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# taz.de -- Impfstoff gegen Corona: Alle Welt wartet
> Während Covid-19 überall wütet, sichern die reichen Länder sich vorab
> Impfstoffe. Doch vielleicht gibt es eine Lösung.
Bild: Die Fotos stammen aus der Serie „One“. Sei zeigt Menschen mit Mundsch…
Der Parkplatz des Krankenhauses gleicht einer Zeltstadt. Planen schirmen
Patient*innen notdürftig ab, überall zieht der Wind rein. Eine Sackkarre
steht neben ein paar grauen Gasflaschen, die nach Baustelle aussehen. Es
ist die Covid-19-Station einer südafrikanischen Kleinstadt im Osten des
Landes. Wer hier liegt, der kämpft mit dem Leben, dem raubt Covid-19 die
Luft.
Gefilmt hat diese bizarre Szene eine junge Frau, deren Vater in der
provisorischen Zeltstadt starb. Das war Anfang August. Den Parkplatz
bezeichnet seine trauernde Tochter als Leichenschauhaus.
Das Video ging viral. Es zeigt ein Land, das im Gesundheitsnotstand ist, so
wie viele Länder momentan.
Seit Monaten werden [1][laut] Johns-Hopkins-Universität täglich 200.000 bis
300.000 neue Infektionen weltweit nachgewiesen. Über 800.000 Menschen sind
bisher insgesamt an dem Virus gestorben, weit mehr als durch eine starke
Grippeepidemie. Täglich kommen Tausende hinzu, die traurige Kurve der
Verstorbenen weltweit wird nicht flacher.
Forscher, Konzerne und Regierungen arbeiten deshalb unermüdlich an
Therapien und dem ersehnten Impfstoff. [2][Mehr als 170 Forschungsprojekte]
sind es auf der ganzen Welt. Als wäre der Impfstoff das Wettrennen zum
Mond, hat Russland jüngst stolz den ersten Wirkstoff zugelassen, allerdings
völlig unzureichend getestet. „Furchtbar“ sei dieses „russische Roulette…
kommentierte der Kölner Infektiologe Gerd Fätkenheuer im Kölner
Stadt-Anzeiger. US-Präsident Donald Trump holte nach und erteilte
vergangene Woche eine Notfallgenehmigung für eine auf Plasma gestützte
Behandlungsmethode. Ihr Nutzen: unbekannt.
Die Entwicklung geht so schnell wie nie. Zehntausende Menschen lassen
Impfstoffe an sich testen – in Großbritannien, Brasilien, den USA, China,
Deutschland und vielen anderen Ländern. Sechs Wirkstoffe befinden sich in
der finalen Phase III, dem Massentest vor einer Zulassung, darunter der
Stoff der Mainzer Firma BioNTech. Drei weitere sind in Phase II, mit dabei
das Tübinger Unternehmen CureVac.
Expert*innen sprechen von einer nie dagewesenen Kooperation zwischen
Staaten und Unternehmen, einer Reaktion in Rekordzeit. Coronatests und
Forschungen waren auch deshalb so schnell möglich, weil Informationen über
das Virus, etwa sein genetischer Bauplan, frei geteilt wurden. Die
Menschheit hat aus vergangenen Seuchen gelernt. Aus Ebola, Mers, Sars, der
Schweinegrippe und HIV.
Und trotzdem schimmert überall noch nationaler Egoismus durch. Baldige
Hilfe ist möglich, aber die entscheidende Frage über Leben und Tod in
vielen Ländern ist: Wer bekommt wie schnell einen Impfstoff? Diejenigen,
die ihn am Dringendsten brauchen? Oder die am meisten zahlen?
