# taz.de -- 35 Jahre Hausbesetzung: „Es ist keine freie Entscheidung, so zu w… | |
> Seit 1990 leben 100 Leute in einem ehemals besetzten Haus in | |
> Berlin-Mitte. Zwei Bewohner*innen erzählen, wie kollektive | |
> Selbstverwaltung funktioniert. | |
Bild: Die besetzten Häuser in der Brunnenstraße 6/7, 1990 | |
taz: Sie wohnen in der Brunnenstr. 6/7 in einem Hausprojekt mit rund 100 | |
Leuten, verteilt auf zwölf WGs. Wer hält das Ganze zusammen? | |
Peymaneh Ghorbani: Es steht und fällt mit der Bereitschaft im Haus, in | |
Gemeinschaft zu leben. Es wäre zu einfach zu sagen, es hängt an den | |
immergleichen Leuten, die sich engagieren. | |
Heinke Castagne: Es fühlt sich so an, als würde es immer an bestimmten | |
Menschen liegen, die das Projekt halten. Aber die sind auswechselbar – und | |
das ist das Schöne. Die Übergänge sind hart, gerade wenn Menschen in | |
Unfrieden gehen. Aber in diese Lücke springen dann immer Leute ein. | |
taz: Gibt es also so etwas wie eine Hauskultur, die sich unabhängig von den | |
Bewohner*innen herausgebildet hat? | |
Castagne: Schön wär’s. Wir haben ja nicht mal ein Papier, in dem wir | |
beschreiben, was das hier ist. Das ist aber auch schön, weil dadurch hat es | |
etwas total Formbares und keine starre Struktur. | |
taz: Die Geschichte anderer Häuser ist die einer Verkleinerung. Warum ist | |
das bei Ihnen nicht so? | |
Castagne: Es gibt wenige Häuser, die so viel Platz für so große Gruppen | |
bieten. [1][Wenn wir anfangen würden, das zu verkleinern – obwohl das in | |
Konflikten immer wieder gefordert wurde – dann würde das so bleiben.] Dann | |
wird es immer kleiner und dann heißt es „meine Wohnung“, „mein | |
Mietvertrag“. Das ist hier ein Schimpfwort. | |
taz: Nehmen Sie auch in Ihrem Haus eine zunehmende Vereinzelung wahr – und | |
damit weniger Bereitschaft für kollektives Engagement? | |
Castagne: Ich tendiere zu Ja. Es gab schon öfter Momente, in denen wir uns | |
viel um uns selbst gedreht und auch innerlich zerrissen haben. Aber | |
manchmal muss man sich erst mal selbst finden, um gemeinsam etwas zu | |
organisieren. | |
Ghorbani: Die ersten Jahre, in denen ich hier gewohnt habe, waren sehr | |
stark von Konflikten geprägt und viele sind ausgezogen. | |
Castagne: Es gibt auf jeden Fall mehr Fluktuation als früher. Aber es gibt | |
immer auch Beständige, die 10 oder 20 Jahre hier wohnen. Ich wohne seit 33 | |
Jahren hier, fast die Hälfte meines Lebens. Ich habe aber nicht das Gefühl, | |
dass ich hier hängengeblieben bin. Ich habe mich immer wieder hinterfragt: | |
Ist das für mich noch richtig? Habe ich noch Lust, so viel Konsens | |
einzugehen? Es gab Momente, in denen es echt doof war hier, aber selbst da | |
habe ich die Frage nie mit Nein beantwortet. | |
taz: Was für Kon flikte? | |
Ghorbani: Alles. Der Berliner Wohnungsmarkt ist extrem angespannt. Es ist | |
keine freie Entscheidung, so zu wohnen, wie man möchte. Daher ist es | |
unmöglich, Konflikte rein zwischenmenschlich zu sehen, es schwingt immer | |
eine strukturelle Ebene mit. Das macht es sehr schwer, über Dinge zu reden. | |
Wenn der Wohnungsmarkt entspannter wäre, wären auch unsere Aushandlungen | |
weniger existenziell. | |
Castagne: Wir machen viele Fehler. Es gibt Auseinanderleben, die traurig | |
enden – für alle Seiten. Darin steckt ein Verlust und das Gefühl, es nicht | |
