# taz.de -- Massenprodukt Huhn: Heißhunger auf Huhn | |
> Kein Tier ist so überzüchtet wie das Huhn. Es ist fett und billig. Aber | |
> warum wurde ausgerechnet das Huhn zum Ramschartikel in der Fleischtheke? | |
Bild: Geflügelmäster Stefan Teepker kontrolliert die Krallen seiner Hühner | |
HANDRUP/KOLKWITZ taz | Stefan Teepker knipst das Licht an, Stall Nummer 4 | |
wird erleuchtet, und 37.000 Hühner erwachen. Sekunden später wogt eine | |
Welle aus weißen Körpern durch die graue Wellblechhalle. Eine chaotische | |
Masse, die scheinbar kein Ende nimmt, in der es keine Ordnung gibt. Staub | |
steigt auf und vermischt sich mit dem Gelärme aus Tausenden Hühnerkehlen, | |
spitz und kratzig. | |
Teepker greift unerschrocken in die weiße Masse hinein und packt zu. Der | |
weiße kleine Körper in seiner Hand windet sich, protestiert und wird dann | |
schlaff. Es ist ein Hähnchen, 26 Tage alt, etwa 1,4 Kilo schwer. In zwei | |
Wochen wird es geschlachtet. | |
Seit April dieses Jahres ringt das „Klimakabinett“ der Bundesregierung um | |
nachhaltige Lösungen für Verkehr und Landwirtschaft. Die deutsche | |
Gesellschaft debattiert über Fleischverzicht, und der Konsum von Rind und | |
Schwein geht langsam zurück. Nur das Huhn hat nichts davon. | |
622 Millionen Masthühnchen landeten 2018 in den Schlachthöfen, 23 Millionen | |
mehr als im Vorjahr. 81 Prozent aller geschlachteten Tiere in Deutschland | |
sind Masthühner. Hähnchenbrustfilet, 300 Gramm für 4 Euro. Noch nie wurde | |
so viel Geflügel verzehrt wie heute. Nicht nur in Deutschland, sondern | |
weltweit. | |
## Immer weniger Betriebe mästen immer mehr Tiere | |
Das Huhn ist zum Massenprodukt geraten, zum Ramschartikel in der | |
Fleischtheke. Zum hochgezüchteten Superhuhn, das schneller wächst und mehr | |
Fleisch und Eier liefert als je zuvor. | |
Ein Wandel, eine Steigerung der Effizienz, die nicht nur das Huhn ergriffen | |
hat, sondern die gesamte Landwirtschaft. Immer weniger Betriebe | |
bewirtschaften immer mehr Land und mästen immer mehr Tiere. Kleine Höfe | |
geben auf, statt festen Arbeitskräften malochen billige Lohnarbeiter auf | |
den Feldern. Technik ersetzt Handwerk in den Ställen. | |
Und das Huhn ist das hochgemästete Werbegesicht dieser Entwicklung. Einer | |
Entwicklung, die aus Tieren Maschinen macht und Landwirte in ein System | |
zwängt, aus dem es kaum einen Ausstieg gibt. Wie konnte es dazu kommen? Und | |
gibt es ein Zurück? | |
Ein warmer Junimorgen im platten Hinterland von Niedersachsen, der Hochburg | |
der deutschen Geflügelwirtschaft. Rund 61 Millionen Hühner leben hier, zwei | |
Drittel aller deutschen Masthühner. | |
## Das Ross 308 ist ein Superhuhn | |
Stefan Teepker steuert seinen schwarzen Mercedes durch den trägen | |
Vormittag, vorbei an satten Wiesen und Höfen aus verwittertem Backstein. | |
Der 38-Jährige ist unterwegs zu einem seiner Ställe. Einer Ansammlung von | |
grünem Wellblech, die sich unauffällig in die Landschaft schmiegt. | |
Stefan Teepker ist Landwirt, Hühnermäster und Vater von vier strohblonden | |
Kindern. Er beschäftigt 17 Angestellte, beackert 500 Hektar Ackerfläche, | |