Fragt man Salim Abdool-Karim, was mehr zählt, Not oder Profit, dann lacht
er. Abdool-Karim ist Epidemiologe, Professor an der US-amerikanischen
Eliteuniversität Cornell, Südafrikaner und ein Veteran im Kampf gegen
tödliche Viren. An diesem Morgen im August sitzt er in seinem Büro in
Durban, das Interview findet per Video statt. Abdool-Karim ist an der
Universität stellvertretender Rektor der Forschungsabteilung. Er trägt
einen dunkelblauen Anzug und winkt freundlich in die Kamera.
Anfang der 2000er Jahre war er einer der Pioniere im Kampf gegen HIV.
Damals lebten mehr als 4 Millionen Menschen mit dem Virus, fast 20 Prozent
der Bevölkerung Südafrikas. Die meisten so arm, dass sie sich die teuren
Medikamente nicht leisten konnten.
Erst als ein Rechtsstreit zwischen der südafrikanischen Regierung und 39
multinationalen Pharmakonzernen 2001 beigelegt werden konnte, wurden die
Medikamente günstiger. Generika, vor allem aus Asien, ersetzten nun die
teuren Originale.
Abdool-Karim kämpfte damals als Mediziner und Aktivist. Er sprach offen
über die Profitsucht der Konzerne. Heute sitzt er als Berater der
südafrikanischen Regierung im Coronakrisenstab.
613.000 Infizierte, überlastete Krankenhäuser und mehr als 13.000 Tote. Das
ist die Größenordnung der Aufgabe, die Abdool-Karim zu stemmen hat.
Gemeinsam mit anderen Expert:innen versucht er, das Land durch die Krise zu
führen und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass Südafrika etwas abbekommt vom
begehrten Impfstoff, und zwar so schnell wie möglich.
Denn wer in Südafrika an einem schweren Verlauf von Covid-19 erkrankt, für
den ist die Wahrscheinlichkeit zu sterben wegen des schlechten
Gesundheitssystems wesentlich höher als in Deutschland oder anderen
EU-Staaten. Die Geschichte des viralen Videos aus Südafrika steht
exemplarisch für Hunderttausende Schicksale in fast allen
Entwicklungsländern.
Wer Geld hat, sichert sich einen Impfstoff. Ein wildes Wettbieten um die
ersten Impfstoffe ist im Gange: Die EU kauft vorab 405 Millionen Dosen
eines möglichen Impfstoffs beim Tübinger Hersteller CureVac, bis zu 400
Millionen Dosen beim britisch-schwedischen Konzern AstraZeneca, der einen
von der Universität Oxford entwickelten Impfstoff produzieren will. Der
US-amerikanische Pharmariese Pfizer und das deutsche Unternehmen BioNTech
zeichneten ein Abkommen mit den USA über 100 Millionen Impfdosen für 1,95
Milliarden Dollar.
„Uns bleiben vermutlich nur die Reste“, sagt Abdool-Karim. „Die USA und
Europa haben bereits erste Verträge unterschrieben und sich einen Zugang
gesichert.“ Gewinnt also der Profit? So einfach ist die Sache nicht. Denn
Vorabverträge können auch Sinn ergeben. Die Frage einer gerechten
Verteilung und des Zugangs dazu beschäftigt auch Institutionen wie die WHO
und die EU-Kommission.
15,6 Milliarden Euro sammelte die EU-Kommission für den globalen Kampf
gegen das Coronavirus. Die Pandemie sei nur vorbei, wenn sie überall vorbei
sei, sagte Ursula von der Leyen, EU-Kommissionspräsidentin: „Das heißt,
dass jede Person auf der Welt Zugang zu Tests, Behandlungen und Impfstoffen
hat, egal, wo sie lebt, woher sie ist und wie sie aussieht.“
Bundeskanzlerin Angela Merkel so wie auch Frankreichs Präsident Emmanuel
Macron versicherten, der Impfstoff „sei ein globales Gut für alle
Menschen“. Macron verkündete: „Gesundheit kann man nicht kaufen und
verkaufen.“
Warum die EU sich aber trotzdem exklusiv Impfstoffe sichert, erklärt die
EU-Kommission in einem Strategiepapier: Das an die Konzerne gezahlte Geld
dient als Anzahlung für spätere Impfstoffe, damit die Entwicklung, Tests
und Zulassung beschleunigt und parallel Produktionsstätten aufgebaut werden
können. So gehe alles viel schneller und davon profitiere die ganze Welt,
schreibt die Kommission auf Anfrage.
