| # taz.de -- Pro und Contra zur autofreien Innenstadt: Wie sozial ist das denn? | |
| > Das Ringen um den Raum auf der Straße ist auch ein Kulturkampf. Aber: Ist | |
| > die autofreie Stadt überhaupt sozialverträglich? | |
| Bild: Gab's alles schonmal: Erster autofreier Sonntag in Berlin, 1973 auf dem K… | |
| Pro | |
| Das ist eine gute Nachricht. Der Kulturkampf gegen das Auto hat begonnen. | |
| Geführt wird er von unten: von BürgerInnen, die ihrer Lebensqualität in der | |
| Stadt, ihrer Sicherheit und dem Klimaschutz größeren Stellenwert einräumen | |
| als dem individuellen Anspruch darauf, mit dem eigenen Auto Lebensqualität | |
| und Sicherheit anderer sowie das Klima für alle zu beschädigen. Nicht die | |
| Industrie und auch nicht die Politik sind die Antreiber dieser Debatte, | |
| sondern jene, die [1][die autofreien Straßen mit Protestaktionen] und | |
| wissenschaftlich fundierten Analysen einfordern. | |
| Die Forderung nach Innenstädten ohne motorisierten Individualverkehr ist | |
| keineswegs nur ein Projekt grünliberaler Eliten, sondern wird von | |
| Fahrradfahrern, Eltern und Klimaaktivisten aus allen sozialen Schichten | |
| erhoben. Genauso milieuübergreifend sind ihre Gegner, jene, die am privaten | |
| Luxus eines Autos festhalten. Der Auto-Fetisch ist vom Einkommensmillionär | |
| bis zum kleinen Handwerker verbreitet – doch deren Individualinteresse | |
| schadet der Allgemeinheit. Die Verbannung der Autos etwa aus dem | |
| S-Bahn-Ring träfe alle gleichermaßen. Unsozial ist das nicht. | |
| Autos sind auch kein Fortbewegungsmittel derer, die morgens um 4 Uhr | |
| [2][unsere Schulen putzen]. Etwa 300 Euro sind monatlich notwendig, um ein | |
| Auto zu unterhalten. Wer prekär lebt, muss darauf seit jeher verzichten. In | |
| Berlin sind das viele: mehr als die Hälfte der Haushalte hat – auch aus | |
| anderen als finanziellen Gründen – überhaupt kein eigenes Auto. Warum auch? | |
| Schon jetzt hat Berlin einen öffentlichen Nahverkehr, der einen nahezu | |
| überall schneller hinbefördert als das eigene Auto auf den überfüllten | |
| Straßen. | |
| ## Mehr öffentliche Infrastruktur | |
| Hinzu kommt: der Weg zu einer autofreien Innenstadt geht nur über eine | |
| weitere massive Verbesserung des Angebots von BVG und S-Bahn. Wer morgens | |
| um 4 zu seinem Arbeitsplatz muss, braucht ein entsprechendes Angebot ohne | |
| lange Wartezeiten. Für Pendler müssen Park-and-Ride-Angebote ausgebaut | |
| werden. | |
| Und für Wege, die nicht anders zurückgelegt werden können, braucht es | |
| Car-Sharing-Angebote, die finanzierbar sind und deshalb nicht privaten | |
| Firmen überlassen bleiben dürfen. Mit all diesen Begleitmaßnahmen gibt es | |
| keinen Grund mehr, warum 3,5 Millionen tägliche Kfz-Fahrten, von denen nur | |
| ein minimaler Teil auf Pendler entfallen, und insgesamt 1,2 Millionen | |
| Autos, die 95 Prozent der Zeit ungenutzt herumstehen, die Stadt verstopfen. | |
| Eine lebenswerte Stadt bietet Platz für Flaneure, Straßencafés, für | |
| Radfahrer und Kinder. Sie ist außerdem die Voraussetzung dafür, dass Berlin | |
| seinen Teil zur Lösung der globalen Klimakrise leistet. Die Zeit dafür ist | |
| gekommen. Jetzt braucht es Mut – und keine Ausflüchte. Erik Peter | |
| Contra | |
| Eins vorneweg. Mit Testosteron vollgepumpte Männer, mit oder ohne Tattoo, | |
