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# taz.de -- Politologe über Islamismus in Sahelzone: „Der Krieg ist nicht zu…
> Frankreichs Einsatz in der Sahelzone ist zum Scheitern verurteilt, sagt
> Marc-Antoine Pérouse de Montclos. Für Dschihadisten sei er gar ein
> Geschenk.
Bild: Auf vergeblicher Patroullie? Französische Soldaten im Juli 2019 in Ndaki…
Hier geht es zur [1][französischen Originalversion] des Interviews.
taz: Herr de Montclos, in Ihrem Buch schreiben Sie, dass der Krieg gegen
den Terror im Sahel verloren ist. Wie kommen Sie darauf?
Marc-Antoine Pérouse de Montclos: Zunächst ist es eine Bilanz der beiden
Hauptziele der französischen Militärintervention Serval in Mali 2013, aus
der die bis heute fortdauernde Antiterrormission Barkhane wurde. Das erste
Ziel bestand darin, die dschihadistische Bedrohung zu eliminieren oder
zumindest einzudämmen. Stattdessen wurden die dschihadistischen Gruppen
versprengt und sind heute schwerer aufzuspüren. Sie haben sich in Regionen
festgesetzt, wo sie vorher nicht waren, wie im Zentrum Malis und im Norden
von Burkina Faso. Von Sieg kann also keine Rede sein.
Das zweite Ziel war die Wiederherstellung der Souveränität Malis auf dem
gesamten Staatsgebiet, denn 2012 hatten Tuareg den Norden Malis zum
unabhängigen Staat „Azawad“ erklärt. Heute ist [2][Mali immer noch faktis…
geteilt]. Im Norden erheben Rebellen die Steuern. Wenn man in Gao lebt und
in die Hauptstadt Bamako will, muss man über Niger und Burkina Faso reisen,
weil die Straßenverbindung zu unsicher ist.
Sie raten zum [3][Rückzug der französischen Armee]. Manche sagen, [4][dann
wäre es noch schlimmer], denn die Dschihadisten würden die Hauptstädte
Bamako, Niamey und Ouagadougou erreichen.
Ich glaube nicht an das Szenario von Gruppen, die Bamako erobern und einen
riesigen islamischen Staat „Sahelistan“ errichten. Wenn die französische
Armee sich zurückziehen würde, kämen wir auf die Lage vor ihrer
Intervention zurück, als sich mehrere bewaffnete Gruppen um die Kontrolle
Nordmalis stritten. Im Süden Malis gäbe es Unruhe, aber keinen islamischen
Staat. Und man vergisst, dass es in Mali auch die UN-Mission mit 13.000
Blauhelmen gibt. Ich glaube nicht an einen Krisenbogen von Irak bis Mali.
Sie glauben nicht an die terroristische Multinationale, aber es gibt
Treueschwüre und Allianzen und eine gemeinsame Ideologie der afrikanischen
Dschihadisten mit dem IS und al-Qaida, oder?
Ach, die gemeinsame Ideologie, die ändert sich je nach Konjunktur. Ich sehe
keine Kombattanten aus der arabischen Welt in Afrika, auch nicht aus
europäischen Banlieues, keine Geldtransfers, kein zentrales Kommando. Ich
sehe lokale Gruppen, die globale Namen verwenden, um wichtiger auszusehen
als sie es sind.
Die Loyalitäten sind zuweilen Opportunismus. Der Chef des „Islamischen
Staates der Großen Sahara“, al-Sahraoui, hatte sich mit algerischen
Dschihadisten von al-Qaida überworfen, er verließ deren Gruppe und gründete
seine eigene. Und weil er sich von einer Al-Qaida-Gruppe gelöst hatte,
verschrieb er sich dem IS. Das heißt nicht, dass er von dort Anweisungen
annimmt.
[5][In der Geschichte der Sahelzone] gibt es eine dschihadistische Kultur,
beispielsweise bei den Peul von Macina im 19. Jahrhundert …
Genau! Afrikaner brauchen keine Araber, um Dschihad zu führen. Hören wir
auf, Afrikaner so anzusehen, als würden sie ständig von außen manipuliert.
Sie können selbst rebellieren und ihre eigene „Befreiungstheologie“
konstruieren, um ihre soziale Revolte zu begründen, ohne Fernsteuerung.
Heißt das, das Label „Dschihadisten“ insgesamt ist opportunistisch gewähl…
Es ist eine gegenseitige Instrumentalisierung. Die Dschihadisten verleihen
ihr Label an lokale Konflikte, vor allem Landkonflikte, während die lokalen
Konfliktparteien den Koran nutzen, um sich zu rechtfertigen. Es geht in
beide Richtungen. Die Afrikaner manipulieren die Araber, indem sie eine
globale revolutionäre Agenda beanspruchen, um ihre lokale Agenda zu
befördern – Peul-Ansprüche auf Wanderwege für Nomaden oder Tuareg-Ansprüc…
auf regionale Autonomie.
Gibt es eine moralische Begründung für den Dschihadismus im Sahel? Es ist
viel von Unmut über Korruption und über Menschenrechtsverletzungen die
Rede.