Mittlerweile verhandelt die EU-Kommission Vorverträge über Impfstoffe für
alle Staaten der Union gebündelt. Alle Hersteller, die so oder durch andere
Fördertöpfe finanziert werden, müssen versprechen, auch Entwicklungsländern
Impfstoffe zur Verfügung zu stellen. Was genau in diesen Verträgen steht,
wie konkret sich Pharmakonzerne zur günstigen Abgabe von Impfstoffen an
Entwicklungsländer verpflichten – all das ist völlig intransparent.
Und vor allem heißt das nicht, dass die Impfstoffe nach Bedarf verteilt
werden. Die EU-Kommission schreibt auf Anfrage, man wolle nicht benötigte
Impfdosen an Entwicklungsländer spenden. Heißt übersetzt: Erst kommen wir,
dann die anderen.
Das zeigt auch das Beispiel Gavi, eine globale Impfallianz privater
Geldgeber, Staaten und Organisationen wie der WHO, der Gates Stiftung und
der Weltbank. Gavi hat den Auftrag, den Zugang zu Impfstoffen etwa gegen
Diphtherie, Tetanus oder Keuchhusten auch für Länder des globalen Südens zu
sichern und hat bereits mehrere Kooperationen angekündigt, etwa mit
AstraZeneca. Oder in Form eines Programms mit Namen ACT-Accelerator. Es
sieht vor, Dosen eines Corona-Impfstoffes von Unternehmen mit öffentlichen
und privaten Geldern einzukaufen und dann günstiger an einkommensschwache
Länder abzugeben.
Von dieser Kooperation könnten 92 Länder profitieren. Auch Südafrika.
Allerdings könnten nur rund 20 Prozent der südafrikanischen Bevölkerung
Zugang zu dem Impfstoff erhalten. Was aber immerhin für Risikogruppen und
medizinisches Personal ausreicht. Mehr Dosen sind in dem Programm nicht
vorgesehen. Und dann? Salim Abdool-Karim sagt, man müsse bei der Verteilung
Prioritäten setzen: Alte, Kranke und wichtiges Personal müssten zuerst
versorgt werden. Der Rest müsse warten. Vielleicht Jahre. Angesichts der
Erfahrungen Südafrikas mit HIV ist Abdool-Karims Sorge verständlich.
„Wir dürfen jetzt nicht die gleichen Fehler machen wie damals bei HIV“,
sagt eine, die ihr Leben einem Ziel gewidmet hat: dem universellen Zugang
zu wichtigen Medikamenten für alle Menschen. Ellen ’t Hoen heißt sie, heute
ist sie bei der in Amsterdam ansässigen Organisation Medicines Law &
Policy. Seit 30 Jahren arbeitet die Anwältin für ihr Ziel. Eines der
häufigsten Hindernisse für einen fairen Zugang zu Medikamenten waren in der
Vergangenheit die Eigentumsrechte von Pharmaunternehmen. Das
niederländische Königshaus verlieh ’t Hoen im Jahr 2020 für ihre Arbeit den
Orden von Oranien-Nassau, eine Art Bundesverdienstkreuz.
Anfang der Nullerjahre starben in Entwicklungsländern täglich 8.000
Menschen an Aids. Seit 1999 gab es antivirale Medikamente gegen HIV, die
vielen das Leben hätten verlängern können. In den Industrieländern waren
sie erhältlich, in Entwicklungsländern lange nicht. Indien produzierte zwar
Generika, weil es dort noch keinen Patentschutz gab, durfte sie aber nicht
exportieren. Besonders Südafrika litt darunter.
