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# taz.de -- Berliner Stadtgrün-Politik: Es könnte grüner werden
> Die wachsende Stadt braucht mehr Wohnraum – aber auch mehr Grünflächen.
> Die „Charta für das Berliner Stadtgrün“ soll das Dilemma auflösen.
Bild: Eine neue und vorerst vor der Bebauung gerettete Grünfläche: das Tempel…
Darauf wären selbst die Hundertprozentler nicht gekommen. Als die
Initiative „100 % Tempelhofer Feld“ im Jahr 2014 für ein Bebauungsverbot
des ehemaligen Flughafengeländes warb – und den Volksentscheid gewann –,
ging es ihr um den Erhalt der einzigartigen innerstädtischen Weite, um
Kaltluftschneisen und Feldlerchen, um die Sichtbarkeit von Geschichte und
natürlich um viel Raum für Sport und Erholung.
Wie wichtig das mit dem Raum noch einmal werden könnte, wusste damals
niemand. Aber als in diesem Frühjahr der Coronalockdown auf der Stadt
lastete, kam dem 380-Hektar-Gelände eine ganz neue Bedeutung zu: Große
Menschenmengen konnten hier Sonne und Wind genießen, sich die Beine
vertreten und etwas weniger allein sein, und all das mit ausreichendem
Abstand. Was für ein Glück!
Natürlich leisteten auch die anderen Berliner Parks ihren Beitrag zum
physischen und psychischen Wohlbefinden der Menschen in der Krise. 2.500
davon gibt es nach offizieller Zählweise, wobei allerdings noch das
kleinste Fleckchen mitgerechnet wird, auf dem eine Parkbank und ein paar
Sträucher stehen statt Beton oder Blech. „Grünflächen haben einen
Public-Health-Auftrag“, sagt der Psychiater und Stressforscher Mazda Adli,
„sie sind unbedingt schützenswert, weil sie unserer Gesundheit so
zuträglich sind.“
Diese Erkenntnis geht immer mal wieder ein wenig unter, und manch einer
neigt dazu, das städtische Grün als reines Dekoelement zu betrachten. Aber
schon als vor 150 Jahren Gustav Meyer zum ersten Gartenbaudirektor Berlins
ernannt wurde, war klar, dass es den Menschen in einer Großstadt nicht gut
gehen kann ohne Orte, wo Bäume Schatten spenden, wo man sich im Gras
niederlassen kann oder der Blick über eine Wasserfläche schweift. Die über
die ganze Stadt verteilten Volksparks leisteten das, und um ihre
ursprüngliche Bedeutung zu erahnen, muss man einfach einmal versuchen, sich
die ungesunde Enge und die schlechte Luft der damals entstehenden
Mietskasernenstadt vorzustellen.
Aber das Berliner Grün, zu dem natürlich auch die Wälder, die Friedhöfe,
die Kleingartenanlagen oder die knapp 450.000 Straßenbäume zählen, kann
noch viel mehr als das. Längst besteht Einigkeit über deren direkten Nutzen
für die AnwohnerInnen sowie die übergeordneten Funktionen dieser Flächen:
Sie bieten Pflanzen und Tieren ökologische Nischen, und sie haben großen
Einfluss auf das Klima in der Metropole, sie kühlen, verbessern die Luft
und speichern Regenwasser, das sonst ungebremst in die Kanalisation
rauschen würde – die heute so gefürchteten Abwasserüberläufe in Spree oder
Landwehrkanal nach extremem Starkregen wären quasi der Normalfall.
## „Verantwortung und Verpflichtung“
„We the People“, lautet der vielzitierte Beginn der US-amerikanischen
Verfassung, und fast fühlt man sich ein bisschen an deren Pathos erinnert,
wenn man das jüngste Dokument liest, mit dem sich die Landespolitik zum
Wert der urbanen Natur bekennt: „Charta für das Berliner Stadtgrün“ nennt
es sich. „Wir erklären: Es ist unsere Verantwortung und Verpflichtung, das
Stadtgrün für zukünftige Generationen zu sichern, zu stärken und
weiterzuentwickeln“, heißt es darin unter anderem, aber eben auch: „Wir
bekräftigen den Grundsatz der Gleichzeitigkeit von grüner und baulicher
Entwicklung in der Stadt.“
Dieses fast schon feierliche Gelöbnis, das Stadtgrün gegen das scheinbar
unaufhaltsame Wachstum der Metropole zu verteidigen und dabei noch zu
verbessern, hat die Senatsumweltverwaltung in einer zweijährigen
Bürgerbeteiligung erarbeitet. Es wurde Ende April zusammen mit einem bis
2030 ausgelegten Handlungsprogramm vom Senat beschlossen. Auch das
Abgeordnetenhaus soll es sich noch zu eigen machen.
