Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Wo Glühwürmchen umeinander werben: Der Friedhof als Lebensraum
> Die Zeit zwischen den Jahren bietet eine gute Gelegenheit, mal über einen
> Friedhof zu spazieren. Er bietet ein Refugium für viele Tieren und
> Pflanzen.
Bild: Wie ein Wäldchen: Die Flechten auf dem Grabstein leben in Symbiose
Die Sonne scheint auf das [1][Efeudickicht an der alten Mauer.] Es
raschelt, eine Amsel fliegt heraus. Über den moosweichen Weg hopst ein
Rotkehlchen. Die Tiere sind an Menschen gewöhnt und vorsichtig, aber nicht
scheu. Der Reiher am Teich hebt nur träge ab, geht man an ihm vorbei, ein
Stück weiter landet er sofort wieder.
Ein Eichhörnchen hat seinen Winterkobel für einen Futterausflug verlassen,
es springt den Baum hoch und von Ast zu Ast. Überhaupt, die Bäume: knorrige
Eichen, hohe Birken, uralte Buchen, Trauerweiden. Durch die winterkahlen
Zweige fällt Sonnenlicht, der Raureif auf den Spinnennetzen funkelt wie
Perlen.
Das Paradies? Nein. Nur ein mittelgroßer, mittelalter Friedhof in Hannover,
im Stadtteil Stöcken. Aber es könnte [2][auch ein anderer Friedhof sein,]
einer wie es ihn hundert- und tausendfach gibt, vom weltberühmten Friedhof
Ohlsdorf in Hamburg bis zum kleinen Bergfriedhof im Harz, der jetzt im
Winter einer verschneiten Märchenlandschaft gleicht.
Friedhöfe sind Stätten für unsere Toten, für unsere Trauer, für die
Erinnerung – und die Besinnlichkeit. Eine Mischung aus Park und Museum,
voller Kulturgeschichte, Kunst und Kitsch. Und: Friedhöfe sind grüne
Inseln, dicht bepflanzt mit Bäumen, Büschen und Blumen. [3][In Städten
wirken sie als Ausgleich zu Beton und Asphalt;] kühlen die Luft, filtern
Feinstaub, produzieren Sauerstoff und lassen Regenwasser in den Boden
sickern, das auf all den versiegelten Flächen sonst ungenutzt in die
Kanalisation rauscht.
## Oasen in der Agrarwüste
Auch auf dem Land sind die Friedhöfe Oasen in der intensiv genutzten
Agrarwüste. Vor allem für Tiere, Pflanzen und andere Lebewesen, von
Allerweltsarten bis zu denen der Roten Liste leben hier oft mehr Arten als
anderswo. Weil auf Friedhöfen keiner rennt und tobt wie in anderen Parks,
weil Hunde, Radfahrer und Autos draußen bleiben müssen, weil abends die
Tore schließen und nachts Ruhe herrscht. Und weil es dunkel ist.
Licht ist zwar nicht dreckig, aber wenn es zu viel davon zur falschen Zeit
gibt, spricht man dennoch von Lichtverschmutzung. Die bringt vor allem das
Fortpflanzungsverhalten der Insekten empfindlich durcheinander.
Glühwürmchen sind das Paradebeispiel. Diese unscheinbaren braunen Käferchen
werden in der Dämmerung der Sommermonate zu magischen Wesen.
Die Männer schwirren umher, auf der Suche nach Weibchen – die unten auf der
Erde sitzen und um die Wette leuchten. Konnte ein Männchen bei einer Dame
landen, macht sie ihr Biolumineszens-Lämpchen aus und es geht zur Sache.
Haben die Männchen auf der Suche nach ihren Weibchen die Orientierung
verloren und versuchen die Lämpchen einer Lichterkette aufzureißen,
passiert gar nichts. Keine Hochzeit, keine Eier, kein
Glühwürmchennachwuchs.
Jetzt, im Dezember, sind keine Leuchtkäfer unterwegs. Sie überwintern starr
vor Kälte als Larve im Boden, unter Laub oder in altem Holz. Auch
Fledermäuse, Schmetterlinge, Eidechsen, Kröten, Igel und viele anderen
halten Winterschlaf.
## Raumgreifendes Efeu
Wenn wenig los ist, fallen sonst sehr unscheinbare Lebewesen umso mehr auf,
Moose und Flechten zum Beispiel. Oft hält man sie für Unkraut oder
schädlich – zu unrecht. Friedhöfe sind ein wichtiger Lebensraum für sie,
die Grabsteine und da besonderes die unebenen und nicht geschliffenen
Natursteine, in denen sich in den Ritzen und Löchern Wasser und ein
bisschen organische Substanz sammeln kann.