Auch wenn HIV und Sars-Cov-2 in vielerlei Hinsicht verschieden sind und es
bei HIV um Therapien, nicht um Impfungen ging: Die Geschichte könnte sich
bei Covid-19 im Zeitraffer wiederholen, fürchtet ’t Hoen. Aber, und deshalb
lohnt sich der Vergleich zwischen HIV und Sars-Cov-2: ’t Hoen und ihre
Mitstreiter*innen haben im Kampf gegen HIV und andere Seuchen die
grundlegenden Strukturen für die heutige Kooperation gegen Sars-Cov-2
geschaffen.
Darauf baut Carlos Alvarado Quesada auf, der Präsident und
Gesundheitsminister von Costa Rica, der zusammen mit der
Weltgesundheitsorganisation WHO im Mai einen Technologie-und Patente-Pool
zur Bekämpfung von Covid-19, abgekürzt C-Tap, vorgeschlagen hat.
Die Idee ist radikal: Um Covid-19 zu bekämpfen, braucht es nicht nur
Impfdosen und die Lizenz, sie herzustellen. Es braucht auch die nötigen
Technologien und rechtssichere Abkommen, sie zu verwenden, dazu das Wissen
über Produktionsabläufe, mögliche Therapien, die Logistik, die Software und
natürlich das Personal, um alles zu verwalten. Bündelte man die nötigen
Informationen dazu weltweit und für alle, müsste alles doch viel schneller
gehen.
Bisher haben 40 Länder ihre Unterstützung angekündigt, von den
Industrieländern allerdings nur Norwegen, Luxemburg, Niederlande und
Belgien. Das könnte sich aber bald ändern: Man befinde sich noch im Aufbau,
Gespräche mit der Industrie und mit Industrieländern liefen. „Wir hoffen,
wir können bald mehr dazu sagen“, sagt ein WHO-Sprecher.
Dass C-Tap absolut Sinn ergibt, für Menschen und Konzerne, zeigt das
Beispiel HIV. Im August 2008 kamen 25.000 Menschen zur 17.
Welt-Aids-Konferenz in Mexiko zusammen. Prominente sangen Lieder und es gab
zur Eröffnung flammende Appelle, die Seuche endlich gemeinsam zu bekämpfen.
Die Reden erinnern an die Appelle heute bei Covid-19.
Am Rande der Konferenz verhandelte Ellen ’t Hoen mit den Pharmariesen der
Welt, mit dem Ziel, wichtige Medikamente für Menschen in
Entwicklungsländern bezahlbar zu machen. ’t Hoen war damals Leiterin der
Politikabteilung bei Ärzte ohne Grenzen. Im Jahr 2010 wurde sie erste
Leiterin des Medicines Patent Pool von Unitaid, einer internationalen
Organisation, die für bezahlbare Medikamente gegen HIV/Aids, Malaria und
Tuberkulose arbeitet. Der Pool ist heute eine der Grundlagen für C-Tap.
Erst 2011 brachte das US-Unternehmen Gilead als erstes Pharmaunternehmen
Patente für ein Anti-HIV-Medikament in den Pool ein. Auch weil es ein gutes
Geschäft war: Gilead bekam 3 bis 5 Prozent Lizenzgebühren und einen
riesigen Markt. Andere Pharmaunternehmen folgten, heute sind 13 Medikamente
gegen HIV, drei gegen Hepatitis C und eines gegen Tuberkulose in
Entwicklungsländern bezahlbar.
Vor allem aber brachten die Konzerne auch neue, bessere Wirkstoffe ein, die
noch nicht genehmigt waren, inklusive des Wissens über ihre Herstellung.
„Die Generikahersteller konnten loslegen, sobald die Wirkstoffe genehmigt
waren“, sagt ’t Hoen. Diese Beschleunigung rettete Leben – deshalb müsse
das Prinzip jetzt auch bei Covid-19 angewandt werden, sagt die Anwältin.
