Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- 100 Jahre altes Huhn: Der Zeit entzogen
> Unsere Autorin hat schon als Kind von einem vor 100 Jahren eingemachten
> Huhn in ihrer Familie gehört. Sie beschließt, der Geschichte nachzugehen.
Bild: Nach dieser Recherche hat unsere Autorin beste Chancen, selbst Hüterin d…
Wann ich das erste Mal vom hundertjährigen Huhn meiner Familie gehört habe,
weiß ich nicht mehr. Meine Urgroßeltern hatten – wie häufiger üblich zu
Beginn des 20. Jahrhunderts – zehn Kinder. Ich habe mich immer schwergetan,
deren Kinder und Kindeskinder auseinanderzuhalten. Damit ich mir die
Verwandten für Familienfeiern merken konnte, erzählte mein Vater möglichst
anschauliche Anekdoten über sie. „Christiane ist die Tochter von Tante
Trudi und die Hüterin des hundertjährigen Huhns.“
Ein Huhn, das hundert Jahre alt ist?
Die Legende geht so: Meine Urgroßmutter Friederike hatte vor über hundert
Jahren ein Huhn eingekocht, das seither von Generation zu Generation
weitergegeben wurde. Weitere Einzelheiten kannte mein Vater nicht.
Vielleicht war das nur wieder so eine Familienerzählung, die sich
irgendwann von realen Begebenheiten entfernt hat?
Seit Corona unser Leben bestimmt, machen sich auch Menschen über
Vorratshaltung Gedanken, die Konserven bislang altmodisch fanden. Meine
Freund*innen posten Eingemachtes auf Instagram und fermentieren sich durch
die Ernten ihrer Stadtrandäcker. Zeit, herauszufinden, was dran ist am ewig
haltbaren Huhn.
Ich besorge mir Christianes Nummer und spreche auf den Anrufbeantworter.
„Hallo, hier ist Gisa, die Tochter von Enno.“ (Auf unseren Familienfesten
versteht man, woher das System der alten skandinavischen Nachnamen stammt.)
„Ich habe gehört, dass du die Hüterin des hundertjährigen Huhns bist, und
wollte fragen, ob ich es mir mal ansehen kann.“
Ich mache mich auf den Weg von Berlin nach Falkenberg/Elster im südlichen
Brandenburg. Alleebäume, die sich zu beiden Seiten der Straße neigen. Die
Gegend gibt keine Hinweise darauf, welches Jahr oder Jahrzehnt wir haben.
Eine ruhige Straße, eine unaufgeregte Doppelhaushälfte aus den 30er Jahren.
## Für schlechte Zeiten
In Christianes Küche, die sich wenig verändert hat, seit ich in den 90er
Jahren das erste Mal da war, versuchen wir, die Geschichte vom Huhn zu
rekonstruieren. Die Quintessenz der verschiedenen Versionen: Zu einer
Familienfeier 1914 oder 1915 sollte es Fleisch geben, aber Fleisch war rar
und teuer. Der Krieg hatte gerade begonnen. Meine Urgroßeltern entschieden
sich, den Hahn zu schlachten, obwohl man in der Familie nicht gerne Huhn
aß. Besser Huhn als nichts. Als sie kurzfristig doch noch anderes Fleisch
auftaten, wanderte der tote Hahn ins Einmachglas. Für schlechte Zeiten.
Es kamen Zeiten, die wirklich nicht gut waren, aber sie waren offenbar
nicht schlecht genug.
Der Erste Weltkrieg dauerte an – und das Huhn wurde nicht gegessen. Es kam
der Zweite Weltkrieg – und das Huhn wurde nicht gegessen. „Es gibt in der
Familie den Spruch: Wir essen kein Geflügel“, sagt Christiane.
Ich muss an meinen Onkel denken, Besitzer eines Geflügelmastbetriebs, bei
dem ich einmal 60.000 Hähnchen eingestallt habe. Und an meinen Bruder, der
gerade einen Stall für seinen Hahn Olivia Jones und vier gefiederte
Hühnerdamen gebaut hat. Auch mein Vater will von der Hühnerabneigung der
Holzhausens noch nie etwas gehört haben. Sie scheint sich nicht auf allen
Zweigen des Stammbaums durchgesetzt zu haben.
Und wenn das Huhn keiner essen wollte, warum ist es dann noch da? Während
der Kriege warf man nichts weg. „Nach dem [1][Zweiten Weltkrieg] war der
Punkt erreicht, wo man es nicht mehr gegessen hätte“, sagt Christiane. Aber
da sei es schon so alt gewesen, da habe man es nicht mehr wegwerfen wollen.
„Es wurde dann in meiner Kindheit zum Spiel, das alte Huhn anzuschauen.“
Christiane ist 1963 geboren. In Aue, in Beyern, in Falkenberg – immer stand
das Huhn im Keller der Familie. Und in der DDR warf man auch nichts weg.