Einem Moos reicht das schon. Moose sind altehrwürdige Pflanzenwesen; vor
Hunderten Millionen Jahren direkt aus den Algen entstanden sind sie noch
viel bescheidener als das sprichwörtliche „Veilchen im Moose“ und wachsen
überall da, wo sonst nichts wachsen mag.
Ähnlich ist es mit den Flechten. Flechten sind Symbiosen, eine
Lebensgemeinschaft aus zwei und mehr unterschiedlichen Organismen, die sich
zusammentun und davon einen Vorteil haben. Eine Flechtenart wird dabei
jeweils gebildet von einer bestimmten Alge und einem bestimmten Pilz.
Manchmal auch von einem Cyanobakterium statt einer Alge – und manchmal sind
es zwei oder drei ganz unterschiedliche Pilze, statt nur einem … Okay,
Biologenlatein.
Für alle Laien sind es wunderschöne Polster, Flecken und Zotteln, die mit
der Zeit die Steine bedecken. Je älter der Friedhof, desto mehr gibt es.
Manchmal sind auch die Friedhöfe schon weg, aber die Grabsteine noch da und
die Moose und Flechten auch. Der Friedhof Lindener Berg in Hannover zum
Beispiel, 1862 angelegt und lange Zeit „bestorben“ (so heißt das wirklich),
ist heute nur noch Denkmal und Stadtpark.
Im Friedhofsjargon nennt man solche Bestattungsflächen „aufgelassen“ und es
gibt auch auf jedem noch in Betrieb befindlichen Friedhof ungenutzte
Bereiche. Das kann eine große Fläche am Stück sein, weil der Zuwachs im
geplanten Maße ausblieb, weil weniger Menschen sterben und viele
eingeäschert und in einer Urne bestattet werden. Oder nur ein einzelnes
Grab inmitten anderer, dessen Ruhefrist abgelaufen ist und das noch keinen
Nachnutzer gefunden hat.
Manche Friedhofsbetreiber hängen strenge Schilder an diese Gräber:
„Angehörige bitte melden!“, dann wird das Grab eingeebnet und mit Zierrasen
eingesät, der Grabstein wird zu Straßenbauschotter.
Andere Friedhöfe machen es anders. Da dürfen Stein, Moos und Flechten
bleiben, der Efeu wächst raumgreifend drüber. Oder auf diesen Flächen
werden naturnahe Mustergräber angelegt wie auf dem Neuen Friedhof in Lingen
im Emsland.
Die zeigen, dass ein Grab nicht den typischen Friedhofslook tragen muss aus
Immergrün, Begonie, Steckvase und Grablicht, um schön und gepflegt
auszusehen. Sondern schön und gepflegt aussehen – und eine von Hummeln,
Bienen und Schmetterlingen umschwärmte Oase sein kann. Mit Schneeglöckchen
und Herbstaster, Akelei, Thymian, Frauenmantel oder Lavendel.
All das sieht sogar im Winter gut aus: Die verblühten Staudenstängel können
stehen bleiben und sind mit Raureif überzogen oder mit kleiner Schneehaube
sehr dekorativ. Die heimischen Pflanzen sind außerdem robust und müssen
selten gegossen werden.
Das ist wichtig und wird immer wichtiger. Pflegeleicht muss es sein. Weil
es Geld kostet, Zeit und Arbeit, ein Grab zu pflegen, enden heutzutage
viele Menschen im Urnenschrein oder auf einer Aschestreufläche. Es gibt
Alternativen, Gemeinschaftsgräber zum Beispiel. Kleine Gräberfelder zu
bestimmten Themen, Rosenhügel und ein Gräsermeer, Kräuterhochbeete oder ein
Heidegarten, Gräber voller Bauernblumen und ein großes Beet mit
Schmetterlingsblumen.
## Alternativen zum Friedwald
Man mietet ein Plätzchen, bekommt ein kleines Schild mit dem Namen des
Bestatteten. Um die Grabpflege kümmern sich nicht, mehr schlecht als recht,
die Angehörigen, sondern jemand, der vom Friedhof beauftragt wurde. Solche
Gräber sind immer schön; und gleichzeitig nicht sehr teuer.
Auch wer unter einem Baum bestattet werden möchte, hat mittlerweile
Alternativen zum Friedwald weit draußen. Aus der anfangs misstrauisch
beäugten Konkurrenz mit den Bestattungsforsten haben viele Friedhöfe eine
Tugend gemacht. Wenn man schon alleenweise Bäume auf dem Gelände hat, warum
nicht auch noch Geld damit verdienen und sie zu Grabstellen werden lassen?
Auch unter Obstbäumen wie auf einer Streuobstwiese kann man sich
mancherorts bestatten lassen, auf dem Waldfriedhof in Celle zum Beispiel im
sogenannten Ribbeck’schen Garten.