’t Hoen ist nicht gegen geistiges Eigentum. „Patente sind keine Frage der
Moral, ihre Verwendung schon“, sagt sie. Sie sicherte mit dem Medicines
Patent Pool beide Seiten ab: die Industrie, die Lizenzgebühren erhielt, und
die Generikahersteller, die trotz Gebühren günstig und rechtssicher
Medikamente herstellen konnten. Zwar ist die Zahl der Menschen, die mit HIV
leben, seit 2009 auf heute circa 38 Millionen angestiegen. Dafür werden 25
Millionen Menschen mit Medikamenten behandelt.
Der Rest bekommt keine, weil die Infrastruktur fehlt oder Krieg herrscht.
Im Jahr 2009 bekamen nur rund 6 Millionen Menschen Medikamente, bei damals
33,3 Millionen Infizierten weltweit. Immer noch sterben fast 700.000
Menschen jährlich an durch Aids ausgelösten Krankheiten. Das sind aber
immerhin rund 40 Prozent weniger als 2010.
Derzeit ist allerdings wegen Covid-19 vielerorts die Versorgung mit
Medikamenten gegen HIV, die das Virus unterdrücken, unterbrochen. Sollte
sich das nicht ändern, könnte eine halbe Million Menschen an Aids erkranken
und sterben – wegen Maßnahmen gegen Covid-19.
Ist der Patentpool nun ein Erfolg? ’t Hoen seufzt am Telefon. „Die Antwort
hängt davon ab, an welchem Wochentag Sie mich fragen. Manchmal glaube ich,
wir haben enorme Fortschritte gemacht. Manchmal glaube ich, wir brauchen
ein ganz anderes System für medizinische Entwicklungen“, sagt sie. Vor
allem aber hätte die Zeit gezeigt, wie man die Pharmaindustrie dazu bringt
zu kooperieren.
Aus ihrer Sicht waren es vier wichtige Punkte: Öffentlicher Druck,
öffentliche Gelder, die glaubhafte Drohung mit staatlichen Zwangslizenzen
auf die Medikamente und Barack Obama. Der ordnete das National Institute of
Health [3][persönlich an], seine Patente auf HIV-Mittel als Erstes
allgemein zugänglich zu machen. Einer der treibenden Köpfe damals im
Hintergrund übrigens: der HIV-Experte Anthony Fauci, der heute Donald Trump
im Kampf gegen Covid-19 berät und allzu oft an seinem Chef verzweifelt.
Paul Fehlner ist niemand, der leicht verzweifelt. Der US-Amerikaner schützt
Entwicklungen von Pharmaunternehmen, Patente sind sein Leben. Von 2008 bis
2017 war er „Chef des geistigen Eigentums“ beim schweizerischen
Pharmaunternehmen Novartis, heute arbeitet er in gleicher Position beim
US-Biotech-Unternehmen Axcella. Mit seiner Haltung zu der weltweiten
Kooperation ist er aber in seiner Branche eine Ausnahme. Denn Paul Fehlner
glaubt nicht, dass diese das Ende von Patenten und dem Schutz geistigen
Eigentums von Pharmakonzernen bedeute. Es gehe nur darum, das Modell des
geteilten Wissens sinnvoll zu gestalten.
Die Erfahrungen mit Medikamenten gegen HIV und Tuberkulose hätten die
Dynamik in der Pharmaindustrie grundlegend verändert – und Covid-19 könnte
den Trend noch verstärken: „Die Industrie hat eingesehen, dass Länder mit
schlechter Ökonomie keine Märkte für ihre teuren Medikamente sind“, sagt
er. Es sei denn, sie werden gegen Lizenz dort billig hergestellt.