„Wir hatten ja nichts“, sagt Christiane. Es klingt mehr nach Zitat als nach
eigener Erinnerung.
Christiane sitzt am Küchentisch und blättert in einem Büchlein, kunstvoll
verziert, mit Seiten für jeden Tag im Jahr. „Christliches Vergissmeinnicht“
steht drauf, alte Schrift, goldene Buchstaben. Wann und zu welchem Anlass
wurde das Huhn denn nun wirklich eingekocht – 1914 oder 1915? Zur Taufe
oder Konfirmation? Wie bei den Evangelien unterscheiden sich auch bei der
Geschichte des Huhns die Versionen leicht. Christiane forscht akribisch
nach dem Datum, im dritten Vergissmeinnicht wird sie fündig. Das muss es
sein, im August 1915! Die Taufe von Friedrich Wilhelm Franz Hindenburg (das
war ja noch en vogue) Holzhausen, ein Bruder meines Opas, geboren: im
August 1915. Früher wurde schnell getauft. Aus Vorsicht. Er fiel im Zweiten
Weltkrieg.
Ja, aber wo ist denn nun das Huhn und wie sieht es aus? Ich hatte mir immer
ein Einmachglas mit einer grau-rosa-gelangweilten Frikassee-Masse
ausgemalt. Nichts, was man noch hätte essen wollen. Wir gehen in den
Keller. Erwartet mich nun ein Epiphania-Moment oder etwas sehr Triviales?
Es ist ein Keller, wie ich ihn so ähnlich aus meiner Kindheit kenne: Ein
paar Treppenstufen hinunter geht es in die Waschküche; linker Hand, ein
paar Stufen hoch, ein niedriger Vorratsraum voll mit Regalen, in denen
Konservendosen und Gläser stehen. Es ist angenehm kühl.
Christiane stellt einen Stapel leere Tupperdosen beiseite und holt
vorsichtig das Einmachglas dahinter hervor. „Das Huhn stand immer hinten im
Regal.“ In unserem Telefonat hatte sie bereits erwähnt, dass sie schon
öfter Angst hatte, dass es kaputtgeht.
Das Wort Prepping ist hier weiterhin, was es ist: ein Fremdwort.
Vorratshaltung hat in unserer Familie nichts mit der politischen Haltung zu
tun. Ernstfall bedeutet, dass auf einer Party das Buffet leer wird.
Christiane trägt das Glas vor dem Körper mit beiden Händen, behutsam stellt
sie es auf dem Tisch ab. Sie macht das wie eine Zeremonienmeisterin. Mit
einem ernsthaft-schelmischen Blick schaut sie über die randlosen
Brillengläser. Ein Blick, der mich an Angela Merkel privat erinnert. Ich
habe tatsächlich das Gefühl, einem quasi-religiösen Ereignis beizuwohnen.
Das heilige Huhn – Ziel einer Pilgerreise. Das Licht, das durchs Fenster
fällt, lässt die Masse am Boden des Glases bernsteinfarben leuchten.
Der kleine Hahn sieht gar nicht so alt aus. Farbe rosig blass, die
Hähnchenschenkel ragen in die Höhe, sogar die Noppen auf der Haut, wo die
Federkiele saßen, sind noch erkennbar. Im unteren Teil des Glases hat sich
die gallertartige Masse abgesetzt. Ich muss an die Forschungssammlung des
Naturkundemuseums in Berlin denken. „Das Huhn ist wie Lenin, mumifiziert“,
sagt Christiane. Man merkt, dass sie diesen Scherz nicht zum ersten Mal
macht. Bei meiner Verwandtschaft kommt er sicher immer gut an, auch wenn
die Techniken der Haltbarmachung bei Broiler und Bolschewist
selbstverständlich leicht variierten.
Das Glas ist von der Firma [2][Weck], die das Einmachen so geprägt hat,
dass man heute auch von Einwecken spricht. Es hat eine Patina, die es als
Requisite für jeden Kriegsfilm qualifiziert. Die Firma J. Weck und Co.
feiert dieses Jahr ihr 120-jähriges Jubiläum. Bis zum Ende des Ersten
Weltkriegs wurden die Gläser noch mundgeblasen, so also auch dieses.
Ist es vielleicht das älteste eingekochte Huhn in Deutschland – oder sogar
weltweit? Jetzt geht es ans Eingemachte: Ich rufe den Archivar der Firma
Weck an, Rüdiger Mengel. Ob sie so etwas „Gewöhnliches“ wie ein Huhn aus
der Zeit noch hätten, ist sich der Archivar nicht sicher, älteres Fleisch
haben sie. Ein Rebhuhn von 1911 ist noch da. Und: „Es gibt ein historisches
Glas, Löwenfleisch von 1913 eingekocht.“ Als in Leipzig 1913 sechs Löwen
aus dem Zoo ausbrachen, wurden sie gejagt und zum Teil – eingekocht. „Wir
hatten noch [3][Kolonien in Afrika] und probierten daher unterschiedliche
Dinge aus. Elefantenrüssel in Aspik, das war schon bekannt, oder Termiten
einzukochen. Aber mit Löwenfleisch hatte man keine Erfahrung. Aus diesen
Experimenten ist ein Einkochglas übrig geblieben“, erklärt mir Mengel.
