# taz.de -- 30 Jahre Hausbesetzungen in Ostberlin: Der Sommer der Anarchie | |
> Vor 30 Jahren wurden erste Häuser in Ostberlin besetzt – auch die | |
> Linienstraße 206, eine Art Denkmal für die linke Szene. Ex-BesetzerInnen | |
> erzählen. | |
Bild: Eine Art Denkmal für die linke Szene: das Haus Linienstraße 206 heute | |
BERLIN taz | Es war ein Tischler namens Springer, mit dem alles begonnen | |
hat. 1826 ließ er an der Einmündung der ehemaligen „Todtengasse“ in die | |
Linienstraße ein Mietshaus errichten. Vier Geschosse hatte es und eine | |
bauhistorisch wertvolle „hölzerne Treppenanlage um ein nahezu quadratisches | |
Treppenauge“. So steht es in der Denkmalliste des Landes Berlin. | |
Eine Art Denkmal ist die Linienstraße 206 auch für die linke Szene. Kurz | |
nach dem 1. Mai 1990 wurde das Haus an der Ecke Kleine Rosenthaler Straße, | |
wie die Todtengasse inzwischen heißt, besetzt. Die bemalten Fassaden sind | |
noch heute zu sehen, ein irritierender Kontrast zur durchgestylten | |
Spandauer Vorstadt in Mitte. Und eine Aufforderung, sich noch einmal zu | |
erinnern an eine Zeit, in der in Ostberlin (fast) alles möglich war. | |
Der lange Sommer der Anarchie begann eigentlich schon im Winter. Am 22. | |
Dezember 1989 hängten die Bewohnerinnen und Bewohner der Schönhauser Allee | |
20 in Prenzlauer Berg Transparente aus ihren Fenstern – und machten ihre | |
bis dahin stille Besetzung öffentlich. Es war ein Signal an andere, es | |
ihnen gleichzutun. Bis zum Februar 1990 zählte der Telegraph, die | |
Zeitschrift der linken DDR-Opposition, 20 besetzte Häuser. Die meisten von | |
ihnen befanden sich in Prenzlauer Berg. In Friedrichshain waren zu diesem | |
Zeitpunkt nur zwei Häuser besetzt, in Mitte sogar nur eines. Es war die | |
Köpenicker Straße 137, die der Telegraph eine „Ost-West-Besetzung“ nannte. | |
Eine zweite gemischte Besetzung gab es in der Kastanienallee 85/86. | |
Erstmals beteiligten sich damit auch Leute aus Westberlin an den | |
Besetzungen. „Diese Westbesetzer legten auch noch bedachte Zurückhaltung an | |
den Tag“, lobte der Telegraph in einem Beitrag von 1995. „Sie zollten dem | |
Umstand Rechnung, dass sie in einem fremden Land mit ihnen völlig fremden | |
Verhaltensweisen eine kleine Minderheit waren.“ | |
## „Bevor es zu spät ist“ | |
Doch bald wurde aus der Minderheit eine Mehrheit, und daran war die | |
Oppositionszeitschrift, die aus dem Umweltblättern hervorgegangen ist, | |
nicht ganz unschuldig. Im April verfasste der Telegraph einen Aufruf an | |
„Frauen und Männer aus Ost und West, sich diese Häuser zu nehmen, bevor es | |
zu spät ist“. | |
„Diese Häuser“, das waren vor allem Gründerzeithäuser in Friedrichshain, | |
darunter auch in der Mainzer Straße und der Rigaer Straße, die statt der | |
Kommunalen Wohnungsverwaltung eine Tochter der „Neuen Heimat“ sanieren und | |
bewirtschaften sollte. Der Aufruf erschien auch im Westberliner Szeneblatt | |
Interim. | |
Nach dem Aufruf machten sich auch eine Gruppe von Studierenden des | |
Otto-Suhr-Instituts, der Geschichtswerkstatt Lichtenrade und anderen | |
Leuten, die sie kannten, auf die Suche. Und fanden schließlich das Haus des | |
ehemaligen Tischlers namens Springer. Am 5. Mai 1990 wurde die Linienstraße | |
206 besetzt. Sehr zum Missfallen einer Ostberliner Genossenschaft, die das | |
Haus in der Spandauer Vorstadt vor dem Abriss gerettet hat und selbst | |
nutzen wollte. | |
Anfang Mai waren in Ost-Berlin bereits 50 Häuser besetzt. Bis August stieg | |
die Zahl auf 120. Die Hoffnung des Telegraph, dass es wie in der „Köpi“ und | |
der Kastanienallee zu weiteren „Ost-West-Besetzungen“ kommen würde, | |
erfüllte sich freilich nicht. „Die Massenbesetzungen wurden fast | |
ausschließlich von Westberlinern vollzogen“, hieß es bald im Telegraph. | |
„Durch diesen Umstand kippte das Verhältnis Ost-West völlig in Richtung | |
Westbesetzer.“ | |
## Schock für die Besetzerbewegung | |
Auch die „Linie“ war ein reines Westhaus. Doch ihre Bewohnerinnen und | |
Bewohner gingen ein Experiment ein. Zusammen mit der Lottumstraße 10A, | |
einem reinen Osthaus, gründete sie einem gemeinsamen Verein namens „Flotte | |
Lotte – flinke Linke“. Bald unternahmen die Besetzer aus beiden Häusern | |
gemeinsame Ausflüge ins Umland und an die Ostsee. Bis heute ist dieser | |