Die darin formulierten Ziele sind allesamt löblich und ambitioniert:
Niemand soll es weiter als 500 Meter zur nächsten Grünanlage haben. Für
jede und jeden der fast 4 Millionen BerlinerInnen soll es 6 Quadratmeter
Erholungsfläche in Wohnungsnähe und 7 Quadratmeter in mittlerer Entfernung
geben. Die Grünflächen sollen barrierefrei sein, ästhetisch ansprechend und
gut vernetzt. Der Versorgungsgrad mit Kleingärten ist zu erhalten, sie
sollen sich stärker der Allgemeinheit öffnen. Der Wald soll nachhaltig
umgebaut, landwirtschaftliche Flächen am Stadtrand sollen ökologisch
aufgewertet werden. Die Bepflanzung von Dächern und Fassaden soll
ausgeweitet, Initiativen zum urbanen Gärtnern sollen unterstützt werden.
Und das sind nur die groben Linien.
Aber wie viel davon ist Pfeifen im Walde? Tatsache ist: Die Stadt wächst
langsam, aber sicher zu, die Wunden des letzten Krieges, die vielen
Leerstellen, die Berlin lange prägten, schließen sich – und damit auch
(manchmal nur potenziell) grüne Freiräume. Gleichzeitig steigt mit den
Tausenden, die kommen, der Nutzungsdruck. „Bei Fragen der Nachverdichtung
von Wohnquartieren in der Innenstadt ist immer auch abzuwägen, wo mehr und
neues Grün geschaffen werden kann“, heißt es in der Charta, aber ein
scharfes politisches Schwert ist das nicht. „Wir können nicht jede freie
Fläche unter Bestandsschutz stellen“, sagt denn auch die grüne
Umweltsenatorin Regine Günther.
Viel ist in der Charta und den sie begleitenden Dokumenten von begrünten
Dächern oder „Pocketparks“ auf kleinsten Flächen die Rede, die auch privat
geschaffen und gepflegt werden sollen. Alles richtig und wichtig, aber kein
Ersatz für frei zugängliche Flächen und schon gar keiner für grüne Räume
mit einer gewissen Tiefe, die ausreichend Abstand vom Verkehrslärm und
Rückzugsmöglicheiten für viele Arten bieten.
In jedem Fall kommt es auf zwei strategische Elemente an: eine ausreichende
Finanzierung und die Kooperation zwischen den Beteiligten. Was das Geld
angeht, hat Rot-Rot-Grün im aktuellen Haushalt einen vielversprechenden
Aufschlag gemacht: Die Mittel, die die Bezirke für die Pflege der
Straßenbäume erhalten, wurden verdoppelt, es gab frische Millionen für
Parks und Forsten. Die müssen natürlich auch weiterhin fließen und noch
üppiger. Dann können die Bezirksämter auch wieder ihre in den nuller Jahren
ausgedünnten Grünflächenämter aufstocken, ohne deren Arbeit der Senat nicht
allzu viel ausrichten kann. Auch wenn er beispielsweise über die
landeseigene Grün Berlin GmbH auf einige bedeutsame Anlagen wie das
Tempelhofer Feld, den Gleisdreieckpark oder die Gärten der Welt größeren
Einfluss hat.
Was unter diesen neuen Bedingungen und im Geiste der Charta möglich ist,
wird sich nicht zuletzt an der Unterstützung für die vielen
Graswurzelinitiativen der Stadt erweisen. Um den Blick nicht zu weit
schweifen zu lassen: Direkt neben der taz wird auf einer der letzten
Brachen in der südlichen Friedrichstadt seit zwei Jahren kollektiv
gegärtnert, Menschen aus dem Kiez haben bei „Frieda Süd“ eine Anlaufstelle
gefunden. Das Grundstück gehört dem Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, und
eigentlich soll ab kommendem Jahr ein Käufer gesucht werden. Vielleicht
böte sich hier ja eine gute Gelegenheit, den neuen Umgang mit grünen Räumen
zu beweisen.
30 Aug 2020
## AUTOREN
Claudius Prößer
## TAGS
Parks
Stadtnatur
Tempelhofer Feld
Öffentlicher Raum
Friedhof
Grünflächen
Umweltschutz
Friedrichshain-Kreuzberg
Florian Schmidt
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Kolumne Wirtschaftsweisen
Natur
Schwerpunkt Gentrifizierung in Berlin
Urban Gardening
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