten | |
| Gesundheitsämtern in den Rat- und Kreishäusern. Sie stärken wir nun mit | |
| noch einmal 4 Milliarden Euro. Ich habe die vielen Wissenschaftler, | |
| Forschungsinstitute und Universitäten neu wertschätzen gelernt. Deren | |
| Expertise können und sollten wir noch stärker nutzen, auch außerhalb einer | |
| Pandemie. | |
| Wir erinnern uns an fehlende Schutzkleidung, Masken und Desinfektionsmittel | |
| – in Notaufnahmen. | |
| Zu Anfang der Pandemie, könnten Sie fairerweise dazusagen. Und ja, beim | |
| nächsten Mal werden wir uns besser bevorraten. Obwohl es immer etwas geben | |
| wird, das fehlt. Wer hätte etwa gedacht, dass einfache Wattestäbchen für | |
| Abstriche knapp werden könnten? Hinterher weiß man jedenfalls genau, was | |
| und wie viel man wann hätte lagern müssen. Wichtig für die Zukunft ist: | |
| Pandemiepläne nicht nur aufzuschreiben, sondern auch zu üben, in | |
| Pflegeheimen und Krankenhäusern, auch im Bund. Darauf werden wir künftig | |
| achten. Und wir werden mit Sicherheit das Infektionsschutzgesetz | |
| überarbeiten. | |
| Warum? | |
| Das Gesetz wurde weder für eine Pandemie ausgelegt noch für | |
| Reiserückkehrer, die man in Quarantäne nehmen muss. Sondern eher für den | |
| Masernausbruch im örtlichen Kindergarten. | |
| Schauen wir generell zu viel auf diejenigen, die pöbeln, schimpfen und sich | |
| ihre ganz eigene Welt zurecht basteln? | |
| Ja. Die übergroße Mehrheit achtet auf sich und andere. Die allermeisten | |
| Bürgerinnen und Bürger in Deutschland verhalten sich sehr besonnen und sind | |
| offen für Argumente. Wir können – bei aller nötigen Demut – auch stolz s… | |
| auf das Erreichte. Die ganze Welt fragt sich, wie Deutschland so gut durch | |
| die Krise gekommen ist. Nur wir selbst nehmen das manchmal nicht | |
| ausreichend wahr. | |
| Aber kritische Debatten sind in einer solchen Krise nötiger denn je, oder? | |
| Selbstverständlich. Sie sind sogar überaus wichtig. Bei der Bewältigung der | |
| Pandemie geht es um grundsätzliche Güter, um die Abwägung von Freiheit und | |
| Sicherheit, um soziale Fragen. Da wäre es seltsam, gäbe es keine Debatten. | |
| Aber jede Kontroverse ist leichter auszuhalten, wenn man am Ende noch weiß: | |
| Wir alle gehören zu einem großen Ganzen. | |
| Sie verwenden schon länger den Begriff „weltoffener Patriotismus“. Was | |
| verstehen Sie darunter? | |
| Ich finde es wichtig zu wissen, woher man kommt. Je besser man weiß, was | |
| einen geprägt hat und ausmacht, wo die eigene Heimat ist, desto offener | |
| wird man für Neues. Das gilt für den Einzelnen, aber auch für die ganze | |
| Gesellschaft. Unsere Nation mit ihrer liberalen Demokratie wird es in | |
| Zukunft nur geben, wenn es Menschen gibt, die sich als Deutsche verstehen | |
| und als Gemeinschaft empfinden. Dafür braucht es eine gemeinsame Erzählung | |
| und einen gemeinsamen Nenner. Unser Land, unsere Kultur und unser | |
| Grundgesetz sind großartig. Wer hätte 1949 daran geglaubt, dass die | |
| Bundesrepublik Deutschland gut 70 Jahre später in der ganzen Welt geachtet | |
| wird, eingebettet in ein friedliches, wohlhabendes Europa? Aus unserer | |