Ost-West-Kontakt der beiden „Schwesterhäuser“ geblieben. | |
Als im November 1990 die Mainzer Straße geräumt wurde, bekam die | |
Linienstraße neue Bewohner. Sie nahm junge Antifas der „Jugendfront“ auf, | |
die zuvor in der Mainzer gelebt hatten. Fortan war in der „Linie“ | |
scherzhaft von den „Kleinen“ und den „Erwachsenen“ die Rede. | |
Die Räumung war ein Schock für die Ostberliner Besetzerbewegung. Der | |
„B-Rat“ der Besetzerinnen und Besetzer war zu diesem Zeitpunkt längst | |
gescheitert, unter anderem am Ost-West-Konflikt. In Prenzlauer Berg | |
verhandelte ein runder Tisch über Verträge mit den | |
Wohnungsbaugesellschaften. Andere Häuser in anderen Bezirken versuchten | |
ebenfalls zu retten, was zu retten ist. | |
Auch die Linienstraße 206 bekam 1991 Verträge. Die bewahrten die | |
Bewohnerinnen und Bewohner im Mai 2016 aber nicht vor einer Teilräumung. | |
Für eine Wohnung und einen Gemeinschaftsraum hatten die Eigentümer, zwei | |
Berliner Geschäftsleute, einen Räumungstitel erwirkt. Danach war die | |
Linienstraße in eine Art Dornröschenschlaf gefallen. Inzwischen aber haben | |
sie neue Bewohner wieder zum Leben erweckt. Hinter der bröckeligen Fassade | |
rumort es also wieder. Auch neue Kontakte in die Nachbarschaft wurden | |
geknüpft, heißt es von den Besetzerinnen und Besetzern. Fast klingt es, als | |
ließe sich die Zeit noch einmal zurückdrehen. | |
## | |
## Das Klassentreffen | |
## Dreißig Jahre nach der Besetzung der Linienstraße 206 erinnern sich zehn | |
Besetzerinnen und Besetzer an die Zeit, in der alles möglich war, an die | |
ersten Ost-West-Beziehungen und an ihr Leben nach dem Besetzen | |
## Wie sich die Gruppe findet | |
Michl: Als ich das Haus zum ersten Mal gesehen habe, habe ich mich gefragt, | |
ob das überhaupt bewohnbar ist. Der erste Eindruck war der einer Ruine. Ich | |
bin damals mit der Kamera durchs Haus und habe von jedem Raum aus | |
verschiedenen Perspektiven ein Foto gemacht, um das zu dokumentieren. Hätte | |
ja sein können, dass uns später jemand den Vorwurf macht, wir hätten das | |
kaputtgemacht. | |
Nico: Bei den Vorbereitungstreffen zur 1.-Mai-Demo 1990 habe ich Rüdi | |
kennengelernt. Wir waren eine große Gruppe und wollten zusammenwohnen. Mit | |
Rüdi bin ich mit dem Motorrad rumgefahren, wir haben uns gesagt: Vielleicht | |
finden wir ja ein Haus. Dann sind wir an der Linie vorbeigekommen, und das | |
Haus war auf. Rüdi und ich sind dann rein und haben geguckt. Wow, super. | |
Das ist es. | |
Rüdiger: Als Nico und ich reingingen, staunten wir, dass es besenrein war. | |
Wir haben uns gefragt, warum das so ist. Später haben wir erfahren, dass | |
sich da schon eine Genossenschaft drum gekümmert hat, die das Haus vor dem | |
Abriss gerettet hat. Die hatten die Sprengung verhindert, haben die | |
Sprenglöcher zugeschmiert und auch ein Schloss rangemacht, was bei uns aber | |
nicht mehr da war. Später gab es mit der Genossenschaft eine | |
Auseinandersetzung. Die wollten das Haus wieder zurück haben. Da haben | |
sich auch Vermittler aus der Besetzerszene und der Politik eingeschaltet. | |
Das Ende vom Lied war dann, dass die Genossenschaft zugestimmt hat, dass | |
wir da bleiben. | |
Nico: Als wir gesehen haben, dass das Schloss offen war, haben wir ganz | |
schnell ein Treffen im Mehringhof gemacht. Da haben wir beschlossen, am | |
nächsten Tag gesammelt reinzugehen. Das war dann am 5. Mai 1990. | |
Rüdiger: Ich war 26. Die Gruppe, die das Haus besetzt hat, ist über Jahre | |
hinweg über bestimmte Kleingruppen entstanden. Es war klar, dass wir | |
zusammenwohnen wollten. Gleichzeitig gab es Diskussionen darüber, ob es | |
legitim ist, in Ostberlin Häuser zu besetzen. | |
Sönke: Ich war auch 26 und wohnte mit Rüdiger in einer WG. Es war also | |
keine unmittelbare Wohnungsnot, aus der heraus wir besetzt haben. Eher war | |
es so, dass Teile der Westberliner Szene nach Ostberlin in dieses Vakuum | |
ausgewichen sind und es nach und nach gefüllt haben. Ich gehörte zu einer | |
Gruppe aus Lichtenrade, die dort bei der Geschichtswerkstatt aktiv war. | |
Viele andere kamen vom Otto-Suhr-Institut an der FU Berlin. | |
Markus: Ich war damals 24 und habe am OSI studiert. Von der Uni kannte ich | |
