# taz.de -- 20 Jahre Hausbesetzung in Ostberlin: Küchen, die Geschichte schrie… | |
> Vor 20 Jahren wurde die "Jessi" in Friedrichshain besetzt. Bis heute ist | |
> das "Hippie-Haus" für seine Konzerthöhle Supamolly bekannt. Heute fühlen | |
> sich auch junge Familien dort wohl - auch der Gemeinschaftsküchen wegen. | |
Bild: Damit fing alles an: 1. Mai-Krawalle zwischen linken Hausbesetzern und de… | |
Er werde sich um den Einspruch bei Google kümmern, sagt Horst. Darum, dass | |
die Jessi bei Streetview gepixelt werde. Thomas nickt. Dann rollt sich | |
Horst eine Zigarette zurecht und nestelt sie zwischen seinen Fingern. "Ach | |
ja, Nichtraucherküche", murmelt der 35-Jährige mit dem aufgeknöpften Hemd | |
und legt die Kippe zur Seite. | |
Die beiden Männer sitzen am Holztisch der Familienküche, ganz oben unterm | |
Dach des Vorderhauses. Milchkaffee steht auf dem Tisch und ein | |
Blumenstrauß. Neben der Sofaecke liegen Bauklötze. Die Gemeinschaftsküchen, | |
sagt Thomas, ein 44-Jähriger mit runder Brille und Glatze, seien das Herz | |
der Jessi. Um die fünf Küchen organisiere sich das Leben im Haus. Jeder | |
Bewohner ordnet sich einer zu. Horsts Küche liegt im Hinterhaus. Die mit | |
der Dachterrasse, dem Hundeverbot und dem Sonnenschein ab mittags. Dann | |
gebe es noch die Stasi-Küche, unten im ersten Stock. Wegen der | |
Sprelacart-Möbel, die dort jahrelang standen. Und wegen des direkten | |
Blickes auf die Jessnerstraße - wo Besucher stets als Erstes erspäht | |
werden. | |
Zwanzig Jahre blickt die Jessi auf die Straße am Ostrand Friedrichshains. | |
Ein dunkelroter Farbklecks inmitten einer sanierten Straße mit | |
Rotdorn-Bäumchen: rostbraune Balkone, rankender Efeu, ein großer | |
Draht-Drachen im Hinterhof und vorne raus immer noch das Laken: "Kein | |
Fußbreit den Faschisten, kein Handbreit dem System". Wenigen Hausprojekten | |
dieser Stadt ist eine derartige Langlebigkeit beschieden. | |
Es ist Anfang Juli 1990, als ein Dutzend Westberliner Linke in | |
Friedrichshain nach einem neuen Domizil suchen. Die Zeitschrift Interim | |
hatte eine Liste großer, leerstehender Häuser veröffentlicht, in der | |
Jessnerstraße sei es am grünsten gewesen, erinnert sich Samuel, einer der | |
Erstbesetzer. Eine völlige Ruine seien Hinterhaus und Seitenflügel gewesen. | |
Löcher im Boden, kaputte Fenster, Schimmel. | |
Als im November 1990 die Mainzer Straße geräumt wird, flüchten sich die | |
Bewohner der dortigen 9 und 11 in die Jessi. Noch im gleichen Jahr sind | |
alle Flügel voll. Die Bewohner eröffnen den Supamolly, eine Anarcho-Kneipe | |
und Konzerthöhle im Hinterhof-Keller. Es ist der zu der Zeit größte und | |
wohl auch düsterste Friedrichshainer Alternativ-Treff - und bleibt bis | |
heute das Aushängeschild der Jessi. | |
Überhaupt sind das die wilden Jahre des Hausprojekts. Zweimal attackieren | |
"Fascho"-Trupps aus dem benachbarten Lichtenberg das Haus mit Steinen und | |
Mollys, zweimal werden sie wieder vertrieben. Dann kehrt Ruhe ein. Denn | |
1992 werden aus den Besetzern Mieter: Bevor die erste Räumungsschlacht | |
gefochten ist, verteilt die Wohnungsbaugesellschaft Friedrichshain | |
Einzelmietverträge gegen Duldung. Sieben Jahre später übernehmen die | |
Jessianer das Haus komplett: als Genossenschaft, die sie zusammen mit drei | |