| Geschichte kann man Zuversicht für die Zukunft ziehen – und auch ein | |
| bisschen Stolz. | |
| Und jeder darf mitmachen? | |
| Ich verstehe Patriotismus nicht als abgeschlossenes, sondern als | |
| einladendes Konzept. Wer mit uns die 20er Jahre gestalten will, wer sich zu | |
| unseren Werten bekennt – Freiheit, Solidarität miteinander, der Idee, dass | |
| Leistung sich lohnen muss –, der ist herzlich willkommen. Unsere Republik | |
| ist vielfältig. Ich definiere Zugehörigkeit zur Gemeinschaft nicht nach dem | |
| Stammbuch. Weltoffener Patriotismus heißt übrigens auch, manche mit | |
| Stammbuch abzulehnen. | |
| Was meinen Sie damit? | |
| Wer mit einer Reichsflagge in der Hand die Stufen des Parlamentes stürmt, | |
| ist kein Patriot. Der tritt die Werte unserer liberalen, demokratischen | |
| Nation sprichwörtlich mit Füßen. | |
| Grünen-Chef Robert Habeck forderte schon 2010 [2][in einem Buch einen | |
| linken Patriotismus], um ein neues Gemeinschaftsgefühl zu stiften. Ist | |
| Ihnen klar, dass Sie sehr ähnlich klingen? | |
| Mein Eindruck ist, dass Robert Habeck das Wort Patriotismus vor allem | |
| nutzt, um seine linke Zukunftserzählung zu entwickeln. Bei ihm kommt mir | |
| das „Wissen, woher man kommt“, das Bewusstsein für Traditionen und | |
| gewachsene Kultur zu kurz. Da soll das Wort Patriotismus wohl eher | |
| Beliebigkeit überdecken. | |
| Die Grünen präsentieren sich als staatstragende Kraft, loben die Polizei | |
| und wollen staatliche Institutionen schützen. Wie gefährlich ist diese | |
| Konkurrenz für die CDU, die sich seit jeher als Rechtsstaatspartei sieht? | |
| Na ja, wer sind denn die Grünen? | |
| Sagen Sie es uns. | |
| Ich schätze Robert Habeck, Annalena Baerbock, Katrin Göring-Eckardt oder | |
| Winfried Kretschmann sehr, aber sie stehen nicht für die gesamte Partei. Es | |
| gibt einige Realos als Aushängeschilder, aber die Mehrheit auf | |
| Grünen-Parteitagen haben am Ende die Fundis. Es ist gut, dass Herr | |
| Kretschmann innere Sicherheit wichtig findet. Aber grün ist eben auch | |
| Monika Herrmann, die Bürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg, die den | |
| Drogendealern in ihrem Kiez im Zweifel noch extra Schutzzonen einrichtet | |
| und Hausbesetzungen verteidigt. | |
| Sie misstrauen den Habeck-Baerbock-Grünen? | |
| Entscheidend ist, wer am Ende das Sagen hat. Kluge Worte sind das eine, | |
| Programmatik und Parteitage sind das andere. Die Grünen sind eine linke | |
| Partei. Ich habe meine Zweifel, dass es Teil der grünen Identität ist, sich | |
| zu Deutschland und seinen Symbolen zu bekennen, zur Nationalhymne oder zu | |
| Schwarz-Rot-Gold. | |
| Habeck und Baerbock haben eine Sommerreise unter das Motto „Des Glückes | |
| Unterpfand“ gestellt. Ist das nicht deutlich genug? | |
| Das war ein Reisemotto. Wirklich glauben mag ich es erst, wenn die Grünen | |
| am Ende ihrer Parteitage die Nationalhymne singen – wie es die CDU tut. Das | |
| wäre ein deutliches Zeichen des Patriotismus. | |
| Machen Sie das zur Bedingung für ein Bündnis nach der Bundestagswahl? | |