Sönke und Rüdi, die andern habe ich erst später kennengelernt. | |
Michl: Ich war damals 25 Jahre alt und gehörte zu einer Gruppe, die schon | |
gegen den Internationalen Währungsfonds 1988 demonstriert hat und dann zur | |
Besetzergruppe dazugestoßen ist. Wir waren eine Bezugsgruppe und wollten | |
irgendwann auch zusammenwohnen. Das war in Westberlin nicht möglich. Also | |
sind wir in den Osten. | |
Nico: Ich bin über meine damalige Frauengruppe zur 1.-Mai-Vorbereitung | |
gestoßen. Da trafen wir auch Rüdi, Sönke und die anderen. | |
Sonja: Ich war über den Winter gar nicht in Berlin, und als ich im April in | |
meine WG zurückkam, steckten sie schon voll in den Vorbereitungen. Mir war | |
sofort klar, da mache ich mit. | |
David: Ich bin übers OSI gekommen, das war eine Woche nach der Besetzung. | |
Zwei meiner Freunde, die schon im Haus waren, meinten, dass da der | |
akademische Flügel gestärkt werden muss. (lacht) | |
Sonja: Weil der proletarische Flügel schon so stark war? | |
David: Wie auch immer. Auf jeden Fall bin ich eine Woche nach der Besetzung | |
dahin geworben worden. Als ich da aufgeschlagen bin, fand ich es aber | |
sofort sympathisch. | |
Sonja: Und viele kannten sich über Nicaragua. Das waren ganz | |
unterschiedliche politische Zusammenhänge. | |
Oliver: Ich bin später dazugekommen. Ich gehörte auch zu denen, die aus dem | |
OSI zur Gruppe stießen. Ich war 25 und habe in einer Apotheke als Bote | |
gejobbt. Als es dann hieß, es ginge um die Linienstraße 206, kannte ich das | |
Haus schon von einer Party. Es war charmant und aufregend. | |
Norbert: Ich war 25 und bin damals über einen Freund in die Linienstraße | |
gekommen. Im Haus habe ich noch zwei, drei andere Leute getroffen, die ich | |
schon kannte, und Michl meinte einfach: Wenn’s dir gefällt, dann bleib doch | |
hier. Ich musste da gar nichts entscheiden. Mir war sofort klar: Das ist | |
es. | |
Pari: Ich gehöre zu denen, die im November 1990 in der Mainzer Straße | |
geräumt wurden. Nachdem ich dann einen Monat woanders gewohnt habe, meinten | |
welche aus der Linienstraße, die ich kannte, dass ein paar von uns auch | |
dorthin ziehen könnten. So sind welche von uns in die Rigaer Straße | |
gegangen und ein paar in die Linie. Ich war 21. | |
Oliver: Nach der Räumung der Mainzer Straße zogen Leute von der | |
Antifa-Jugendfront ein, die damals gefühlt ziemlich viel jünger waren. | |
Heute würde ich sagen, die sind so alt wie wir, aber damals lagen ein paar | |
Jahre dazwischen. Da war es schon ein Unterschied, ob du 25 bist oder 20. | |
Eine war sogar erst 16. Da gab es Konflikte, zum Beispiel wie wir Ordnung | |
halten. Für die waren wir die Erwachsenen, wir haben sie scherzhaft immer | |
die Kinder genannt. Da ging es auch darum, wer das Sagen hat. Für die waren | |
wir Spießer. | |
Pari: Eine Gruppe in der Gruppe waren wir aber nicht. Ich selbst habe mich | |
gleich mit den Frauen in der Linie gut verstanden. Mit der Zeit hab ich | |
mich denen sogar fast näher gefühlt. Insgesamt kam mir die Linie etwas | |
reifer vor, auch organisierter, in der Mainzer war alles chaotischer. In | |
der Linie haben mich die Solidarität und diese Kultur des Miteinanders | |
fasziniert. Ich habe es als liebevoll empfunden. | |
## Ein Haus erwacht zum Leben | |
Rüdiger: Das Haus hatte einen unglaublichen Charme. Ich hab mich gleich in | |
die Linie verliebt. | |
Oliver: Das Haus war magisch. Wenn du an den Putz geklopft hast, kam der | |
runter, und dahinter waren Strohmatten. Die waren an Holzwände getackert. | |
Da bekam man eine Vorstellung davon, wie Menschen früher gelebt haben, | |
dabei war es kein Armenhaus. | |
Pari: Die Linie war etwas ganz Besonderes. Ich musste es erst mal kapieren | |
mit den beiden Treppenhäusern. | |
Oliver: Keiner von uns war Experte im Bauen, aber viele haben sich die | |
Expertise dann angeeignet. Einer hat mit echtem Lehmputz seine Wand noch | |
mal neu gemacht. Eine andere war plötzlich Expertin darin, Kachelöfen zu | |
reparieren. Mit unseren bescheidenen Kenntnissen und Mitteln haben wir | |
versucht, das Haus zu bewahren. Es war ein besonderes Haus. | |
Michl: Es wäre überhaupt nicht bewohnbar geworden, wenn wir da nicht viel | |
Arbeit reingesteckt hätten. Die Fenster sind alle neu, das Heizungssystem | |