geschafft zu haben. Das ist wie eine Beziehung: Trennung ist schwer. | |
taz: Apropos angespannter Wohnungsmarkt. Es gibt bestimmt eine große | |
Nachfrage nach freien Plätzen und gleichzeitig haben Sie die Verantwortung, | |
dass die Leute ins Hausprojekt passen. Wie sehen Ihre Bewerbungsprozesse | |
aus? | |
Ghorbani: Das entscheidet jede WG für sich. Bei der Suche nach neuen | |
Mitbewohner*innen überlagern sich viele Bedürfnisse, Wünsche und | |
Ängste. Oft stehen wir vor der Frage: Entscheiden wir uns für jemanden, mit | |
dem es gut passt, oder für jemanden in einer prekären Situation, die auf | |
dem Wohnungsmarkt kaum Chancen hat? Man muss Kompromisse machen, aber mit | |
dem Resultat waren wir bislang als WG immer glücklich. | |
taz: Geht es den meisten Bewerber*innen eher um günstigen Wohnraum oder | |
darum, Teil eines politischen Projekts zu sein? | |
Ghorbani: Ausschlaggebend ist der Wunsch nach gemeinschaftlichem Wohnen. | |
Und, dass wir uns links verordnen und das auch im Alltag leben. | |
taz: Gibt es auch welche, die nur Interesse am gemeinschaftlichen Wohnen | |
vortäuschen, aber eigentlich nur günstig wohnen wollen? | |
Castagne: Günstiger Wohnraum ist eine Sache, aber zeitlich günstig ist | |
dieses Projekt nicht. Man kann hier eine Menge unbezahlte Arbeit leisten. | |
Ghorbani: Gemeinschaftlich und bezahlbar wohnen zu wollen, lässt sich auch | |
nicht so klar trennen. Wir haben nur deshalb Platz für große Wohnzimmer, | |
große Küchen, einen Hof und eine Siebdruckwerkstatt, weil wir keine | |
einzelnen Mietverträge haben. Außerdem macht es keinen Spaß, so zu wohnen, | |
wenn man nur günstigen Wohnraum will, denn es kommt ein Haufen an | |
Aushandlungen dazu. Man muss sich aufeinander einlassen und Aufgaben | |
übernehmen, die woanders die Hausverwaltung übernimmt. | |
taz: Wie viel ist verpflichtend und wie viel auf freiwilliger Basis? | |
Castagne: Es gibt keine Verpflichtungen. Wenn eine Gruppe unterbesetzt ist, | |
wird das im Plenum angesprochen und dann findet sich jemand. Wenn sich | |
Menschen gar nicht beteiligen wollen, muss man sie immer wieder einladen, | |
mitzumachen. | |
Ghorbani: Ich habe in den vergangenen Jahren sehr viel Frustration | |
empfunden über mangelnde Beteiligung. Aber man kann Engagement nicht | |
erzwingen, das ist mit vielen Lebensrealitäten nicht vereinbar. Mit diesen | |
Leuten möchte ich trotzdem zusammenwohnen, also muss ich aushalten, dass | |
Dinge manchmal nicht funktionieren. | |
taz: Ist das Haus auch nach außen noch politisch oder ist die politische | |
Dimension, dass das Zusammenleben gelingt? | |
Castagne: Wir sind nach außen nicht besonders präsent. Wir unterzeichnen | |
gemeinsam und treten als Gruppe auf. Es gibt die Möglichkeit, Dinge | |
gemeinsam vorzubereiten, aber organisiert als Haus sind wir nicht. | |
taz: Schützt Sie das im Gegensatz zu anderen Projekten vor | |
Zerfallsprozessen entlang bestimmter Themen, wie etwa Nahost? | |
Castagne: Auch darüber gibt es hier Diskussionen, wie in jedem Haus und | |
kleinsten Haushalt auch. Am Ende geht es darum, einen gemeinsamen Nenner zu | |
finden, der das Zusammenleben trägt, ohne dass er uns spaltet. Und den | |
geteilten Willen, gemeinsam zu leben. | |
taz: Haben Sie 2015 auch Geflüchtete aufgenommen? | |