hält 3.000 Schweine und 440.000 Hühner. Eine Großstadt voller Gefieder. Man | |
könnte sagen, Stefan Teepker ist ein Mann der Effizienz. Dazu passt auch | |
sein Vieh. | |
In Teepkers Stall lebt das Ross 308. Ein Superhuhn. | |
„Das Ross 308 ist weltweit als ein Masthähnchen anerkannt, das eine | |
konstante Leistung liefert. Produzenten schätzen die Wachstumsrate, die | |
Futtereffizienz und die robuste Leistung des Ross 308.“ | |
So steht es in der Produktbeschreibung des Tiers. Nachzulesen auf der | |
Website des amerikanischen Unternehmens Aviagen, eines der größten | |
Masthähnchenzüchter der Welt. Dort findet sich auch eine | |
Bedienungsanleitung für das Ross 308, genannt „Broiler-Handbuch.“ Neben | |
Tipps zur Temperaturregelung im Stall und der empfohlenen Futtermenge ist | |
auch die Leistung der Tiere erfasst. | |
## Vier Kilo in 40 Tagen | |
In rund 40 Tagen frisst ein Huhn der Kategorie Ross 308 etwa vier Kilo | |
Getreide und legt zwei bis drei Kilo zu. So viel und schnell wie kein | |
anderes Nutztier. Schweine müssen drei Kilo fressen, um ein Kilo Fleisch | |
anzusetzen, Kühe, je nach Gewicht und Alter zwischen acht und zehn | |
Kilogramm. | |
„Das Ross 308 ist das beliebteste Masthähnchen der Welt.“ So steht es im | |
Broiler-Handbuch von Aviagen. | |
Das amerikanische Unternehmen gehört zur deutschen Erich Wesjohann Gruppe, | |
kurz EW Group, einem Geflecht aus 28 deutschen und 81 ausländischen Firmen. | |
Der Konzern ist Weltmarktführer der Hühnergenetik. | |
In der Produktpalette der EW Group finden sich Hühner, die man je nach | |
ihrer Veranlagung und Beschaffenheit eingeteilt hat. In Legehennen und | |
Masthähnchen, weibliche und männliche Tiere, die auf Gewichtszunahme | |
gezüchtet sind. Tiere aus dem Labor, Hybridhühner, gezüchtet aus | |
unterschiedlichen Hühnerrassen. Das Lohmann LB extra, dessen Eierschale als | |
„attraktiv braun“ beschrieben wird und in 85 Wochen bis zu 377 Eier legt. | |
Ein Huhn, besonders geeignet für die ökologische Landwirtschaft. Das Ross | |
708: „Für einen außergewöhnlichen Fleischertrag“. Perfekt für die | |
konventionelle Landwirtschaft. Perfekt für den wachsenden Hunger auf Huhn. | |
## Der Bruder von Wiesenhof | |
Der Kopf hinter diesen Hochleistungstieren heißt Erich Wesjohann. Er ist | |
der Bruder von Paul-Heinz Wesjohann, besser bekannt als Erbe und Eigner | |
der Geflügelmarke Wiesenhof, des größten Herstellers von Geflügelfleisch in | |
Deutschland. Huhn liegt in der Familie. | |
Das Firmenzentrum der EW-Group liegt in Niedersachsen, nicht weit weg von | |
Teepkers Hof, in der Kleinstadt Visbek. Hier, in einem weißen Schlösschen, | |
das als Firmenzentrale dient, regiert Erich Wesjohann über das Erbgut des | |
Huhns. Die Superhühner von Wesjohann werden in über 160 Länder verschifft. | |
Nach Kasachstan, Argentinien und Frankreich. Der Erfolg dieser Expansion | |
liegt im Huhn selbst, in seiner Genetik. | |
Durch Züchtung ist es der EW Group gelungen, das Huhn von einem zarten | |
Vögelchen in einen Brocken aus Fleisch zu verwandeln. In eine Maschine, | |