ist erneuert, das Stromnetz wurde teilweise erneuert, die Wasserleitungen, | |
Bäder wurden eingebaut. | |
Oliver: Als ich einzog, habe ich mir mit David oben jeweils eine Hängematte | |
in ein Zimmer gehängt. Wir haben uns um Musik gekümmert, und dann haben wir | |
da gewohnt. Wir haben oft die Zimmer und die Wohnzusammenhänge gewechselt. | |
Dann kam der Zeitpunkt, wo ich gesagt habe, ich kündige meine Wohnung in | |
Kreuzberg. Das war so ein Gefühl, Brücken abzubrechen und ins Ungewisse zu | |
gehen. Das wenige, was ich hatte, brachte ich in Kellern von Freunden oder | |
nahm es in die Linienstraße mit. Damit war klar: Ich wohne jetzt dort. | |
Markus: Ich war schon vorher bei den Plena dabei, aber nach der Besetzung | |
bin ich immer noch zwischen der Linie und meiner alten Wohnung gependelt. | |
Erst im September 1990 bin ich richtig eingezogen. Damals war schon einiges | |
gemacht im Haus. Auch die Öfen. Man konnte sich in den Zimmern aufhalten. | |
## Das tägliche Brot | |
Michl: Ich hab eine Drogistenausbildung gehabt, also eine kaufmännische | |
Ausbildung, und hab auch als Drogist gearbeitet. Dann wurde ich aber | |
arbeitslos. In dieser Zeit habe ich Entwicklungshilfeprojekte gemacht. In | |
Nicaragua und El Salvador. Da haben wir ein Wasserleitungssystem gebaut. | |
Pari war auch dabei. | |
Pari: Ich hatte zuvor an der Humboldt angefangen zu studieren, Spanisch und | |
Persisch. Auch während der Zeit in der Linienstraße habe ich | |
weiterstudiert. Irgendwie brauchte ich das. Es war für mich zwar ein | |
wichtiger Teil, drin zu sein, aber auch mein Leben draußen zu haben, für | |
mich zu sein und mein Ding zu machen. | |
Norbert: Ich hatte eine Lehre als Maschinenschlosser gemacht und mir | |
irgendwann die Frage gestellt, ob das mein Leben ist oder ob es noch etwas | |
anderes gibt. 1988 habe ich mein Abitur auf dem zweiten Bildungsweg | |
nachgeholt und wollte eigentlich ins Ausland, bevor ich anfange zu | |
studieren. Ich war dann ein halbes Jahr in Nicaragua, aber das war | |
eigentlich viel zu kurz. Aber als ich zurück war, fiel die Mauer, und | |
Berlin war plötzlich der spannendste Ort der Welt. Irgendwann wurden die | |
ersten Häuser besetzt, selbstbestimmt leben, das hat mich fasziniert. Die | |
Linie war der Traum, der in Erfüllung ging. | |
Sönke: Ich hab damals am OSI studiert und gleichzeitig bei Rotation | |
gearbeitet, einem linken Buchvertriebskollektiv. Davor hab ich im Garten- | |
und Landschaftsbau gearbeitet. Ich hab mir meinen Lebensunterhalt immer | |
verdienen müssen. Das war aber bei vielen im Haus so. Entweder haben sie | |
studiert, schon gearbeitet oder waren noch in der Ausbildung. Wir waren | |
alle nicht reich, kamen aber schon aus stabilen sozialen Verhältnissen. | |
Sonja: Es gab eine relativ starke Handwerkerfraktion. Ich selber hab eine | |
Lehre angefangen. | |
David: Ich hab angefangen, Betreuung zu machen. Bei der Lebenshilfe. Da bin | |
ich noch heute. | |
Nico: Ich habe zur Zeit der Besetzung studiert und ein Praktikum mit | |
obdachlosen Frauen gemacht. 1994 habe ich im Frauenhaus angefangen. | |
Sonja: Die Linie war kein Intellektuellenhaus. | |
Rüdiger: Ich war 1989 mit der Erzieherausbildung fertig, habe danach aber | |
nur gejobbt. 1992 hab ich angefangen, wieder als Erzieher zu arbeiten. Als | |
wir reingegangen waren, haben viele ihre Tätigkeit zurückgestellt. Das ist | |
nachher wieder anders geworden, als das Gemeinsame, das Politische wieder | |
weniger wurde. 1992, 1993 haben viele wieder angefangen, sich auf ihre | |
alten Berufe zu stürzen, weiterzustudieren, da haben die Leute wieder mehr | |
ihre Dinger gemacht. | |
## Von Männern und Frauen | |
Pari: Die Frauenetage gab es schon, als ich eingezogen bin. Wir haben da | |
alle sehr eng zusammengewohnt. Aber es war gut, dass wir unseren Raum | |
hatten. Schon alleine unter Hygienegesichtspunkten. Auch die Art, über | |
Dinge zu reden, war anders, da waren schon kleinere oder größere Machos im | |
Haus, die Kämpfer und die starken Typen. Auch wie Themen eingebracht | |
wurden, war bei uns anders. Und die Vorstellung von manchen, alles offen zu | |
halten, da denkst du, boah ey, will ich das? Aber so hat es gut | |
funktioniert. Wir haben jeden Tag Plenum gemacht. Da waren auch die | |
