# taz.de -- Weltumsegelung nach dem Ende der DDR: Ein Traum von einem Boot | |
> Vier Freunde aus der DDR haben kurz vor der Wende eine Idee: ein Boot | |
> bauen, um die Welt segeln. Heute sind die Männer alt. Und ihr Traum? | |
Bild: Gernot vor der Avalon, in den 1990ern, als noch alles möglich schien | |
Gernot hat einen Traum, und dieser Traum ist 20 Meter lang, aufgebockt in | |
einer Multifunktionshalle an der polnischen Küste. Drumherum: Schilf, ein | |
Fischrestaurant, ein Schäferhund, in Ketten gelegt, der Diebe abhalten | |
soll, was nicht so recht klappt. Schon wieder ist eine Eisenkiste | |
abhandengekommen. | |
Er geht vorbei an den Pappeln über den Löwenzahn, der sich durch die Lücken | |
des Asphaltwegs drückt, zu der Bauhalle, in der die Luft steht an einem | |
heißen Tag im Juni letzten Jahres. Gernot bleibt vor dem einschüchternden | |
Rumpf stehen, der grün lackiert ist, bedeckt von einer Bauplane, die wie | |
ein Schleier über ihm ruht. Eine Braut kurz vor dem Kuss. Er möchte mit ihr | |
segeln, einmal um die Welt herum. Nach Australien, ins Mittelmeer, dorthin, | |
wo nachts die Delfine im Mondlicht springen. Vielleicht auch durch Eis, wer | |
weiß schon, wo die Reise hinführt, deshalb ist der Rumpf am Bug verstärkt. | |
Wenn die Avalon eines Tages in See sticht, soll alles möglich sein. Wenn. | |
Das Deck aus Teak ist noch nicht fertig verlegt. Der Mast fehlt. Sieben | |
Tonnen Blei im Kiel, auf den bei der letzten Feier jemand außen die Preise | |
für Getränke geschrieben hat. Gernot, ein langer Mann mit grauen Locken und | |
riesigen Händen. Neben ihm steht Torsten, sein Kumpel, auch lang, früher | |
mal blond, abgewetzte Lederjacke. „Wusstest du“, sagt Gernot zu ihm, „dass | |
sich ein Paar hier zum ersten Mal liebte, unter Deck, auf unserer Feier?“ | |
Cuba Libre 3 Euro. Kaffee 1,50. Euro. Das ist wichtig für diese Geschichte. | |
Denn als alles begann, war das Geld noch aus Aluminium und nicht die | |
Hauptsache. Damals hieß das Land, in dem Gernot und Torsten lebten, noch | |
Deutsche Demokratische Republik, und eine Reise im eigenen Schiff über die | |
Weltmeere war unmöglich. | |
Die DDR ist längst vergangen. Viele im Osten können sie herunterbeten, die | |
Statistiken über Arbeitslosigkeit, kennen Biografien, die sich plötzlich | |
nicht mehr um die Frage drehten: Wer war ich? Sondern: War ich echt? Im | |
Rhythmus der Werke, die vom Westen aufgekauft und geschlossen wurden, hat | |
man die DDR abgewrackt und mit ihr die Träume, die immerhin ganze Leben | |
lang existiert hatten. | |
Doch es gibt sie auch, die andere Wende. Die, die Träume geweckt hat. Wie | |
den von Gernot und Torsten und ihren beiden Freunden Werner und Bernd, ein | |
Boot zu bauen und damit um die Welt zu segeln. Was ist daraus geworden? | |
## Gernot & Bernd | |
Vor mehr als sechs Jahrhunderten schichteten die Einwohner von Bobbin | |
Feldsteine aufeinander, bis schließlich eine Kirche stand. Auf der Insel | |
Rügen steht sie, ist mit roten Ziegeln gedeckt, die Ostsee ist von hier aus | |
zu sehen. Vor fast 30 Jahren, 1988, tauschte Gernot dort die Bodenplatten | |
aus, über die Jahrhundert um Jahrhundert gelaufen worden war. | |
Gernot ist damals 32 und Restaurator, Angestellter des Volkes | |
gewissermaßen, im Volkseigenen Betrieb Denkmalpflege in Berlin. Der | |
Pfarrer, der sich für Wehrdienstverweigerer der NVA engagiert, hat ihn um | |
Hilfe gebeten, darum, die Kirche zu retten, das macht Gernot dann viele | |
Jahre lang. Einfach so. | |
Bernd macht mit, natürlich. Die beiden haben sich im Betrieb kennengelernt. | |
Gernot ist der, der mit seinen Ideen übertreibt. Bernd reißt mit wie kein | |
anderer. Fortan erleben sie ihre Abenteuer gemeinsam. Sie wohnen in | |