Löwen hin oder her – es gibt kein älteres eingewecktes Haushuhn im Archiv.
Dafür aber eine alte Anleitung zur „Verwertung von zahmem Geflügel“ im
hauseigenen Einkoch-Ratgeber.
Meine Familie besitzt vielleicht wirklich das älteste Huhn Deutschlands.
Irgendjemand hat vermutlich mal versucht, das Glas aufzumachen, die Laschen
des Gummis sind abgerissen. „Die organische Gummidichtung wird porös und
bröckelt ab, aber da wo das Vakuum ist, bleibt der Gummi intakt“, erklärt
Mengel. Der Deckel sitzt fest. Man müsste ihn wegstemmen, um das Glas heute
zu öffnen.
Wie es wohl riechen würde? Wäre es noch genießbar? Bei einer grauen
Frikassee-Masse hätte ich mir diese Fragen nicht gestellt. Die Firma Weck
hat Experimente mit 50 Jahre alten Bohnen gemacht – bestens bekömmlich. Im
Ratgeber steht zum Aufwecken: „Man öffne das Glas, stelle es einige Minuten
an die frische Luft, nehme das Geflügelstück heraus und befreie es von der
unten sitzenden Fettschicht.“ Ob das auch nach 105 Jahren noch gilt?
## Dem Huhn huldigen
Meine Großcousine sagt, sie habe Angst, dass alles in die Luft fliegen
würde. Nein, das Huhn soll da bleiben, wo es ist.
Wann wird es hervorgeholt? „Nur wenn jemand kommt. Es ist nur ein Gag
eigentlich“, sagt Christiane. Meiner Meinung nach wurde das Stadium des
Gags längst überschritten – und auch sie weiß es: Es ist ein Kult.
Zumindest in der Familie.
Ob so Religionen entstehen? Immer wieder kommen die Menschen, um dem Huhn
zu huldigen, bis irgendwann keiner mehr so richtig weiß, warum eigentlich.
So ganz einzigartig ist die Idee nicht. Im deutschen Aberglauben und in
Redewendungen sind Hühner vielfach vertreten. Unter anderem im Voodoo-Kult
gilt das Huhn als Seelenführer bei Initiationsriten; keine Mythologie, in
der Hahn und Huhn nicht vorkommen. Thomas Mann beschreibt das Eingeweckte
im „Zauberberg“ als etwas, das der Zeit entzogen ist. „Es war hermetisch
von ihr abgesperrt, die Zeit ging daran vorüber, es hatte keine Zeit,
sondern stand außerhalb ihrer auf seinem Bord.“
„Alles andere kommt weg, aber das Huhn hat Bestandsschutz.“ Wieder dieser
ernsthaft-verschmitzte Ton von Christiane. Ich darf es halten – und spüre
die Verantwortung. Das holzhausensche Huhn. Die Angst, dass es kaputtgeht,
schwappt auf mich über. Ein Sakrileg! Je älter es wird, desto heiliger wird
es.
Vorsichtig stellt Christiane das Glas wieder an seinen Platz ganz hinten im
Regal und schiebt die Tupperdosen davor. Wird sie das Huhn ihrer Tochter
übergeben? „Die interessiert sich eher nicht.“ Ich glaube, mit dieser
Geschichte habe ich mich ganz oben in die Liste der Anwärter*innen für das
Amt der Hüterin des Huhns befördert.
Meine neue Zeitrechnung jetzt: BC und AC. Before Chicken und After Chicken.
13 Sep 2020
## LINKS
[1] /Der-Hausbesuch/!5703369
[2] /Berliner-Szenen/!5462324
[3] /Historiker-ueber-Bismarck-Verehrung/!5709404
## AUTOREN
Gisa Holzhausen
## TAGS
Geflügel
Religion
Familiengeschichte
IG
Lesestück Recherche und Reportage
Trend
## ARTIKEL ZUM THEMA
Massenprodukt Huhn: Heißhunger auf Huhn
Kein Tier ist so überzüchtet wie das Huhn. Es ist fett und billig. Aber
warum wurde ausgerechnet das Huhn zum Ramschartikel in der Fleischtheke?
Gedanken zum Einweck-Trend: Deine Mudda fermentiert
Es war ein Fortschritt für die Frau, nichts mehr einwecken zu müssen. Heute
muss sie wieder. Denn „Fermentieren“ ist auf einmal angesagt.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.