deren Körper rund drei Kilo mehr auf die Waage bringt als noch 1957 und | |
fast doppelt so viele Eier legt wie in den 1960ern, rund 300 Stück pro | |
Jahr. | |
Diese Leistungen gehen aber bereits nach einer Hühnergeneration verloren, | |
die Geninformation wird nicht weitervererbt. Wer Nachschub für seine Ställe | |
braucht, muss immer wieder neu nachbestellen. Ein System, das an die | |
Monopolisierung von Saatgut durch das Unternehmen Monsanto erinnert. Auch | |
die EW Group bietet Zubehör an: Impfungen und perfekt abgestimmtes Futter. | |
Das Ergebnis ist eine Monopolisierung des Huhns, die nicht nur zu | |
Verschiebungen in der Landwirtschaft geführt hat, sondern auch im Huhn | |
selbst. | |
## Kein anderes Nutztier hat der Mensch so stark verändert | |
„Der moderne Broiler ist ein markanter neuer Morphotyp mit einer relativ | |
breiten Körperform, einem niedrigen Schwerpunkt. Wenn man sie bis zur Reife | |
leben lässt, ist es unwahrscheinlich, dass Masthähnchen überleben.“ | |
Dieser Auszug stammt aus einer Studie der University of Leicester von | |
Dezember 2018. Titel: „Das Masthähnchen als Signal für eine vom Menschen | |
geschaffene Biosphäre.“ | |
Forscher untersuchten, wie sehr der Mensch seine Umwelt und das Huhn | |
geprägt hat. Ihr Fazit: Durch die konstante Züchtung hat sich das Huhn von | |
sich selbst entfernt. Organe wie Herz und Lunge sind kleiner, die Muskeln | |
schwächer, die Genetik ist um 50 Prozent ärmer als noch vor 60 Jahren. | |
Kurz: Kein anderes Nutztier ist vom Menschen so stark verändert worden wie | |
das Huhn. | |
Das Huhn ist tot, es lebe das Superhuhn. | |
## Vom Suppenhuhn zum Superhuhn | |
Ein Wandel, ein Systemwechsel, der seinen Anfang in den späten 1950er | |
Jahren nimmt. | |
Deutschland ist damals der größte Eier- und Geflügelimporteur der Welt. Die | |
USA, die Niederlande und Dänemark sind die Hauptlieferanten. | |
Der Hunger aufs Huhn wächst stetig. Die deutschen Landwirte produzieren nur | |
rund 60 Prozent des Bedarfs. Hühner dienen vor allem dem bäuerlichen | |
Nebenerwerb. Das „Eiergeld“ bessert die Kassen der Bäuerinnen auf. | |
1959 ändert sich das. Damals kauft ein kleiner Geflügelbetrieb in Cuxhaven | |
ein paar Lizenzen für neuartige Hybridhühner. Ein neue Form des Huhns, | |
geschaffen von einem amerikanischen Genetiker, der das Prinzip der | |
leistungssteigernden Hybridzüchtung von Mais auf Hühner überträgt. Mit | |
Erfolg. | |
1965 gründet die Cuxhavener Firma Lohmann eine Brüterei für Masthähnchen, | |
gemeinsam mit dem Eierhändler Paul Wesjohann, dem Vater der Brüder | |
Wesjohann, und arbeitet am Aufbau der Marke Wiesenhof. Es ist der | |
Startschuss für die deutsche Hühnerindustrie. Und für ein System, das auf | |
Profit und Masse basiert. | |
## 7,5 Millionen Euro Umsatz mit Masthähnchen | |
Vor zehn Jahren stieg dann auch Stefan Teepker, der Hühnermäster aus | |
Niedersachsen, ins Hähnchengeschäft ein. Eine Entscheidung aus | |
wirtschaftlichen Gründen. „Hähnchenfleisch ist ein Wachstumsmarkt“, sagt | |
Teepker. Er ist da ganz klar. Ihm geht es ums Geschäft, und das ist | |