Ostberlin, sind Teil der DDR-Boheme, sie haben ein gutes Leben, schon vor | |
dem Mauerfall. | |
Wie alle wollen sie zu den Feten ins Berliner Haus der jungen Talente. | |
Bernd und Gernot haben Papier, Zugang zu einem Drucker, also machen sie die | |
Eintrittskarten selbst. | |
Ohnehin: Machen. Selbst machen. | |
Jedes Jahr veranstalten sie ein Fest in Brandenburg, alle aus dem Atelier | |
helfen mit, legen zusammen. So wie beim Fest im Jahr vor der Wende, von dem | |
noch heute alle reden, im Zirkuszelt. Um sich das zu mieten, erzählen sie | |
den Artisten von ihren Plänen. Von den Punkbands, die kommen wollen, den | |
Leuten aus Berlin. Sie fragen den Bürgermeister, ob sie ein Fest feiern | |
dürfen, womöglich könnten sie ein Zelt dafür mitbringen, um ein paar | |
Bratwürste zu grillen oder so. Am Tag der Feier kommt der Zirkus – mit | |
Wagen und Mannschaft. Es ist so voll, 700 Feiernde aus Berlin und ein | |
Zirkus, dass die Leute von der Stasi sich fragen, wie ihnen das alles | |
entgangen sein konnte. | |
„Das Leben hat Spaß gemacht damals“, sagt Gernot. | |
Als die Wende naht und sie da so stehen, vor der Kirche in Bobbin, und die | |
wenigen Segelboote beobachten, die auf der Ostsee kreuzen dürfen, fragen | |
sie einander, wie es wohl wäre: um die Welt zu segeln. | |
## Die Wende | |
Gernot besitzt einen Reisepass, Bernd die Genehmigung, eine Studienreise | |
durch Europa zu machen. Drei Wochen lang, im Wartburg Tourist von Hamburg | |
nach München, Österreich, Paris, an den Atlantik. 1989 ist das, kurz vor | |
der Wende. | |
In München treffen sie Restauratoren aus dem Westen, sie freunden sich an: | |
die Ossis, die es gewohnt sind, bei anderen mit anzupacken und auch aus | |
einem Umzug noch ein Fest zu machen – und die Wessis, von denen jeder sein | |
Getränk in der Kneipe selbst bezahlt. Daran erinnert sich Gernot. Bernd an | |
die Geldscheine, die manchmal unter dem Scheibenwischer ihres Wartburgs | |
steckten. Als sie einen alten, erfahrenen Restaurator besuchen, um ihn über | |
sein Handwerk auszufragen, ist dieser verwundert. So viele Jahre in meinem | |
Beruf, antwortet er, und noch nie haben mich Jüngere um Rat gefragt. | |
Später, als die DDR nicht mehr ist, muss Gernot öfter an ihn denken. | |
Als die beiden nach Hause fahren, haben sie einen Auftrag in der Tasche, | |
für Arbeiten in München, über 400.000 Westmark, und das in einem Jahr, in | |
dem die DDR schon pleite ist. Man erlaubt ihnen, den Auftrag anzunehmen. | |
Dann fällt die Mauer, und es wird egal, was die Regierung erlaubt. Gernot | |
und Bernd steigen am 11. November, zwei Tage nach dem Mauerfall, in den Zug | |
nach München, um dort zu arbeiten. | |
Es folgen Jahre, die Gernot heute die goldenen nennt. | |
Jahre, in denen die aus dem Westen kommen, mit viel Geld, und den grauen | |
Osten bunt anmalen lassen. Bernd und Gernot bleiben zusammen, sie gründen | |
ein Kollektiv, kaufen ein Atelier, Eigentum, Freiheit. Sie restaurieren ein | |
Kloster in Rostock, das Luisium in Dessau, das heute Weltkulturerbe ist, | |
das Schloss Meseberg, in dem die Bundeskanzlerin ihre Regierung und | |
Staatsgäste empfängt. Es ist, als wäre für jedes bedeutende ostdeutsche | |
Bauwerk ihr Können gefragt. Sie fühlen sich als Künstler geachtet, nicht | |
als Handwerker gemietet wie in späteren Jahren. Bernd gründet eine | |
Wohngenossenschaft in Berlin-Prenzlauer Berg, um die Altbauten dort zu | |
retten, beide zusammen einen Biohof auf Rügen. Sie chartern Schiffe und | |
lernen auf dem Weg nach Norwegen, vor Sizilien und Afrika segeln. Und immer | |
wieder feiern sie große Feste. Die Idee, ein Boot für die Weltumrundung zu | |
bauen, erscheint ihnen nicht größenwahnsinnig. Nicht einmal gewagt. Sie ist | |
