# taz.de -- Historiker über Bismarck-Verehrung: „Die Opfer werden ausgeblend… | |
> Der Hamburger Kolonialismusforscher Jürgen Zimmerer ist gar nicht | |
> „gegen“ Bismarck. Aber er will diesen ambivalenten Staatsmann nicht mehr | |
> feiern. | |
Bild: In seinem Element: Otto von Bismarck als Gastgeber der Berliner Afrika-Ko… | |
taz: Herr Zimmerer, Bismarck war nicht nur Wegbereiter des deutschen | |
Kolonialreichs, sondern hat auch über Frankreich gesiegt, brachte | |
Deutschland Einheit und Frieden. Gibt es nichts Positives an ihm? | |
Jürgen Zimmerer: „Positiv“ ist keine analytische Kategorie, denn die Frage | |
ist: Welche Kriterien legt man an? Natürlich gibt es den Mythos von | |
„Bismarck als Reichseiniger“. Deshalb wurde er geehrt, und deshalb | |
verteidigen ihn jetzt manche. Sie sehen im „Angriff“ auf Bismarck einen | |
„Angriff auf die Deutsche Einheit“. Das ist aber ahistorisch! Bismarck | |
benutzte die nationale Frage, um Österreich aus Deutschland zu drängen und | |
ein groß-borussisches Deutsches Reich zu schaffen. Man könnte auch die | |
Frage stellen, ob er damit nicht eine andere deutsche Einigung verhindert | |
hat, die verträglicher für das europäische Gleichgewicht gewesen wäre. | |
Hätte es Alternativen gegeben? | |
Ja. Historiker*innen haben argumentiert, dass es einen gemeinsamen Staat | |
mit Österreich hätte geben können, in dem die Macht Preußens ausbalanciert | |
worden wäre und der die Nachbarn militärisch weniger beunruhigt hätte. | |
Vielleicht hätte uns das den Ersten Weltkrieg erspart – und damit auch den | |
Zweiten. Das ist kontrafaktisch, sicherlich, aber Bismarcks Einigung als | |
alternativlos anzusehen, ist teleologisch. Kritik an Bismarck ist nicht | |
zwangsläufig Kritik an der Einheit. Legitim sind auch Fragen nach den | |
Folgen dieser Einigung für die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts. | |
Aber daran ist nicht Bismarck allein schuld. | |
Nein, und genau da liegt ein weiteres Problem mit solchen heroischen | |
[1][Personendenkmälern] wie demjenigen in Hamburg: dass sie auf einzelne | |
Männer – und für das 19. Jahrhundert kann man durchaus generisch „Männer… | |
sagen – fokussieren und ein Geschichtsbild perpetuieren, in dem „große | |
Männer“ Geschichte machen. Strukturen werden ebenso ausgeblendet wie | |
marginalisierte Gruppen. Dazu gehören alle, die nicht Staatsmänner, | |
Aristokraten oder Feldherrn waren. Und natürlich werden die Opfer | |
ausgeblendet. | |
Aber Bismarck war gegen Kolonien, und vielen gilt er als pragmatischer | |
Realpolitiker. Was war er denn nun? | |
Bismarck war vieles, darunter auch überzeugter Monarchist und Aristokrat, | |
jedenfalls kein Demokrat. Er war fanatischer Katholikenhasser, vehementer | |
Gegner der Sozialdemokratie und der Arbeiterbewegung... | |
Aber später erließ er wichtige Sozialgesetze wie die Kranken- und | |
Unfallversicherung. Wie passt das zusammen? | |
Bismarck tat aus Opportunitätsgründen auch Dinge, von denen er | |
weltanschaulich vielleicht nicht überzeugt war. Und ja, er war kein | |
Kolonialenthusiast – aus machtpolitischen Überlegungen und weil er wusste, | |
dass dies nicht den von der Kolonialbewegung erhofften Wohlstand bringen | |
würde. | |
Warum gründete er die Kolonien dann? | |
Aus Opportunismus, genährt aus einem ganzen Bündel innen- und | |
außenpolitischer Motive: etwa weil er die rasant an Bedeutung gewinnende | |
Kolonialbewegung als innenpolitischen Partner gewinnen wollte. Oder weil er | |
mit der Berliner [2][Afrika-Konferenz] von 1884/85 auf einen Ausgleich mit | |
Frankreich schielte. Diese Konferenz, auf der die Aufteilung eines ganzen | |
Kontinents formalisiert wurde, macht Bismarck jedoch zum Spiritus rector | |
der Aufteilung Afrikas. Das alles gegen seine innere Überzeugung! Aus | |
opportunistischer „Realpolitik“ heraus. | |
Aber am Völkermord an [3][Herero] und Nama von 1904 bis 1908 in | |
„Deutsch-Südwestafrika“ – heute Namibia – ist Bismarck nicht schuld. Er | |
starb 1898. | |
Das ist eine interessante Frage: ob historische Verantwortung für die | |
Folgen eigenen Tuns mit dem Ausscheiden aus dem Amt endet. Für den | |
Historiker nicht. Natürlich ist Bismarck persönlich nicht verantwortlich | |
für diesen Völkermord. Allerdings hat er durch seine Entscheidung 1884/85, | |
Deutschland zur Kolonialmacht zu machen, eine Entwicklung in Gang gesetzt, | |
die auch zu diesem Völkermord führte. So wie Bismarcks Konstitution des | |
groß-borussischen deutschen Kaiserreichs mit zur Katastrophe zweier | |