Ja, es ist ganz bizarr. Die Dschihadisten wenden sich an die Armen und
versprechen, ihre Steuer „Zakat“ im Rahmen der Scharia umzuverteilen. Es
ist ein idealistischer Diskurs, aber er funktioniert teilweise angesichts
der Korruption des Staates. Außergerichtliche Hinrichtungen und Folter in
der Haft ermöglichen es Dschihadisten, sich als einheimische Widerständler
gegen auswärtige Invasoren darzustellen.
Die Anwesenheit der französischen Armee ist für sie ein Geschenk des
Himmels. Es verankert sie in einem Diskurs des nationalen Widerstandes, ein
bisschen wie Hamas in Palästina. Das richtet sich nicht nur gegen den
Westen, sondern auch gegen Soldaten aus fremden Landesteilen: Südnigerianer
im Norden, oder Bambara aus dem Süden Malis bei den Tuareg im Norden.
Heißt das, Frankreich und die Sahelstaaten fahren die falsche Strategie?
Der Krieg ist nicht zu gewinnen, denn das Grundproblem ist kein
militärisches. Die Lösung ist in erster Linie politisch, denn das
Grundproblem ist schlechte Regierungsführung und die Unfähigkeit der
Staaten, Konflikte anders als durch Repression zu lösen.
Frankreich will seine Verbündeten aber nicht kritisieren und konzentriert
sich lieber auf die Frage der Entwicklungshilfe unter dem Ansatz, dass
Armut an der Wurzel der Aufstände im Sahel liegt und dass man mit ihrer
Hilfe die Armut bekämpfen und die Anziehungskraft der Dschihadisten
verringern kann.
Wenn unter dieser Voraussetzung Frankreich abzieht, würde das nicht doch
zum Desaster führen? Die Anzahl der Dschihadisten steigt, die Schwere ihrer
Angriffe auch.
[6][Der Abzug der Franzosen] könnte auch das Gegenteil bewirken. Im Moment
hält die internationale Gemeinschaft korrupte und oft autoritäre Regime
künstlich an der Macht. Militär- und Finanzhilfe ermutigt nicht zu
Reformen, sie ist eine Art Lebensversicherung für diese Regime. Wenn man
diese Versicherung entzieht, führt das sicherlich zum Drama, aber es
ermöglicht auch, dass die Afrikaner ihr Schicksal in die eigene Hand
nehmen. Mit welchem Ergebnis – das weiß ich nicht. Vielleicht gibt es eine
Islamisierung der Politik, weil der postkoloniale Staat heute als obsolet
gesehen wird. Aber ich glaube nicht, dass die Scharia große Unterstützung
genießt.
Ist es nicht fatalistisch, den Krieg verloren zu geben? Könnte man nicht
die Strategie ändern?
Der Krieg ist verloren, weil er als sehr fern und als exotisch gilt. Es ist
sehr schwer zu wissen, was eigentlich passiert. In Kolumbien gibt es einen
Friedensprozess und Versöhnung. Im Sahel gibt nur eine einzige Erzählung,
und sie handelt ausschließlich von Greueltaten der Dschihadisten, nie von
denen der Regierungstruppen. Man bräuchte einen Versöhnungsprozess, und
dafür müssten die Staaten akzeptieren, mit den Aufständischen zu sprechen
und ihre eigenen Fehler einzugestehen.
Im Moment gehen Jugendliche zu den Dschihadisten, um sich zu schützen, um
Massaker, Folter und Haft zu entgehen. Weitere Verstärkung aus Frankreich
ermutigt dieses Verhalten der Regierungsstreitkräfte. Ich bin für einen
ausgehandelten Zeitplan des Rückzugs, der ständig an die Fortschritte vor
Ort angepasst wird.
Andere EU-Staaten zögern, sich an der Seite Frankreichs zu engagieren – ist
es, weil sie Ihre Analyse teilen?
Ich denke, es gibt zwei Gründe. Zum einen gilt die Region als Frankreichs
Hinterhof. Zum anderen teilen die Europäer nicht die dramatische
französische Analyse der Lage. Keine der dschihadistischen Gruppen Afrikas
hat je einen Terroranschlag in Europa oder Amerika verübt, sie sind nicht
der IS oder al-Qaida. Es gibt aber auch in Frankreich Diplomaten und
Militärs, die meiner Analyse zustimmen. Ich sage laut, was sie nur denken.
Sie wissen, dass sie gegen die Wand fahren, aber sie dürfen es nicht sagen.
9 Mar 2020
## LINKS
[1] /Intervention-francaise-en-Afrique/!5670035
[2] /Anthropologe-ueber-die-Situation-in-Mali/!5632878
[3] /Sahel-Gipfel-in-Frankreich/!5652249
[4] /Terrorbekaempfung-im-Sahel/!5653662/
[5] /Sahelzone-und-Islamismus/!5631914/
[6] /Sicherheit-im-Sahel-und-am-Tschadsee/!5642910
## AUTOREN
François Misser
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