in diesen Jahren einfach nur folgerichtig. | |
## Avalon I | |
Heute weiß niemand mehr, ob es Gernot war, der gleich wieder übertrieb und | |
vorschlug, ein Boot zu bauen, oder ob Bernd alle mitriss. Jedenfalls | |
beschlossen sie 1994, das zu können, das Bauen, nicht das Segeln, und | |
steckten andere an. | |
Schön soll das Boot sein, nicht so ein moderner Joghurtbecher aus Plastik. | |
Ein Gaffelschoner, zwei Masten, fünf Kajüten und genug Platz für die | |
Freunde und die Freundinnen und Abende an Deck, mit Essen und Wein und | |
Geschichten. So etwas zu kaufen würde heute Millionen kosten, damals | |
kostete es etwas weniger und trotzdem viel. Anfangs reist Bernd bis nach | |
England, sucht dort nach alten Booten, aber die, die man ihm anbietet, sind | |
in einem schlechten Zustand. Oder zu teuer. Lieber doch selber bauen. | |
Da sind also Bernd und Gernot, die Restauratoren und besten Freunde. | |
Werner, Gernots Bruder, ein bekannter DDR-Fotograf, steigt ein. | |
Torsten, ein Steinmetz, kommt Jahre später dazu. | |
So etwas wie einen Businessplan haben sie damals nicht, aber die Idee, nur | |
für das Nötigste Fachleute zu bezahlen. Die Crew findet einen | |
Bootsarchitekten in Bremen, der ihnen die Avalon entwirft. In Polen lernen | |
sie einen Bootsbauer kennen, der das nötige Handwerk beherrscht. Weil er | |
aber keinen Platz hat, um so ein großes Schiff zu bauen, pachten die Männer | |
ein Grundstück im Küstenort Stepnica, auf dem der Bootsbauer sich eine | |
kleine Werft errichten kann. Sie überreden einen Bekannten in Brandenburg, | |
ihnen eine Produktionshalle zu borgen, 600 Quadratmeter groß, die sie | |
abbauen, nach Polen schaffen, dort wieder aufbauen. Finden sie bei einem | |
ihrer Aufträge altes Blei, schaffen sie es Stück für Stück nach Polen, | |
verwenden es für den Kiel. Ganze Sommer verbringen die Freunde dort, sie | |
bekommen Säuglinge, die zu Kindern heranwachsen, und weil sie immer länger | |
in Polen bleiben, bauen sie ein Haus auf dem Grundstück, in dem alle Helfer | |
übernachten können. | |
Die Männer brauchen Kapital und erfinden eine Avalon-Aktie, einen | |
Kunstdruck für 5.000 Mark, wer einen kauft, darf später mitsegeln. Wieder | |
schaffen sie es, andere zu gewinnen, Freunde, eine Ärztin, Torsten, der | |
noch nicht festes Mitglied der Crew ist, sechs Personen machen mit. | |
Sie finden einen Mann bei Krupp, der sich für Segler begeistert und | |
Geschichten von Ostdeutschen, sie rufen ihn an, erzählen von ihrer | |
Sehnsucht nach dem Meer, von den Freunden aus der ehemaligen DDR, die davon | |
träumen, endlich zu reisen, dass sie dafür aber Stahl bräuchten für den | |
Rumpf. Ob sich da nicht etwas machen ließe? | |
Wochen später fahren Lkws vor der Traglufthalle in Stepnica vor, 13 Tonnen | |
Stahl, einfach so, geschenkt. | |
So funktioniert das hier also, denkt Gernot, du musst nur jemanden kennen. | |
Das ist jetzt noch wichtiger als in der DDR. | |
Ein Brief, datiert auf den 17. 11. 1995. Adressiert an Eberhard Diepgen, | |
damals Regierender Bürgermeister von Berlin. Darin schreibt die Crew: „Wir | |
meinen, daß es der deutschen Hauptstadt an attraktiver maritimer | |
Repräsentation auf den Weltmeeren fehlt.“ Nicht weniger vollmundig legen | |
sie dar, was ihnen vorschwebt: nach Australien zu segeln, pünktlich zu den | |
Olympischen Sommerspielen 2000. „Wir denken, daß unser Schiff, von | |
Berlinern gebaut und eigens dafür im Jahre 1999 zu Wasser gelassen, der | |
geeignete Bote wäre, den Sportlern und Menschen aus aller Welt die Grüße | |
der Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands zu überbringen. Unsere | |
Frage an Sie, Herr Bürgermeister, hat die Stadt Berlin Interesse, uns bei | |
dieser Unternehmung zu unterstützen?“ | |