Weltkriege führte. | |
Konnte Bismarck diese Folgen vorhersehen? | |
Sicherlich nicht bis zur letzten Konsequenz, aber dass Kolonien zu | |
militärischer Gewalt führen würden, war klar. Auch darüber hinaus bleiben | |
diese Entwicklungen unter anderem Folgen seines Handelns. Bismarck war | |
nicht nur Reichseiniger, sondern auch Gründer eines Kolonialreichs, das bis | |
1919 fortbestand. Der Zustand der Kolonialisierung endete für viele | |
Betroffene erst in den 1960er-Jahren, in [4][Namibia] 1990. Das heißt: Was | |
er aus zynischen innenpolitischen Gründen ins Leben rief, entwickelte eine | |
Eigendynamik. Dafür ist er mitverantwortlich. Den „ganzen“ Bismarck sehen | |
heißt, auch dies zur Kenntnis zu nehmen. | |
Waren die Kolonien für Deutschland wirklich ein Verlustgeschäft? | |
Ja – auch deshalb, weil es überall zu massivem Widerstand und damit zu | |
kostspieligen Kriegen kam. Die Kolonien mussten fast überall mit | |
militärischer Gewalt erobert werden – eine Gewalt, die auch die Legende vom | |
langen Frieden des Deutschen Kaiserreichs Lügen straft. | |
Trotzdem schenkten ihm Hamburger Kaufleute aus Dankbarkeit dieses große | |
Denkmal. | |
Ob sie sich explizit für die Kolonien bedankten, ist unklar. Aber es ist | |
auffällig, dass das Geld vor allem von Leuten kam, die im „Überseehandel“ | |
tätig waren und sich auch für das Kolonialinstitut – aus dem die spätere | |
Universität mit hervorging – einsetzten. Der Spendenaufruf berief sich | |
damals auf Bismarcks Verdienste für „nationale Einigung und Weltgeltung“. | |
Nun ist dieses Denkmal recht eigenartig. Bismarck trägt keine Pickelhaube, | |
wirkt wie der Bremer „Roland“ oder ein „mythischer Ritter“. Wofür steh… | |
eigentlich? | |
Es ist eindeutig eine heroische Darstellung, die Bismarck als Vollender | |
dieses nationalistischen Mythos feiert. Dahinter steht die Idee, dass das | |
Deutsche Reich, so wie Bismarck es formte, die Vollendung einer | |
historischen Mission war. Dabei hätte es ja, wie gesagt, auch andere Formen | |
der Einheit geben können. Aber Bismarck ging es um nationalen Egoismus und | |
um preußische Staatsräson. Dazu sollte sich die deutsche Gesellschaft im | |
Jahr 2020 allmählich positionieren. | |
Welche Bismarck-Facetten taugen für Sie nicht zum Vorbild? | |
Nun, wenn wir sagen: Bismarck war (und ist) ein Vorbild, dann sind wir auch | |
dafür, dass wir Menschen kolonisieren, kein Frauenwahlrecht haben, | |
bürgerliche Rechte nicht zu groß werden lassen, die Arbeiterschaft | |
missachten und aus staatlichem Egoismus Krieg anfangen können. | |
Heißt das, man soll gar nicht an Bismarck erinnern? | |
Doch. Wir erinnern doch auch regelmäßig an die Verbrechen Adolf Hitlers. | |
Aber Geschichtsschreibung und Erinnerungspolitik sind zwei völlig | |
verschiedene Dinge. Selbstverständlich sollen wir Bismarck in seinen | |
Ambivalenzen würdigen. Das ist aber etwas anderes, als ein Denkmal stehen | |
zu lassen – beziehungsweise wieder aufzurichten –, das seine heroische | |
Anziehungskraft weiter entfalten kann und eine Person ausdrücklich als | |
Vorbild feiert. | |
Aber sollte man Bismarck nicht aus seiner Zeit heraus verstehen, in der | |
nicht das Unrechtsbewusstsein von heute herrschte? | |
Natürlich sollte man ihn aus der Geschichte heraus verstehen. Das heißt | |
aber nicht, dass man ihn immer noch feiern muss. Abgesehen davon waren | |
Menschen auch damals wach genug, die kritischen Seiten zu bemerken. Sonst | |
hätten sich ihm Sozialdemokraten, Katholiken und die Kolonisierten nicht | |
entgegengestellt. Wer „aus der Zeit heraus verstehen“ sagt, meint oft: | |
Bismarcks damalige national-egoistische Perspektive teilen. | |
Inwiefern ist eine solche Debatte im Globalisierungszeitalter überhaupt | |
noch zeitgemäß? | |
Die Debatte ist überfällig, manche Positionen sind aber völlig aus der Zeit | |
gefallen. Die postkoloniale Globalisierung unterscheidet sich von der | |
kolonialen Globalisierung dadurch, dass der globale Norden nicht mehr im | |
Mittelpunkt steht und sich die Zentren der Macht und der Diskurse auf | |
andere Kontinente verlagern. Dass sollten wir anerkennen, anstatt Bismarck | |
mit Argumenten zu verteidigen, die getragen sind von der Sehnsucht nach dem | |
alten Reich, in der eine weiß-männliche Gesellschaft das Sagen hat! | |
7 Sep 2020 | |
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## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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