| # taz.de -- Demo gegen Coronamaßnahmen: Muss man das aushalten? | |
| > Die Proteste vom Wochenende müsse eine Demokratie wegstecken, behaupten | |
| > manche. Das ist zynisch, wo sich doch Risikogruppen seit Monaten | |
| > isolieren. | |
| Bild: Aufnahme vor dem Bundestag am Tag der Demonstrationen | |
| Der bequemste Satz dieser Tage ist wohl: „Das wird eine Demokratie | |
| aushalten müssen.“ Er fiel sehr oft im Zusammenhang mit den Demonstrationen | |
| gegen [1][Coronamaßnahmen vom vergangenen Wochenende]. Das sei zwar alles | |
| ärgerlich und störend und bizarr, aber auch legitim. Wer aber sind die | |
| Leute, die diesen Satz sagen? Nach meiner Privatempirie sind das in erster | |
| Linie Menschen, die selbst nicht allzu viel auszuhalten haben. Für sie | |
| bleibt die Gewalt, die von diesen Demonstrant'innen ausgeht, eine | |
| abstrakte, theoretische Frage. | |
| Die Demonstrant’innen vom Wochenende sind Teil dessen, was der Historiker | |
| und Publizist Volker Weiß „die autoritäre Revolte“ genannt hat. Die sich | |
| liberal gebende Gegenrede, dass man diese Revolte eben aushalten müsse, ist | |
| in sich allerdings auch autoritär: Sie nimmt die Demonstrant’innen nicht | |
| ernst, glaubt ihnen kein Wort, behandelt sie wie verwirrte Kinder oder | |
| abstruse Gestalten. Die Verniedlichung und Verkindlichung der Proteste geht | |
| mit einer paternalistischen Draufsicht einher, die immer behauptet, die | |
| Demokratie als Ganzes im Blick zu haben. Als wäre man als Kommentator’in | |
| nicht Teil einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung, sondern | |
| Bundesverfassungsrichter’in in spe. | |
| Die Demonstrationen haben Bilder geliefert, die je nach Disposition | |
| Besorgnis, Faszination oder sogar Amüsement ausgelöst haben. Die | |
| Zusammenschnitte von Interviews mit Teilnehmer’innen, mit brüllenden Hools, | |
| erleuchteten Christ’innen und singenden Hippies, sind zigtausendfach | |
| geteilt worden. Sie waren eben auch Entertaining: sehr viel interessanter | |
| und kurzweiliger jedenfalls als [2][die Situation der sogenannten | |
| Risikogruppen], die sich schon seit Monaten so weit es geht isolieren. Noch | |
| immer halten viele Heime Kontaktbeschränkungen aufrecht, die einem Lockdown | |
| sehr nahe kommen. | |
| Es stellen viel zu wenige Leute die Frage, was ein Demonstrationsrecht in | |
| Zeiten einer Pandemie bedeutet, wenn die Leute, die aus Eigeninteresse zu | |
| einer Gegendemo oder Blockade gehen würden, nicht hinauskönnen, ohne um | |
| ihre Gesundheit fürchten zu müssen. Sei es, weil sie Opfer rassistischer, | |
| antisemitischer oder LGBTQI-feindlicher Übergriffe werden können. Sei es, | |
| weil sie die Ansteckung mit dem Virus fürchten müssen. | |
| ## Relevant fürs System | |
| Die mahnenden Stimmen, jetzt bloß nicht überzudramatisieren, denn im Grunde | |
| sei auch nicht groß etwas passiert, schließen sich sehr gut an den | |
| populären Hashtag #covidioten, der so tut, als wären diese Menschen | |
| unzurechnungsfähig und nicht ernst zu nehmen. Dabei ist viel naheliegender, | |
| dass den Demonstrant’innen einfach alles egal ist außer ihnen selbst. Es | |
| ist nicht so kompliziert: Sie stehen für das Recht ein, das Virus | |
| verbreiten zu dürfen. Egoman und privilegiert zu sein, ist aber keine | |
| psychische Erkrankung. Es ist nur eine Zumutung für alle, die mit ihnen | |
| notgedrungen zu tun haben müssen. Am Samstag machen sie einen Ausflug auf | |
| einen potenziellen Superspreading-Event, am Montag schicken sie ihre Kinder | |
| wieder fröhlich in die Schule. | |
| Währenddessen hat der Impfstoffexperte Dr. Tobias Witte am Wochenende bei | |
| Radio eins darauf gepocht, dass, wenn es einen Impfstoff geben werde, | |
| zunächst die sogenannten Systemrelevanten davon profitieren sollten und | |
| danach dann die Multiplikatoren. Erst dann wären die Risikogruppen an der | |
| Reihe. Jene, die auch jetzt schon den größten Preis bezahlen, sollen sich | |
| also wieder hinten anstellen. | |
| Von der universalistischen Linken ist bei diesen Verteilungskämpfen wenig | |
| Unterstützung zu erwarten, weil sie sich Betroffenenperspektiven | |
| verschließt. Ihre Kritik an Identitätspolitik immunisiert sie, deswegen | |
| nehmen sie sich auch nicht mehr als Teil von politischen Kämpfen wahr, | |
| sondern kommentieren sie bloß noch. Der Satz „Das wird eine Demokratie | |
| aushalten müssen“ ist der Sesselfurz im Diskurstheater. Die Frage ist nur: | |
| Wie viel passive Draufsicht verträgt so eine Demokratie eigentlich? | |
| 1 Sep 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Frédéric Valin | |
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