Diskussionen zwischen Männern und Frauen wichtig. | |
David: Ja, dieser Anspruch, den es damals gab. Alles offen, alles | |
gemeinsam. Sogar das Klo! | |
Oliver: Die Diskussionen über Männer und Frauen haben wir schon vom OSI | |
mitgebracht. Wir waren auch alle in Männergruppen. Als die Frauen dann die | |
Frauenetage gegründet haben, gab es überhaupt keinen Widerspruch. | |
Nico: Da gab es am Anfang massive Widerstände von den Männern! Vieles hab | |
ich auch nicht verstanden und verstehen wollen. Da fielen Worte wie | |
Diskriminierung und so weiter. Damals habe ich mich sehr darüber aufgeregt, | |
heute denke ich, die Diskussionen haben sich gelohnt. Wir haben damals | |
heftig dagegengehalten, sagten, wir leben in einer Welt, die | |
männerdominiert ist, wir wollen einen Rückzugsort haben. Für die Männer, | |
die anfangs den völligen Freiraum und alles ganz offen wollten, war es | |
bestimmt hart. Wir wollten natürlich die oberste Etage, damit wir auch Ruhe | |
haben und keiner bei uns durchläuft. | |
Sonja: Es war ja nicht so, dass die Männer nicht hochkommen durften. | |
Nico: Als das dann mit der Frauenetage klar war, war das Leben zwischen | |
Männern und Frauen okay. Wir hatten auch eine gemeinschaftliche Küche. | |
Außerdem war keiner nachtragend. Irgendwann wurde es akzeptiert und gut. | |
Sonja: Das Haus war eine Einheit. Die Frauenetage war ja keine Sache, um | |
sich vom Rest abzukapseln. | |
Rüdiger: Mir war es damals wichtig, neue Lebensformen auszuprobieren. Ich | |
wollte aber auch nicht, dass wir uns nur um uns selber drehen. Was auch | |
ganz wichtig war, war Antifa, Rostock, Lichtenhagen, Hoyerswerda, diese | |
Geschichten spielten auch eine große Rolle. | |
## Und die Nachbarn? | |
Rüdiger: Mir persönlich war es wichtig, den Kontakt zu den Menschen | |
aufzunehmen, die um uns herum gewohnt haben, so eine Verankerung zu | |
schaffen, aber das ist uns nicht so gut gelungen. Da gab es ganz schöne | |
Barrieren. | |
Markus: Das habe ich anders wahrgenommen. Wir hatten im Erdgeschoss ein | |
Hauscafé, das auch Leute aus anderen besetzten Häusern mitbetrieben haben. | |
Sonntags haben wir dort ein Frühstückscafé organisiert. Da kamen auch | |
Nachbarn aus der Umgebung. Es gab dort Lesungen, zum Beispiel mit Klaus | |
Kordon und Heinz Knobloch, und eine Mieterberatung. Und natürlich auch | |
Partys. Mein Eindruck war, dass diejenigen, die zu uns ins Café kamen, sehr | |
aufgeschlossen waren. Die fanden es spannend, mal hinter die Kulissen eines | |
besetzten Hauses zu schauen. | |
Sönke: Wir haben Eier und Brot von der Brotfabrik vor dem Haus verkauft. | |
Das ist von der Nachbarschaft durchaus positiv aufgenommen worden. | |
## Als Westler im Osten | |
Nico: Ich fühlte mich fremd im Osten. Auch in dem Frauenhaus, in dem ich | |
arbeitete, war ich die Einzige aus dem Westen. Da hatte ich schon das | |
Gefühl, wir rücken denen auf die Pelle und nehmen ihnen weg, was ihnen | |
zusteht. | |
Sonja: Für mich war leben in Ostberlin in Geschichte eintauchen. Man hat ja | |
noch den Krieg gesehen, überall die Einschusslöcher. Der Westen war schon | |
viel glatter. | |
Nico: Wenn ich mit dem Fahrrad über die Museumsinsel fuhr, habe ich mich | |
wie in einem Film gefühlt, der in den zwanziger Jahren spielt. Es war zwar | |
kaputt, aber sehr charmant. | |
Markus: Vor der Besetzung war ich erst zweimal in der DDR gewesen. Einmal | |
war es eine organisierte Reise nach Weimar und Buchenwald. Und einmal haben | |
sie uns auch nicht reingelassen. So als Szene galtest du in den Augen der | |
Grenzer als anarchistisch. | |
Oliver: Dass ich plötzlich in Ostberlin lebte, war fremd, erfreulich fremd. | |
Wir haben ja das Abenteuer gesucht, und das war schon abenteuerlich. | |
Alleine die Grenzkontrollen am Rosenthaler Platz, wenn du das ganze | |
Baumaterial dabei hattest. Aber da war auch die Energie, alles was leer | |
war, zu füllen, etwas zu gestalten, zu formen. In Kreuzberg oder | |
Charlottenburg ging das nicht mehr, das ging nur in Ostberlin. | |
David: Ich war vorher schon viel in Ostberlin. Mein Vater war | |
Verwaltungschef der Ständigen Vertretung. Ich hatte also ein | |
Diplomatennummernschild an meinem Motorrad und bin überall rumgefahren. | |
Damals war die Grenze noch präsent, dieser repressive Staat, die Stasi, was | |