weiteren Häusern bilden. Man sei für Barrikaden zuständig, nicht für | |
Mietverträge, sträubte sich das Plenum anfangs gegen das Modell, erinnert | |
sich Thomas. "Aber hätten wirs nicht gemacht, gäbe es uns heute | |
wahrscheinlich gar nicht mehr." | |
Es ist dieser Mut zum Kompromiss, der die Jessi überleben lässt. Man lädt | |
die Nachbarn zum Kuchen in die Küche, der Genossenschafts-Bauleiter wird | |
Stammgast im Supamolly. Schnell wird die Jessi zur "Hippie-Hütte" der | |
Szene. Musiker und Schauspieler finden hier neben Anarchos Unterschlupf. | |
Anders als anderswo geht es hier undogmatisch zu. Auch die taz attestiert | |
der Jessi 1996 "in Sachen Humor ihren Genossen um Längen voraus" zu sein. | |
Horst und Thomas führen die Treppen hinab vor die Bühne im dunklen | |
Supamolly, durch eine alte Hinterhof-Remise, die mal Ofensetzerei war. | |
"Hier unten habe ich Veranstaltungstechnik gelernt", erzählt Horst. Bei ihm | |
sei es das Schlosserhandwerk gewesen, sagt Thomas. Künstler, Handwerker, | |
Studenten, Arbeitslose wohnen aktuell in der Jessi, zählen die beiden auf; | |
auch eine Ärztin und ein Chilene, der die 70 überschritten habe, seien | |
dabei. Insgesamt etwa 45 Leute, darunter Familien mit Kleinkindern. | |
Bergeweise trugen die Bewohner vor zehn Jahren Schutt auf die Straße, | |
sanierten drei Jahre lang mit der "wohnungspolitischen Selbsthilfe" des | |
Senats ihr Haus, von oben bis unten. Heute läuft man über abgezogenes | |
Parkett, es gibt zehn hell geflieste Gemeinschaftsbäder, im Hinterhof grünt | |
und blüht es. Zum Plenum treffen sich die Bewohner noch alle vier bis sechs | |
Wochen, um politische Entscheidungen geht es dabei nur mehr selten. Eher | |
steht Alltägliches im Vordergrund. "Man muss nicht mehr alle Probleme im | |
Plenum hochpushen", sagt Horst. Man habe gelernt, manches auch einfach | |
friedlich auszusitzen. | |
Was sich nicht gewandelt hat, betont der 35-Jährige, sei der | |
Gemeinschaftsgedanke im Haus. Das explizit gewollte Zusammenleben, die | |
offenen Türen, die Gemeinschaftsräume. Und der Supamolly als Wohnzimmer, | |
Integrationspunkt und Haus-Ökonomie. Nicht einmal habe man in den 20 Jahren | |
für die dort erbrachte Kultur Fördergelder gesehen, bemerkt Horst. "Und | |
trotzdem ist kein Ende abzusehen." Auch deshalb, weil für Neuankömmlinge | |
die Tür der Jessi immer noch einen Spaltbreit weiter offen steht als bei | |
anderen Hausprojekten. Ein Veto gegen Einzugsanwärter gebe es fast nie, | |
sagt Horst. Er ist selbst überrascht, als er das feststellt. | |
Horst selbst nämlich hat es noch erfahren, 1999 war das. Als er sich mit | |
seinen alten Mitbesetzern verstritten hatte, zog er auf einen Baum, der auf | |
einer Brache neben der Jessi stand. Vier Tage hätten ihn die Jessi-Leute | |
beäugt, dann zum Frühstück und zum Bleiben eingeladen. Horst blieb, sieben | |
Jahre. Dann zog er in eine eigene Wohnung - nur um zwei Jahre später wieder | |
zurückzukehren. Er habe das nicht mehr gekonnt, sagt Horst. Die Decke sei | |
ihm auf den Kopf gefallen. Jetzt bleibe er hier. "Vielleicht bis ich | |
Rentner bin, mal sehen." | |
21 Aug 2010 | |
## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
Konrad Litschko | |
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