profitabel. 7,5 Millionen Euro Umsatz macht Teepker mit seinen Masthähnchen | |
pro Jahr. | |
Er sitzt in seinem Büro auf einem schwarzen Stuhl und tippt etwas in den | |
Computer. Durch die Fenster schaut er auf die grünen Wellblechhallen, die | |
Geflügelstadt. Im Nebenraum befinden sich eine Umkleide und die | |
Gemeinschaftsküche der Angestellten. An den weißen Raufasertapeten hängen | |
Bilder von Teepkers blonden Kindern, umringt von kleinen gelben Küken. | |
Die Eintagsküken bekommt Teepker von einer nahe gelegenen Brüterei, für 35 | |
Cent das Stück. Nach der Mästung verkauft er die Tiere an den Schlachter. | |
Für ein Kilo Lebendgewicht bekommt er 92 Cent. | |
Den Zeitpunkt der Schlachtung bestimmt die Nachfrage der Kunden. Plant ein | |
Discounter eine Grillaktion mit günstigem Hühnerfilet, dann kommen die | |
Lastwagen der Schlachterei schon an Tag 35 und nicht erst an Tag 40, zum | |
üblichen Zeitpunkt der Schlachtung. Teepker muss dann liefern. | |
## Arbeitsteilung, ausgerichtet auf Effizienz | |
Mit dem Superhuhn hat sich auch ein neues System etabliert: Arbeitsteilung, | |
ausgerichtet auf Effizienz. Die Konzerne liefern die Genetik, die Vermehrer | |
sorgen für die Produktion leistungsfähiger Elterntiere, Brütereien | |
übernehmen das Ausbrüten, die Landwirte Mast und Eierproduktion, die | |
Schlachtereien den Rest. Discounter und Fastfoodketten liefern den | |
Konsumenten die fertigen Produkte. | |
Eine Tabelle taucht auf Teepkers Computerbildschirm auf, darin die Zahlen | |
für jeden der acht Ställe. Aufgelistet sind Futtermengen, auf die | |
Grammzahl genau, Stalltemperatur und Grad der Belüftung. | |
Stall 1: 24 Grad. 133 Gramm Futter pro Tier. Durchschnittsgewicht der | |
Tiere: 1.399 Gramm. Fütterung und Lichtanlage lassen sich per App steuern, | |
von Teepkers Telefon aus. Mit dem Wandel des Huhns hat sich auch die Arbeit | |
der Landwirte verändert. Vom Handwerk zur computergesteuerten Tätigkeit im | |
Hightechbereich. | |
Weichen die Zahlen von der Norm ab, weiß Teepker, „muss man mal | |
nachschauen“. Zweimal am Tag geht Stefan Teepker oder einer seiner | |
Angestellten durch die Ställe. Schaut nach kranken oder auffälligen Tieren | |
und kontrolliert die automatische Futterzufuhr. Fünf Leute betreuen hier | |
440.000 Hühner. Ein Mensch kommt auf 88.000 Tiere. | |
## Wer viel hat, bekommt viel Geld | |
Masse lohnt sich. Nicht nur bei Hühnern, auch bei Gerste oder Mais. Das | |
liegt vor allem an der Agrarpolitik der EU. In Europa werden Landwirte mit | |
Subventionen gefördert, die sich vor allem nach der bewirtschafteten Fläche | |
berechnen. | |
Wer viel hat, bekommt viel Geld. Geld, das für den Ankauf wieder neuer | |
Flächen benutzt werden kann. So werden die großen Höfe immer größer, und | |
kleine Betriebe verschwinden. | |
Seit Mitte der 1990er Jahre ist die Zahl der Betriebe in Deutschland um die | |
Hälfte geschrumpft. Die Zahl der Arbeitskräfte sank um ein Drittel. Das | |
zeigen Daten im aktuellen Agrar-Atlas der Heinrich-Böll-Stiftung. | |
Wer aus diesem System ausbrechen möchte, der muss kämpfen. Oder weichen. | |