darf man, was nicht? Und dann ist plötzlich dieser Staat weg. | |
## Linien- und Lottumstraße | |
Nico: Der Kontakt zur Lottumstraße ist so entstanden, dass wir einfach zu | |
denen gegangen sind. Das fing ganz klein und nachbarschaftlich an. Wir | |
waren uns sofort sympathisch. Das hat gefunkt. Vielleicht auch, weil wir | |
nicht als Besserwessis aufgetreten sind. | |
Rüdiger: Die Lottum hatten wir schon vor der Besetzung kennengelernt. Die | |
haben uns dann auch motiviert, die Linie zu besetzen. Haben gesagt, das sei | |
okay und kein imperialistisches Verhalten dem Osten gegenüber. | |
David: Wir haben gesagt, wir brauchen Hilfe. Was können wir hier machen? | |
Wie geht denn das? Wir haben nicht ganz dem Klischee entsprochen, was sie | |
von den Wessis hatten, dass die einem immer erzählen wollen, wo es | |
politisch langgeht. Natürlich hatten wir das auch drauf, aber weil unsere | |
erste Begegnung um ganz praktische Dinge ging, war das auf Augenhöhe. Das | |
war ja auch ein wilder Haufen. | |
Sonja: Und dann haben wir den gemeinsamen Verein gegründet: „Flinke Linke – | |
flotte Lotte“. | |
Markus: Die hatten dort einen Trabi, da bin ich zum ersten Mal Trabi | |
gefahren. Das mit der Handschaltung war ungewöhnlich, aber die Ente hatte | |
auch so eine Schaltung. | |
Nico: Ich war tierisch neugierig, wie das Leben für die in der DDR war und | |
ist. Wenn man in ein anderes Land kommt, ist man auch erst mal höflich. | |
Vielleicht war das einer der Unterschiede. Die waren ein reines Osthaus und | |
wir waren ein reines Westhaus. | |
Pari: Im Osten war fremde Welt. Die Lottumstraße hat uns diese fremde Welt | |
erklärt. Das war auch spannend, was uns als Frauenetage betraf. Wir waren | |
alle ein bisschen theoretisch, so Feministinnen eher vom Kopf her, aber am | |
Ende vielleicht doch etwas verklemmt. Als wir mit den Lottums nach | |
Hiddensee gefahren sind, sind die alle nackig rumgerannt, und wir Frauen | |
dachten, oh Gott, Scham. | |
David: (lacht) Dabei war es da ziemlich kalt. | |
Pari: Die Lottum war für mich auch persönlich eine Bereicherung. Total. Ich | |
hatte da auch Freunde, wir haben uns unsere Geschichten erzählt. Da war | |
auch eine Neugierde aufeinander, die ich heute noch spüre. | |
Rüdiger: Mit den Leuten in der Lottum war es etwas sehr Spezielles. Wir | |
waren schon sehr eng miteinander verbunden. Das war eigentlich gar nicht so | |
üblich. | |
David: Aber auch die Ausflüge an den Liepnitzsee darf man nicht vergessen. | |
Die mit ihrem Rote-Kreuz-Ello. Wir mit unserem NVA-Ello. | |
## Der Sommer der Anarchie | |
Oliver: Das war ein magischer Sommer für mich. Absolut magisch, das ist | |
das, woran ich mich am deutlichsten erinnere. Dass Michl plötzlich einen | |
Ello von der NVA kauft, der vorne noch ’ne Luke hatte, durch die man mit | |
dem Maschinengewehr schießen konnte. Mit dem sind wir dann an die | |
Brandenburger Seen gefahren. Ein unsagbares Freiheitsgefühl. | |
Rüdiger: Wir haben am Strand geschlafen, gegrillt, und dabei haben wir uns | |
kennengelernt, der Osten und der Westen, und haben uns Geschichten erzählt | |
aus beiden Teilen der Stadt, wo wir herkamen. Das fand ich total | |
bereichernd. | |
Pari: Wenn ich heute an die Linienstraße denke, denke ich, was war das für | |
ein Geschenk. Ich konnte mich ausprobieren, habe vieles gelernt, auch über | |
mich. So eine Freiheit. Mit einem sehr warmen Gefühl denke ich daran. Aber | |
ich merke auch, dass wir damals nicht viel voneinander wussten. Aus welchen | |
Elternhäusern wir kamen, welche Geschichten uns geprägt haben. Aber es kann | |
natürlich auch sein, dass das mit 20 oder 22 gar nicht so eine Rolle | |
spielt. Du konntest da zu Leuten ein ganz nahes Gefühl haben, ohne zu | |
wissen, wie sie aufgewachsen sind. | |
## Der Ruf der Linie als Polithaus | |
Oliver: Die Linienstraße war ein politisches Haus. Wenn 25 Leute auf einem | |
Haufen wohnen, die nicht ganz doof sind, ist es so schon als innerer | |
Zusammenhang politisch. Wir haben uns über Männer und Frauen Gedanken | |
gemacht, es ging um Gerechtigkeitsfragen, aber auch die großen Fragen | |
draußen, fahren wir nach Wunsiedel zum Heß-Todestag. Wir wurden auch als | |
politisches Haus wahrgenommen, und wenn es Stress mit Nazis gab, haben die | |
uns gerufen. | |