| die die Straßen der Stadt als Kampfplatz missbrauchen, sind mir zuwider. | |
| Nur frage ich mich, wie es wäre, wenn die Straßen der Innenstadt nur noch | |
| von Besserverdienenden genutzt werden, die unter dem Pflaster nicht den | |
| Strand entdecken, sondern ihre teuren [3][Kinderwägen statt der SUV] | |
| spazieren fahren. | |
| An manchen Orten in Prenzlauer Berg ist bereits abzusehen, welche Bilder | |
| eine Eroberung der Innenstadt durch die Gewinner der Gentrifizierung | |
| hervorbringt. Und die Gewinner der Gentrifizierung werden auch die Gewinner | |
| einer autofreien Innenstadt sein, wenn diese nicht sozialpolitisch | |
| abgefedert wird. Man könnte auch sagen: Was die Mietenexplosion trotz aller | |
| Verwerfungen noch immer nicht geschafft hat, könnte ausgerechnet die | |
| autofreie Stadt bewirken: die massive Verdrängung von Geringverdienern aus | |
| den Innenstadtbezirken. | |
| Denn wer prekär lebt, ist oft auf das Auto angewiesen. Ein Job hier, einer | |
| dort, dazwischen kurz das Kind versorgen? Geht nur mit dem Auto. | |
| Schichtarbeit als Krankenschwester in einer Klinik am Stadtrand? Auto. Ein | |
| Intensivpfleger mit eng getaktetem Zeitplan für die Patienten? Auto. | |
| Arbeit in der Gastronomie bis morgens um drei. Auto. Mögen sich die | |
| Besserverdienenden mit guter Arbeit die autofreie Stadt leisten können, | |
| sind viele, die in der Innenstadt wohnen bleiben wollen und am Monatsende | |
| kaum mehr was auf dem Konto haben, auf das Auto angewiesen. | |
| ## Stadt: Ein Nebeneinander von Fremden | |
| Und dann gibt es noch die, die ohne ihr Statussymbol zu Zwergen schrumpfen | |
| würden. Man muss sie, wie gesagt, nicht mögen. Aber Stadt ist immer auch | |
| das Nebeneinander von Fremden, die sich nicht lieben, wohl aber | |
| nebeneinander leben lernen müssen. Ein Abbild dieser sozialen und | |
| kulturellen Mischung ist auch der Straßenverkehr mit dem Nebeneinander von | |
| Autos, Fahrrädern und E-Scootern. | |
| Eine Stadt, in der nur noch Gleiche unter ihresgleichen leben würden, wäre | |
| nichts anderes als ein überdimensioniertes Dorf. Ein solches Dorf aber | |
| könnte aus der Innenstadt werden, wenn, nennen wir sie Maik und Mesut, | |
| künftig nicht mehr [4][auf der Sonnenallee] ihre BMW flott machen dürften. | |
| Ja, auch an ihnen darf der Klimawandel nicht vorbeigehen, auch sie müssen | |
| den Schuss hören. Aber besser, sie hören ihn in der Innenstadt als am | |
| Stadtrand. Manche Grünenwähler, die diese Nachbarn schon immer störend | |
| fanden, dürften sich über solche Kollateralschäden der autofreien Stadt | |
| heimlich freuen. | |
| Die Zurückdrängung des privaten Autoverkehrs braucht also eine | |
| Gentrifizierungsbremse. Wer nachweisen kann, dass er oder sie auf das | |
| eigene Auto angewiesen ist, muss es auch weiter nutzen können. Wer seinen | |
| Lieferwagen braucht, um als Handwerker über die Runden zu kommen, muss sich | |
| nicht verteidigen müssen. Und wer sich ohne Auto nackt fühlt, darf sich | |
| auch in Chrom kleiden dürfen. Teurer darf es aber gerne werden, wenn das | |
| Auto nicht beruflich gebraucht wird. | |
| Vielleicht teilen sich Maik und Mesut dann mal einen tiefgelegten BMW, wenn | |
| es für zwei nicht mehr reicht. Auch eine Art von Sharing. Uwe Rada | |
| 22 Sep 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Uwe Rada | |
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