## Eine alte Rasse aus Frankreich | |
Frank Maczkowski steht in einem hellen Hühnerstall aus Holz und schaut auf | |
eine Herde aus wogenden weißen Hühnern. Er sieht zufrieden aus. „Die Tiere | |
entwickeln sich gut“, sagt er. | |
Maczkowski ist Stallmeister des Hofs Auguste, eines alten Gehöfts westlich | |
von Cottbus. | |
Er trägt eine grüne Latzhose über einem grünen Shirt. Sein Gesicht | |
tiefbraun, die Augen hellblau, auf der Oberlippe hockt ein kleiner | |
Schnurrbart. | |
Es ist Mitte Juni. Draußen im Gebüsch zirpen die Grillen. Auf der | |
verwitterten Holzscheune nistet ein Storch. An einem der Tore hat jemand | |
mit weißer Kreide die Ankunft der Schwalben notiert. Maczkowski und der Hof | |
Auguste sind das, was Städter sich vorstellen, wenn sie „Bio“ hören. Ein | |
Idyll. | |
1.000 Hühner leben in Maczkowskis Stall, der Boden ist mit Stroh | |
eingestreut, ein kleiner Aufbau aus Eisen dient den Hühnern als Sitzstange. | |
Es riecht nach Tier, nach Land. Die Hühner, die hier scharren und nach | |
Körnern picken, sind Bressehühner. Große, kräftige Tiere mit feuerrotem | |
Kamm. Eine alte Rasse, ursprünglich aus Frankreich, es sind sogenannte | |
Zweinutzungshühner. | |
## Das Gegenteil vom Superhuhn | |
Das Zweinutzungshuhn ist das Gegenmodell zum Superhuhn. Es ist quasi ein | |
Ursprungshuhn. Es legt Eier und kann gleichermaßen gemästet werden. | |
Seit vier Jahren leben die Tiere auf dem Hof Auguste. Sie sind Teil einer | |
Gegenbewegung, der sich vor allem Kleinbauern angeschlossen haben, in | |
regionalen Initiativen. Es ist der Versuch, das System Superhuhn, das | |
System aus Wachstum und Effizienz, zu unterbrechen. Der Versuch, 60 Jahre | |
Landwirtschaft wieder rückgängig zu machen. | |
Unruhe kommt auf, zwei Hähne gehen aufeinander los. „Die sind jetzt in | |
einem Alter, wo es Reibereien gibt“, sagt Maczkowski. Die Tiere sind 70 | |
Tage alt, mit 90 Tagen werden sie rund 1,8 Kilo wiegen. Mager im Vergleich | |
zum Superhuhn. „Ist okay“, sagt Maczkowski. „Aber nur mit dieser Rasse ka… | |
kein Bauer überleben.“ | |
Wer mehr frisst und langsamer wächst, der kostet mehr. Dazu kommen höhere | |
Ausgaben für Biofutter und große Anlagen. Kosten, die der Hof allein nicht | |
tragen kann. Ein großer Biovertrieb sichert die Abnahme und übernimmt die | |
Logistik. Die Eier und die Hähnchen landen in einem Biosupermarkt in | |
Berlin. „Dafür sind wir dankbar“, sagt Maczkowski. Er erzählt von Höfen, | |
die aufgegeben haben, darunter viele Familienbetriebe. „Da ist viel | |
Herzblut bei, aber seine Schulden kann man damit nicht bezahlen.“ | |
## 24 Euro versus 3 Euro | |
Der Hof Auguste ist ein Hof der Lebenshilfe. Ein Ort, an dem auch psychisch | |
kranke Menschen leben und arbeiten. Die Mehrkosten für die Hühner tragen | |
sich vor allem durch das soziale Projekt. | |
Ein Auguste-Huhn kostet rund 24 Euro an der Fleischtheke. Ein Hybridhuhn | |
etwa 3 Euro. Öffentliche Förderung für das Projekt Zweinutzungshuhn gibt es | |
wenig, die Lobby ist klein. „Wenn Kunden und Politik nicht umdenken, bleibt | |
das hier eine Nische“, sagt Maczkowski. | |
Zwei Drittel der Deutschen wünschen sich strengere Vorschriften für Tiere | |