Nico: Unser Ruf war schon der, dass wir alle zusammenhalten. Dass man uns | |
vertrauen kann. | |
David: Zwischendurch sind wir auch schon mal martialisch aufgetreten. Es | |
gab einige Aktionen, die sich rumgesprochen haben. Das war teilweise auch | |
Legendenbildung. Aber natürlich sind wir sehr oft geschlossen wo | |
hingegangen. Das war der Eindruck nach außen. | |
Sönke: Was heute aus der Spandauer Vorstadt geworden ist, konnte man sich | |
damals aber nicht vorstellen. Die Veränderungen haben wir aber | |
wahrgenommen. Wir selber kamen ja aus politischen und sozialen Bewegungen. | |
Plötzlich gab es da aber eine Kulturalisierung, auch in den Konflikten, die | |
stattfanden. Wie haben wir uns zum Beispiel geärgert, dass das Tacheles | |
ganz schnell einen Vertrag machen wollte. Das waren die Vorboten. Aber | |
natürlich waren auch wir Pioniere der Gentrifizierung. | |
Markus: 1997 bin ich dann ausgezogen. Da waren viele von den Erstbesetzern | |
schon weg. Neue Leute sind gekommen, und es wurde immer lauter. Bei offenen | |
Fenstern konnte man nicht mehr schlafen, weil auf den Straßen Partys | |
gefeiert wurden und ständig das Kreischen der Tram zu hören war. Alle zogen | |
plötzlich nach Mitte, ständig öffneten neue Clubs. | |
## Der Auszug aus dem Haus | |
Pari: Ich bin schon 1994 ausgezogen. Ich hab gemerkt, dass ich mich nicht | |
mehr auf die Neuen, die kamen, einlassen konnte. Ich dachte, da entwickelt | |
sich nichts weiter, aber ich wollte mich weiterentwickeln. | |
Norbert: Später war es so, dass Leute auszogen, neue kamen, mit denen | |
gingen viele Diskussionen wieder von vorne los. Auch ich wollte mich | |
weiterentwickeln. Darum zog ich 1995 nach Kreuzberg in eine gewachsene | |
Hausgemeinschaft in einem ebenfalls ehemals besetzten Haus aus den 80er | |
Jahren. 2000 ging ich dann mit meiner damaligen Partnerin für elf Jahre | |
nach Afrika. | |
Rüdiger: Ich habe insgesamt sieben Jahre in der Linie gewohnt. Wenn ich | |
heute daran zurückdenke, spüre ich ganz viel Freude. Das war eine der | |
wichtigsten Zeiten für mich. Ich habe so vieles gelernt, mit Leuten | |
zusammenzuleben, Dinge zu organisieren, sich politisch zu organisieren. | |
Tolle Liebesbeziehungen, tolle Menschen kennengelernt. Auch dieses immer | |
aktiv sein. Das Gefühl, die Welt aus den Angeln heben zu können. Aber ich | |
würde heute nicht mehr so leben können. | |
Sönke: Ich habe zweimal in der Linienstraße gewohnt. Nach anderthalb Jahren | |
bin ich ausgezogen und habe ein Jahr in Italien studiert. Von 1993 an habe | |
ich noch mal fünf Jahre dort gewohnt. | |
Nico: Ich bin 1995 aus der Linie ausgezogen, da war ich schwanger. Ich bin | |
aber 1997 noch einmal für ein Jahr zurückgekommen. | |
David: Ich bin relativ früh rausgegangen. 1993 war das. Ich war mit diesem | |
Im-Haus-Wohnen durch. Aber nicht mit den Leuten. Bis heute nicht. Mit | |
vielen Einzelnen hab ich noch Kontakt. | |
Nico: Als ich zurückgekommen bin, war das gar nicht mehr so, wie es zuvor | |
war. Das gab es in den Etagen schon Einzelküchen. | |
Sonja: Ich bin dann noch während der Lehre ausgezogen. Auf Dauer war es in | |
der Linie schwierig und anstrengend, alles unter einen Hut zu kriegen. | |
## Dreißig Jahre später | |
Norbert: An eines erinnere ich mich gut. Eines Tages kam Olli nach Hause | |
und hatte mir einen Spruch gezeigt. Kinder und Narren brauchen die | |
Freiheit, lieben die Wahrheit, die Sonne, das Licht. Vier Strophen waren | |
das. Ich fand das gut, das war für mich ein Spruch, der unser Lebensgefühl | |
ausdrückte. Und weil wir mal drüber gesprochen hatten, die Brandwand zu | |
bemalen, hab ich mir einfach ein Seil geschnappt, mich abgeseilt und den | |
Spruch an die Wand gesprüht. Spontan. Danach habe ich zu Recht die Kritik | |
bekommen, weil ich das mit niemandem abgesprochen habe. Aber die meisten | |
fanden es gut. Der Michl hat ja auch seinen Dinosaurier im Hof gebaut und | |
sich dann Visitenkarten drucken lassen als Bildhauer und Aktionskünstler. | |
Er hat für sich selbst einen Beruf erfunden. | |
Michl: Ich gehörte damals eher zu den Handwerkern, den Künstlern. Ich hab | |
im Hinterhof den Saurier aufgebaut, dafür auch einen Preis bekommen. | |
Darüber habe ich auch meinen Job gekriegt. So ist die Linienstraße auch | |