Zumindest teilweise haben die Konzerne das verstanden: Indische
Generikahersteller produzieren das Mittel Remdesivir von Gilead Sciences,
das den Krankheitsverlauf von Covid-19 abmildern soll, mittlerweile unter
Lizenz 80 Prozent billiger für die eigene Bevölkerung. Auch AstraZeneca hat
Vereinbarungen mit dem indischen Serum Institute geschlossen, einem der
größten Impfstoffproduzenten weltweit. Es soll den in Oxford entwickelten
Impfstoff als Generikum für Entwicklungsländer günstig herstellen.
Aus diesen Einzelfällen sollte ein Prinzip werden, sagen Fehlner und ’t
Hoen: „Wenn eine Impfung gegen Corona in Entwicklungsländern bezahlbar
zugänglich ist, dann macht das einfach zusätzliche Einnahmen für die
Unternehmen“, sagt Fehlner.
Es gibt weitere Zeichen der Hoffnung: Die Bill and Melinda Gates Foundation
hat ein Programm ins Leben gerufen, bei dem 15 Pharmakonzerne sämtliche
Daten zu bereits bekannten Wirkstoffen, die möglicherweise gegen Covid-19
helfen, teilen. „Das ist ein enormer Fortschritt im Vergleich zur letzten
Pandemie, dem Sars-Ausbruch 2002“, sagt Fehlner. Auch damals verursachte
ein neuartiges Coronavirus ein bis dahin unbekanntes schweres akutes
Atemwegssyndrom, kurz Sars. Damals forschten die Pharmakonzerne jeder für
sich an einem Gegenmittel.
Für Fehlner ist die Sache einfach. Wenn wie derzeit Milliarden an
öffentlichen Geldern an die Pharmaindustrie gehen, dann müsse das mit
klaren Auflagen verknüpft sein, nach dem Motto: Alles erforschte Wissen
wird geteilt, fertig. Staaten zahlen die Entwicklung für die Impfstoffe,
zahlen für Impfdosen und Produktionsstätten, bevor die Wirkung überhaupt
erwiesen ist. Damit nehmen sie der Industrie die Risiken ab.
„Die Öffentlichkeit kann jetzt aus ihrem Investment auch Profit erwarten:
dass Impfstoffe gegen Covid-19 deutlich früher zur Verfügung stehen, weil
das nötige Wissen geteilt wird“, sagt Fehlner. Diese Idee der WHO wäre
nicht das Ende, sondern der Beginn echten Wettbewerbs.
Mit der Pharmaindustrie über die Frage nach der globalen und gerechten
Verteilung eines möglichen Impfstoffes zu sprechen, ist kaum möglich. „Da
wir als Nasdaq-gelistetes Unternehmen derzeit eine Kapitalerhöhung
durchführen, ist es uns nach amerikanischen SEC-Regularien zu diesem
Zeitpunkt nicht möglich, Interviews zu führen. Sobald die Transaktion
abgeschlossen ist, stehen wir gerne wieder für Gespräche zur Verfügung“,
antwortet BioNTech, der deutsche Impfstoffhersteller und Partner des
Pharmariesen Pfizer auf Anfrage der taz. Eine ähnliche Antwort kommt vom
Tübinger Impfstoffentwickler CureVac.
Schließlich ist doch jemand bereit zu sprechen: Andy Powrie-Smith, Sprecher
von Vaccines Europe, einem Zusammenschluss der europäischen
Pharmaindustrie. Ein rundlicher Mann mit Brille, der sich per
Videointerview aus seinem Landhaus in Schottland zuschaltet, um die Sicht
der Konzerne zu schildern.
„Die Unternehmen befinden sich gerade in einer Entwicklungsphase“, sagt
Powrie-Smith und spricht von einer nie dagewesenen Zusammenarbeit zwischen
privaten Unternehmen, öffentlichen Forschungseinrichtungen und Staaten. Er
klingt begeistert.