in der Massenhaltung, so schreibt der BUND auf seiner Website. Der | |
Marktanteil von Bioprodukten liegt bei 5 Prozent. Der von Ökogeflügel bei | |
etwa 1 Prozent. | |
Nicht nur das Huhn hat sich von sich selbst entfremdet. Während das Tier | |
hinter grünem Wellblech verschwand und zur Maschine wurde, wurde der Mensch | |
zum Konsumenten, gewöhnt an ständige Verfügbarkeit und günstige Preise. | |
Tier und Mensch sind einander fremd geworden. „Die Leute haben keine | |
Ahnung, woher ihr Fleisch kommt“, sagt Stefan Teepker. Er wirkt frustriert. | |
„Wenn ein Huhn in der Kantine 2,50 Euro kostet, woher soll es dann kommen?“ | |
## „Können wir mal schauen?“ | |
In grünen Gummistiefel steht Teepker in Stall Nummer 3. Er ist leer. „Wir | |
haben gerade ausgestallt“, sagt Teepker. Er meint: Die Tiere wurden | |
geschlachtet. Dunkelbrauner Torf bedeckt den Hallenboden, darauf verteilt | |
liegen riesige Haufen aus gelbem Getreide. Es riecht säuerlich und nach | |
Erde. „Morgen kommen die Küken“, sagt Teepker. 27.000 Stück. 27.000 neue | |
Grillhähnchen. | |
Vor zehn Jahren, als Teepker seinen Stall bauen wollte, protestierten | |
Bewohner des angrenzenden Dorfs. „Die hatten Angst vor Dreck und Gestank“, | |
sagt Teepker. Irgendwann standen die neuen Nachbarn vor dem Stall. „Könnten | |
wir mal schauen?“ Ein paar Wochen später ging Teepkers Frau mit ein paar | |
Küken in den örtlichen Kindergarten. Es ist der Versuch, schon Kindern zu | |
zeigen: Hinter jedem Stück Fleisch steckt ein Tier. | |
An einem seiner Ställe steht eine kleine Hütte aus Holz, ein großes Fenster | |
öffnet den Blick in den Stall. Die Tür ist immer offen. Tag und Nacht, 365 | |
Tage im Jahr. In einem kleinen Regal liegen Malbücher mit Hühnermotiven | |
neben Broschüren über die moderne Hühnermast. Teepker hat einen Automaten | |
aufstellen lassen, bestückt mit Getränken, Eiern und | |
Geflügelfleischprodukten, die ein Nachbarbetrieb liefert. Manchmal kommen | |
die Kids vom Dorf, um sich eine Cola zu ziehen. | |
„Wir wollen den Leuten zeigen, wie produziert wird“, sagt Teepker. Auf | |
Facebook hat er eine eigene Seite für den Hof angelegt, mit Bildern. | |
Ferkel, die geboren, Rüben, die geerntet, und Hühnerställe, die mit | |
riesigen Maschinen desinfiziert werden. | |
Für die Hühnerbranche ist so viel Offenheit ungewöhnlich. Die Anfrage an | |
die EW Group mit der Bitte, die Ställe anschauen zu dürfen, blieb | |
unbeantwortet. | |
## Kranke Tiere bringen keinen Verdienst | |
Stefan Teepker will es anders machen. Sagt, „früher lief vieles schief, da | |
haben wir viel aufzuholen.“ Er meint vor allem die Kommunikation mit den | |
Verbrauchern. | |
Es störe ihn nicht, Teil eines Systems zu sein, das auf Wirtschaftlichkeit | |
ausgelegt ist, sagt Teepker. Effizienz ist gut fürs Geschäft. Was ihn | |
stört, ist die Ignoranz von Politik und Konsumenten. „Die kritisieren das | |
System, aber mehr Geld für anderes wollen sie nicht ausgeben.“ | |
Er erzählt von billigen Importen aus Osteuropa, die Tierwohlauflagen | |
unterlaufen und die Preise drücken. Von seinen Versuchen, in dem | |