Castagne: Die WGs haben je nach ihren Möglichkeiten Menschen aufgenommen | |
und wir hatten Räume, die wir als ganzes Haus finanziert haben. | |
taz: Und 2022 mit Geflüchteten aus der Ukraine genauso? Und waren die | |
Erfahrungen, die Sie da jeweils gemacht haben, anders? | |
Castagne: Ich erinnere mich nicht, dass es 2015 und 2022 Einschnitte gab, | |
sondern dass wir versucht haben, Menschen mit uns wohnen zu lassen. Die | |
Probleme waren immer da. Die Frage ist: Was können wir leisten und wer hat | |
die Kapazitäten, sich darum zu kümmern? Denn es geht um viel mehr, als nur | |
einen Platz anzubieten. | |
taz: Was ist mit Kindern, die in der Hausgemeinschaft aufwachsen. Was | |
nehmen die mit? | |
Castagne: Ich glaube, dass das gemeinschaftliche Umfeld einen riesigen | |
Einfluss hat. Wir haben hier schon einige Kinder großgezogen und ich finde, | |
das sind tolle Menschen mit einem sehr breiten Blick geworden. Aber es | |
kommt auch sehr darauf an, was die Eltern ermöglichen und wie stark sich | |
andere in der WG auf die Kinder einlassen. Wir waren lange eine Frauen-WG, | |
in der wir Jungs großgezogen haben. Einen habe ich einmal beim Zähneputzen | |
im Bad gefragt: Fehlt dir was, nur mit Frauen zu wohnen? Er hat sich | |
umgeguckt, sah ein Männerduschgel und Rasierschaum und sagte: Nö, ist doch | |
alles da, alles cool. | |
taz: Das hat er so gesehen. Aber wollten andere Frauen in der WG, dass er | |
auszieht, wenn er ein Mann wird? | |
Castagne: Nein. Die Diskussion kenne ich nicht. | |
taz: Als das vor 35 Jahren mit den Besetzungen los ging, war | |
Stadtteilarbeit ein großes Thema. Mittlerweile hat sich die Stadt komplett | |
verändert, hier ist aber alles noch wie vor 35 Jahren. Wie hält man das | |
aus? | |
Castagne: Genießen! (lacht) Auf Stadtteilarbeit hätte ich jetzt keine große | |
Lust – dafür hat sich der Kiez zu sehr verändert. Ich kenne keine der | |
Nachbar*innen mehr. Wir sind hier auch sehr versteckt. Wir sind von | |
außen nicht sichtbar und haben ein Tor, worüber wir ganz dankbar sind, weil | |
sonst ständig Tourist*innen reinkommen und Fotos machen. | |
Ghorbani: Wir leben hier schon in einer Szene-Bubble. Der Kontakt nach | |
außen besteht vor allem zu [2][anderen Hausprojekten im Kiez, zum Beispiel | |
zur Linienstraße]. Das ist manchmal schade, ein breiteres | |
nachbarschaftliches Netzwerk wäre natürlich wünschenswert. | |
taz: Gibt es die Haus-Kneipe, das Subversiv, noch? | |
Castagne: Ja, da finden viele Konzerte und Veranstaltungen statt. Sie sieht | |
auch immer noch fast so aus wie früher. Es ist toll, wenn diese Dinge | |
überleben. Dann denke ich: Es hat sich gelohnt. | |
Ghorbani: Neulich waren zwei Leute im Hof, die erzählt haben, dass sie in | |
den 90ern häufig Montagabends hier bei den Technopartys waren – die gingen | |
bis Mittwoch. Sie meinten, es sah ganz schlimm aus, aber die Anlage war | |
gut. Sie haben sich sehr gefreut, dass es den Ort noch gibt. | |
Castagne: [3][Es gab viele tolle Sachen hier. Die Tuntenabende Donnerstags | |
waren legendär.] Dafür sind die Leute von weit her angereist. | |
taz: Trauern Sie Dingen von damals hinterher? | |
Castagne: Natürlich. Damals waren wir ja auch toller – vielleicht trauere | |
ich auch dem hinterher (lacht). Aber ich versuche, das realistisch zu | |