| Nein, ich bin für voraussetzungsfreie Gespräche. Es ist gut und wichtig, | |
| dass sich die demokratischen Parteien voneinander unterscheiden. Und eine | |
| Zusammenarbeit wird einfacher, wenn Unterschiede sichtbar sind. | |
| Uns sind die Grünen ja oft etwas zu staatstragend. | |
| Auch das Verhältnis der Grünen zum Staat ist höchst ambivalent. Einerseits | |
| sind sie selbstbewusste Staatsgewalt, siehe Baden-Württemberg. Gleichzeitig | |
| ist ihr Berliner Justizsenator das personifizierte Misstrauen gegen die | |
| Staatsgewalt, vor allem gegenüber Polizisten und Polizistinnen. Der | |
| Berliner Senat gängelt die Polizei, wo er nur kann. | |
| Wie kommt es dann, dass sie Ihnen das Wasser abgraben? Bei der Landtagswahl | |
| in Bayern haben die Grünen viele konservative WählerInnen für sich | |
| gewonnen, in Hessen lief es genauso. | |
| Da übertreiben Sie. Die Grünen nähern sich der Union an. Es wird ja gerne | |
| darüber philosophiert, wie sozialdemokratisch oder grün die CDU inzwischen | |
| sei. Ich finde, es ist umgekehrt: Die Regierungsgrünen wollen immer mehr | |
| wie die CDU sein, inhaltlich und habituell. | |
| Nochmal: Wie verhindern Sie, dass die Grünen bei der Bundestagswahl im | |
| konservativen Revier wildern? | |
| Indem wir uns dem Wettbewerb stellen und uns klar abgrenzen. Wir haben den | |
| Anspruch, die Wählerinnen und Wähler in der Mitte zu halten, aber auch die | |
| ehemaligen CDU-Wählerinnen und -Wähler zurückzugewinnen, denen Rechtsstaat | |
| und die Begrenzung von Migration wichtig sind. Wir sollten auch all den | |
| Facharbeitern ein Angebot machen, die sich bei der SPD nicht mehr gut | |
| aufgehoben fühlen. Ihnen stößt ja die SPD-Vorsitzende Saskia Esken mit | |
| ihrem verkopften, ideologischen Linkskurs jeden Tag vor den Kopf. Dasselbe | |
| tun die Grünen bei bürgerlichen Wählern mit ihren Defiziten bei innerer | |
| Sicherheit und der mangelnden Unterstützung der Polizei. | |
| Ist Klimaschutz die Megafrage des 21. Jahrhunderts? | |
| Klimaschutz ist ein entscheidendes Thema – keine Frage –, aber es ist nicht | |
| das einzige. Wir werden der Komplexität dieser Welt nicht gerecht, wenn wir | |
| alles auf ein Megathema reduzieren. Die sozialen Fragen bleiben, die | |
| Digitalisierung, der demografische Wandel. Das beste Klimaschutzkonzept | |
| nützt nichts, wenn gleichzeitig der Wohlstand und der soziale Ausgleich | |
| verloren geht. | |
| Wo sehen Sie Chancen einer schwarz-grünen Koalition? | |
| Wir sollten über Koalitionen reden, wenn es so weit ist. Prinzipiell kann | |
| eine Koalition zweier unterschiedlicher Parteien Brücken bauen in der | |
| Gesellschaft, Risse kitten und langjährige gesellschaftliche Konflikte | |
| befrieden. Ich bin übrigens einer der wenigen CDUler, die mal auf einem | |
| grünen Bundesparteitag waren … | |
| Und, war ’s schlimm? | |
| Es ist schon eine Weile her. 2010 war das, in Freiburg. Parteikulturell ist | |
| das schon etwas anderes. Wobei: Als ich durch den Sponsorenbereich ging, | |
| wurde klar: So gewaltig sind die Unterschiede dann doch nicht. | |
| 12 Sep 2020 | |
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