bestehenden System alles richtig zu machen, damit es seinen Tieren | |
möglichst gut geht. Kranke Tiere kann er sich nicht leisten. „Die bringen | |
keinen Verdienst.“ | |
In Stall 4 wird es hell, das weiße Chaos bricht aus. Teepker greift in die | |
Menge. Das Huhn gackert leise unter Teepker festem Griff. Dann wird es | |
still. „Das, was man hier sieht“, sagt Teepker und befühlt mit zarten | |
Fingern die bebende Brust des Hähnchens, „ist das, was in Deutschland | |
gegessen wird.“ | |
7 Aug 2019 | |
## AUTOREN | |
Gesa Steeger | |
## TAGS | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Landwirtschaft | |
Massentierhaltung | |
Niedersachsen | |
konventionelle Tierhaltung | |
Hühner | |
Tierhaltung | |
Schwerpunkt Bio-Landwirtschaft | |
Massentierhaltung | |
Geflügel | |
Küken | |
Tierschutzbund | |
Nutztiere | |
Grüne Berlin | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Kapitalismus | |
Schwerpunkt Landtagswahlen | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kampagne „Fleischskandal bei Lidl“: Tod im Kot | |
Tierschützer*innen zeigen Missstände in einer Hühnermast im Emsland an. | |
Sie wollen Lidl dazu bringen, sich der Masthuhn-Initiative anzuschließen. | |
100 Jahre altes Huhn: Der Zeit entzogen | |
Unsere Autorin hat schon als Kind von einem vor 100 Jahren eingemachten | |
Huhn in ihrer Familie gehört. Sie beschließt, der Geschichte nachzugehen. | |
Küken in der Geflügelbranche: Klöckner will Kükentöten verbieten | |
Die Landwirtschaftsministerin will das Töten von Küken flächendeckend mit | |
einem Gesetz verbieten. Doch die Praxis könnte im Ausland weitergehen. | |
Anzeige gegen Mastbetrieb in NRW: Tierquälerei in der Entenmast | |
Peta veröffentlicht Aufnahmen von Grausamkeiten und erstattet Strafanzeige. | |
Der Tierschutzbund kritisiert die nicht artgerechte Haltung der Vögel. | |
Nutztierforschung in Dummerstorf: Mangelhafte Bewertung | |
Um das Leibniz-Institut zur Biologie von Nutztieren in | |
Mecklenburg-Vorpommern ist ein Konflikt entbrannt. Die Finanzierung soll | |
eingestellt werden. | |
Veggie-Kommentar: Die große Angst vorm Fleischverbot | |
Die Grünen fürchten Verbote, die SPD verschläft sie einfach. Deshalb werden | |
Berlins Mensen und städtische Kantinen wohl weiter Fleisch anbieten. | |
Fleischkonsum und Klimawandel: 12 Prozentpunkte mehr fürs Klima | |
Agrarpolitiker von CDU, SPD und Grünen fordern eine höhere Mehrwertsteuer | |
auf Fleisch – auch aus ökologischen Gründen. Kann das klappen? | |
Kollektive Arbeit: Sozialismus ohne Klassenkampf | |
Auf dem Wohnungsmarkt, in der Landwirtschaft, im Netz: überall Kollektive. | |
Wie daran gearbeitet wird, den Kapitalismus zu überwinden. | |
Landwirt in der Uckermark: Hofladen ist die Rettung | |
Stephan Zoch ist Landwirt in einem 30-Seelen-Dorf in der Uckermark. Er | |
findet, die Gesellschaft hat sich von der Landwirtschaft entfremdet. | |
Umstellung auf Öko-Landwirtschaft: Biobauer wider Willen | |
Frank Hartmann wollte nie Biobauer werden. Weil er angefeindet wurde, | |
stellt er nun aber um. Gegen seine Überzeugung. Kann das klappen? |