sehen. Ich selbst mache ja auch vieles nicht mehr so wie früher. Es ist | |
eben alles anders und das ist auch in Ordnung. | |
taz: Vor einigen Jahren hat sich die taz fast zerlegt über die Frage: | |
Identität oder universelles Wir. Gab es diese Konflikte bei Ihnen auch? | |
Ghorbani: Es gibt keine Lager, die Kämpfe für den Universalismus oder | |
Partikularismus kämpfen. Aber natürlich sind diese Fragen immer wieder | |
Thema. Bei den konkreten Konflikten, die wir hier haben, sind diese | |
theoretischen Diskussionen aber nicht hilfreich – sie stehen dem sogar im | |
Weg. Es braucht da Empathie und Wohlwollen. | |
Castagne: Es gibt aber auch Menschen, die in Projekte einziehen, die | |
spalten. Die habe ich hier auch immer wieder erlebt. Das muss eine Gruppe | |
auch erkennen und handeln können. | |
taz: Wie gehen Sie damit um? | |
Castagne: Da sind wir kein Stück besser, als die Welt da draußen. Es gibt | |
unterschiedliche Haltungen, Lager, Klatsch und Tratsch. Entscheidungen zu | |
treffen, wer wann ausziehen muss, sind verdammt schwer. Wir als Haus können | |
das nicht. | |
Ghorbani: In unserem Selbstverständnis steht, dass Gewalt hier keinen Raum | |
hat. Aber in der Umsetzung hat uns das oft vor Herausforderungen gestellt: | |
Ab wann ist etwas Gewalt? Und in welchem Verhältnis steht das zu der | |
Gewalt, jemanden aus der Gruppe und dem Wohnraum zu verweisen? Es ist | |
nahezu unmöglich, eine rote Linie zu definieren, die auch dann noch | |
standhält, wenn Freundschaften involviert sind. | |
Castagne: Das wird immer erwartet von uns in den Häusern. Aber wie soll das | |
gehen? Andere können das doch auch nicht. Neulich haben wir Plena-Bücher | |
aus den 2000ern gefunden. Die Themen sind fast identisch mit denen heute: | |
Wie entscheiden wir gemeinsam, wenn es einen Konflikt gibt? Welche Rolle | |
wollen wir einnehmen oder nicht einnehmen? Welche Entscheidungsgewalt hat | |
die WG und wo braucht es noch mehr? | |
taz: Das ist ein sehr reflektiertes und nachdenkliches Gespräch. Wenn hier | |
jetzt zwei andere Hausbewohner*innen sitzen würden – würden die das | |
genauso sehen? | |
Ghorbani: In friedlichen Zeiten sehen das viele so. Wenn es Konflikte gibt, | |
gehen die Meinungen schnell auseinander und werden Gegenstand politischer | |
oder moralischer Diskussionen. Ich persönlich kann darüber hinwegsehen, | |
dass Sachen manchmal nicht so gut laufen und Menschen im Schlechten | |
auseinandergehen. Das stellt für mich nicht das kollektive Zusammenleben in | |
Frage. Es gibt aber Menschen, die sich an die Brunnenstraße erinnern und zu | |
Recht sagen: Das ist gar nicht gut gelaufen mit der kollektiven | |
Selbstverwaltung. | |
Castagne: Es gibt aber auch viele, die sich gerne an ihre Zeit hier | |
erinnern. Für viele war und ist es ein ganz besonderer Ort – ein Freiraum, | |
in dem man bis in die Nacht diskutieren und sich an anderen Meinungen | |
reiben kann, ohne dass jemand einem sagt, dass etwas nicht geht. Das hat | |
viele sehr geprägt und empowered. | |
Heinke Castagne, 56, ist Rentnerin und war früher Sozialpädagogin. Peymaneh | |
Ghorbani,29, ist Fachkraft für IT-Sicherheit | |
Uwe Rada, 61, war vor 35 Jahren selbst Hausbesetzer in Berlin. Lilly | |
Schröder war da noch gar nicht geboren. | |
10 Jul 2025 | |
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