Könnte also tatsächlich eine Verteilung gelingen, von der nicht nur die
G20-Staaten, sondern auch der Globale Süden profitiert? Powrie-Smith sieht
dabei vor allem die Regierungen in der Verantwortung: „Die Industrie
arbeitet an der Herstellung und an einer Produktion, die sicherstellt, dass
ein möglicher Impfstoff global verteilt werden kann“, sagt er. „Gerecht und
vor allem bezahlbar.“
Die Forderung von Staaten wie Costa Rica, die Pharmaindustrie solle ihre
Patente und ihr Wissen in einen gemeinsamen Pool einbringen, sieht er aber
genauso kritisch wie ein Großteil der Industrie. „Ich halte das für Unsinn
und zum jetzigen Zeitpunkt auch für gefährlich“, sagt etwa Albert Bourla,
Chief Executive von Pfizer. „Innovationen kosten nun mal viel Geld“,
verteidigt Powrie-Smith die Aussage seines Kollegen. Fortschritt in der
Entwicklung von Medikamenten sei ein jahrelanger Prozess. Würden Firmen
ihre Patente für einen möglichen Covid-19 Impfstoff einfach abtreten, seien
die langjährig aufgebauten Strukturen in Gefahr, Investoren würden
abspringen.
Doch die Idee des Pools ist ja nicht, Patente abzutreten, sondern sie offen
zur Verfügung zu stellen. Nicht keinen Profit zu machen, sondern weniger.
Fehlner fürchtet, bei einigen Managern herrsche ein lang gehegtes
Misstrauen, eigene Entwicklungen einfach zu teilen. „Die Branche denkt,
alles, was nicht direkt für mich ist, muss gegen mich sein. Ich vermute,
die haben die Idee, Ideen zu teilen, nicht wirklich kapiert“, sagt er.
Momentan läuft eine Testreihe zu einem möglichen Corona-Impfstoff in
Johannesburg, die einzige auf dem afrikanischen Kontinent. Getestet wird
der Impfstoff AZD1222 von AstraZeneca und der Universität Oxford. Erforscht
wird, wie die südafrikanische Bevölkerung auf den Wirkstoff reagiert, denn
der Wirkungsgrad hängt auch von sozialen und ökonomischen Faktoren wie
Einkommen und Lebensumständen ab. Auch in Brasilien läuft so eine Studie.
Besseren Zugang bekommen die beteiligten Länder allerdings nicht. „Durch
diese Studie sitzen wir immerhin mit am Tisch“, sagt Abdool-Karim.
Ellen ’t Hoen und Fehlner glauben, dass es für Länder wie Südafrika noch
nicht zu spät ist. Die Staaten müssten aber deutlich konsequenter
Pharmaunternehmen dazu verpflichten, öffentlich finanzierte Technologien
und Patente auch öffentlich zugänglich zu machen. Beide hegen die leise
Hoffnung, dass aus der Coronapandemie etwas Neues entstehen könnte:
Innovationsmodelle, die mehr auf Kooperation beruhen. Krankheiten könnten
so binnen Jahren, nicht Jahrzehnten besiegt werden. „In ein paar Jahren
sagen wir vielleicht: Corona, das war der Start eines neuen Modells in der
Medizinentwicklung“, sagt ’t Hoen.
Es sei Wahnsinn, sagt Fehlner, dass Pharmakonzerne weltweit gleichzeitig an
denselben Problemen forschen und die meisten ihre Ergebnisse immer noch
voreinander verstecken. Wie viel schneller könnten Krankheiten geheilt
werden, würde sich das ändern?
29 Aug 2020
## LINKS
[1] https://coronavirus.jhu.edu/map.html
[2] https://www.who.int/docs/default-source/coronaviruse/novel-coronavirus-land…
[3] https://obamawhitehouse.archives.gov/blog/2010/09/30/us-government-first-sh…
## AUTOREN
Ingo Arzt
Gesa Steeger
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