meine Existenzgrundlage geworden. Der damalige Leiter des Kulturamts, | |
Thomas Liljeberg, wollte mich kennenlernen. Er suchte jemanden für ein | |
Bildhauerprojekt für Kinder im Jojo in der Torstraße. Erst habe ich eine | |
ABM-Stelle bekommen, dann die Gruppenleitung übernommen. Danach habe ich | |
das Theaterhaus Mitte geleitet, habe im Kulturhaus Mitte die | |
Öffentlichkeitsarbeit gemacht. So ging das weiter, bis ich im Mitte Museum | |
gelandet bin. | |
Pari: Nach dem Studium hab ich dann eine Ausbildung als Hebamme angefangen. | |
Heute arbeite ich als Psychologin. | |
Sonja: Ich denke gerne an die Zeit in der Linie zurück. Es war eine | |
aufregende Zeit und wir haben es genau richtig gemacht. Schade, dass so | |
etwas heute nicht annähernd mehr denkbar ist. Ich bin dankbar für die | |
Freundschaften und das Beziehungsgeflecht, was daraus entstanden und bis | |
heute lebendig ist. Heute bin ich für das Gebäudemanagement in einem | |
Sozialunternehmen verantwortlich. | |
Nico: Ich arbeite heute im Antigewaltbereich. | |
Norbert: Mit meiner Partnerin und unseren drei Kindern lebe ich in | |
Emmendingen in Südbaden und arbeite in einem großen | |
Datenverarbeitungsunternehmen. Seitdem bin ich bei den Grünen aktiv, unter | |
anderem im Ortschaftsrat und im Ortsvorstand. Nur wenigen habe ich erzählt, | |
dass ich Hausbesetzer war, das würden die meisten wahrscheinlich auch nicht | |
verstehen. Ein Geheimnis daraus mache ich jedoch nicht. | |
Markus: Meine Diplomarbeit habe ich damals zu Ende geschrieben, ich bin | |
dafür sechs Wochen zu meinen Eltern. Aktuell habe ich eine Weiterbildung | |
zum Erlebnispädagogen gemacht, wegen der Coronakrise aber nicht abschließen | |
können. Ich hoffe aber, bald im neuen Job arbeiten zu können. | |
Sönke: Über meine Vergangenheit haben immer alle Bescheid gewusst, auch bei | |
visitBerlin, wo ich 20 Jahre gearbeitet habe. Ich war da zehn Jahre für die | |
Touristeninformationen zuständig und dann zehn Jahre Kulturbeauftragter. | |
Inzwischen arbeite ich im Marketing beim Humboldt Forum. | |
Rüdiger: Ich arbeite heute in einem Antiquariat. Politisch arbeite ich zu | |
sexualisierter Gewalt, gehe noch auf Demos und hoffe, dass es auch mal | |
wieder Hausbesetzungen gibt. | |
David: Als ich 1993 rausging, war ich durch mit dem Thema, mit so vielen in | |
einem Haus zu wohnen. Aber nicht mit den einzelnen Leuten. Mit vielen | |
Einzelnen hab ich noch Kontakt. Und ich lebe seit der Zeit mit Sabine, die | |
ja auch dort gewohnt hat, zusammen. Wir haben drei Kinder, die mit diesen | |
Leuten groß geworden sind und sich zu engagierten linken Menschen | |
entwickelt haben. Wir haben eine sehr ambitionierte Idee von Zusammenleben | |
mit hohen Ansprüchen an uns und andere in etwas Lebbares verwandelt. Das | |
funktioniert auch ohne Haus. Das ist etwas, worauf ich tatsächlich stolz | |
bin. | |
Oliver: Ich bin heute an der FU Berlin tätig und berate Start-ups im | |
Bereich Social Entrepreneurship. Für die Naturwissenschaften ist es ja | |
normal, Anwendungen an den Markt zu bringen, bei den Sozialwissenschaften | |
ist das nicht so einfach. Aber das brauchen wir. | |
Sönke: Wenn ich heute an der Linienstraße vorbeigehe, denke ich immer, wie | |
wichtig es ist, Räume zu sichern, für Kultur, für soziokulturelle Projekte. | |
Oliver: Wenn ich heute zurückschaue, war die Zeit in der Linienstraße vor | |
allem eine praktische Erfahrung, Dinge zu organisieren zum Beispiel. Wir | |
waren damals auch gut darin, Papiere zu schreiben. Aber wir wollten damals | |
auch cool sein. Wir wollten Spaß haben, und das hatten wir auch. | |
Nico: Ich hab daraus fürs Leben gelernt. Ich hab gelernt zu diskutieren, | |
mich auszudrücken, mich durchzusetzen. Und dann war da diese Freiheit. So | |
was wird nie wiederkommen. Wenn ich an meine Kinder denke, so was werden | |
die nie erleben. Das war ein Geschenk. | |
Alle Protokolle: Uwe Rada. Ein Gespräch fand mit drei Protagonisten statt, | |
die anderen waren Einzelgespräche und wurden neu zusammengestellt. Der | |
Protokollant lebte ebenfalls ein Jahr in der Linienstraße 206. | |
Aus der Printausgabe der taz berlin am wochenende, Ostern 2020. | |
11 Apr 2020 | |
## AUTOREN | |
Uwe Rada | |
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