## Der Kreislauf des Lebens
Sonne, Nebel, buntes Laub und Frühlingsblumen unter blühenden Kirschen,
Vögel, Schmetterlinge, Eichhörnchen. Solche Bilder sind Nahrung für die
Seele, sie bleiben im Herzen, auch wenn man in Trauer ist. Den Kreislauf
des Lebens, Vergehen und Entstehen – besser symbolisieren als die Natur
selbst können das keine Riten oder Reden, keine Satzungen oder Sprüche auf
dem Grabstein. Lebendige Friedhöfe sind deshalb auch für Menschen eine
Wohltat, sie bewirken ein ganz besonders Friedhofsgefühl:
Tritt man durch das Tor, vom Parkplatz oder der Straße, aus der
Geschäftigkeit des Alltags, betritt man eine andere Welt. Die Stimmen
werden leiser, die Schritte ruhiger. Schwere Gedanken werden angesichts der
Ewigkeit klein und im guten Sinne unwichtig. Ein guter Grund, einen
Friedhof zu besuchen – und zwischen den Jahren ist ein guter Zeitpunkt.
Es gibt viele gute Gründe mehr für Friedhöfe, sie zu schätzen, zu nutzen
und zu erhalten. Allerdings wird das durchaus hitzig diskutiert zwischen
Friedhofszwangfans, die glauben, der Friedhof wäre tot, ließe man die
Regeln locker, und der Gegenseite, die meint, der Friedhof sei längst tot.
Erstickt unter Zierkoniferen und Grabsteingrößenvorschriften, weswegen es
erlaubt sein solle, dass jeder mit seinen Toten macht, was er möchte.
Der Naturschutz, der Lebensraum Friedhof ist ein sehr wichtiger Grund,
Friedhöfe zu erhalten, die sich dann mit der Zeit in Naturparadiese
verwandeln.Der Tod ist nicht das Ende. Ganz bestimmt nicht für Friedhöfe
und für all die Tiere und Pflanzen dort. Für die ist der Tod erst der
Anfang.
Sigrid Tinz ist Diplom-Geoökologin und arbeitet seit 20 Jahren
freiberuflich als Journalistin und Buchautorin zu allen Themen rund um
Natur, Garten und Artenvielfalt. Außerdem gibt sie Seminare und postet auf
Instagram unter @kraut_und_buecher. Der Text ist ein Auszug aus ihrem Buch
„Der Friedhof lebt“, das 2021 im Pala-Verlag erschienen ist.
28 Dec 2022
## LINKS
[1] /Giftpflanzen/!5725875
[2] /Berliner-Stadtgruen-Politik/!5707636
[3] /Stadtnatur-in-Berlin/!5685058
## AUTOREN
Sigrid Tinz
## TAGS
Friedhof
Hannover
Botanik
Mausoleum
Pflanzen
Berlin-Lichtenberg
wochentaz
Naturschutz
Zukunft
Pflanzen
Parks
Stadtnatur
## ARTIKEL ZUM THEMA
Keine Gedenktafeln in der Gedenkstätte: Ein kapitalistischer Diebstahl
Auf dem Sozialistenfriedhof in Lichtenberg wurde geklaut. Gedenktafeln von
Rosa Luxemburg und anderen sozialistischen Größen sind verschwunden.
Autorin Mely Kiyak über den Tod: „Ich halte vom Sterben sehr viel“
Mely Kiyak wurde bekannt mit politischen Kolumnen. Seit einer schweren
Erkrankung will sie sich auf Literatur konzentrieren und das Schöne im
Leben.
Fledermäuse vom Aussterben bedroht: Weniger Platz für Vampire in Berlin
Durch energetische Sanierungen werden auch die Nischen weniger, in denen
Fledermäuse sich niederlassen. Nistkästen wie am Noack-Turm sind eine
Lösung.
Pflanzen und ihre Bestäuber: Fortpflanzung ist Teamwork
Nicht nur Bienen sind wichtige Bestäuber, sondern auch Motten und Fliegen.
Für Pflanzen ist wichtig, wie das Insekten-Team zusammengestellt ist.
Giftpflanzen: So toxisch, so schön
Eine Krimiautorin schreibt nebenberuflich über Giftpflanzen – und lernt
dabei, dass man Gift an den unglaublichsten Orten finden kann.
Berliner Stadtgrün-Politik: Es könnte grüner werden
Die wachsende Stadt braucht mehr Wohnraum – aber auch mehr Grünflächen. Die
„Charta für das Berliner Stadtgrün“ soll das Dilemma auflösen.
Stadtnatur in Berlin: Unser Kiez ist ihr Revier
Stadtranger*innen sollen den Berliner*innen die Natur vor ihrer Haustür
näherbringen. Hier ist die Artenvielfalt oft höher als auf dem Land.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.