Diepgen schreibt zurück, dass sie eine Berlinflagge fürs Schiff haben | |
könnten. | |
## Avalon II | |
28 Jahre nach der Wende steht Gernot in der Werkshalle im polnischen | |
Stepnica, schiebt die Bauplane von der Avalon, die nicht mehr ist als ein | |
Gerippe im Stahlkleid. „Wir sind alle mutige Leute“, sagt Gernot, „am Mut | |
sind wir nicht gescheitert.“ Aber gescheitert? | |
Die Wahrheit ist: Er steht an diesem heißen Sommertag im Juni 2017 vor | |
seiner Avalon, neben ihm Torsten und ein Mann, den sie heute zum ersten Mal | |
treffen, weil er sie retten soll. Dieser Mann ist eine Art | |
Investmentberater. Der hofft, dass ihm die beiden Deutschen ein gutes | |
Geschäft mit dem Grundstück vorschlagen, ein Altenheim darauf zu bauen | |
vielleicht oder Windkraftanlagen. „Sind Sie Anwälte? Ärzte?“, fragt er. | |
„Haben Sie eine Visitenkarte?“ | |
„Nicht dabei“, murmelt Torsten. | |
Gernot und Torsten glauben wiederum, dass dieser Mann eine Idee hat, wie | |
sie mit dem Grundstück Geld verdienen könnten, denn Geld ist es, was ihnen | |
für die Avalon fehlt. Als der Investor erfährt, dass sie ein Boot bauen, | |
ist er nicht mehr nur Investor und Notar, sondern auch Schiffsbauer. „Kein | |
Problem“, sagt er, sie klettern in den Bauch der Avalon. Spanplatten dienen | |
als Platzhalter für die Wände der fünf Kabinen und drei Bäder, in der Mitte | |
thront der Motor, auf den sich eine Staubschicht gelegt hat. | |
„Das ist der Salon“, sagt Gernot. | |
„Messe“, korrigiert ihn der Investor. | |
Gernot befühlt eine Schweißnaht am Rumpf. | |
„Hier ist die Höhe nicht genug“, sagt der Investor und misst mit der Hand | |
den Abstand zwischen seinem Kopf und der Decke. | |
„Hier ist alles mit viel Liebe gemacht“, sagt Torsten. Aber auch: „Gernot, | |
da dringt Wasser ein.“ | |
Unter dem Kiel kein Meer, aber trotzdem eine Pfütze an Deck. | |
„Ja“, sagt Gernot. | |
Die Feste, die Nächte, in denen sie an Deck tanzten, weil sie bald | |
lossegeln könnten, liegen lange zurück, wie viele Jahre schon, mag keiner | |
der vier so recht zugeben. Lang genug jedenfalls, dass aus einem wilden | |
Traum einer wurde, von dem sich die Männer inzwischen fragen müssen: Geben | |
wir ihn auf? | |
Zwei Segler, die auch Teil der Crew waren, wollten lieber gleich segeln als | |
in ein paar Jahren, sie stiegen aus. Ein anderer geriet beruflich in | |
Schwierigkeiten und gab auf. Der polnische Bootsbauer machte sich aus dem | |
Staub, vielleicht für ein besseres Geschäft, er erklärte es nicht. | |
Bis die Männer eine Firma in Swinemünde fanden, die weiterbauen wollte, | |
verging fast ein Jahr. Die Ärztin, die eine der Avalon-Aktien gekauft | |
hatte, fragte vorsichtig, wann sie denn nun mit dem Boot reisen könnten, | |
und später dann nach ihrem Geld. Die Crew kaufte mehrere Anteile zurück. | |
„Wenn du so ein Projekt machst, dann bist du damit verheiratet“, sagt | |
Bernd. | |
„Dass so etwas nur für Millionäre ist, hat damals niemand eingesehen“, sa… | |
Torsten. | |
„Wir hatten den Anspruch, alles sollte vom Feinsten sein. Den hätten wir | |
immer noch“, sagt Werner, als er in seiner Küche sitzt. | |
## Werner | |
Es ist inzwischen Winter in einem Vorort von Berlin, das Küchenradio | |
spricht von der AfD, die hat sich in vielen Köpfen ehemaliger DDR-Bürger | |
eingenistet, vor dem Fenster beginnt der Wald. | |
Wenn Werner erzählt, geht es oft um Genuss. Den Genuss, Stunden während | |
eines ihrer Segelurlaube damit zu verbringen, Tomaten zu häuten, bevor er | |
sie kocht. Wein zu trinken. Wie er es genoss, die Delfine zu beobachten, | |
die ihn in einer mondhellen Nacht durchs Mittelmeer begleiteten und | |
silberne Streifen hinter sich herzogen. „Die Welt ist so schön“, sagt | |
Werner. Er genoss es, sich vorzustellen, wie er seinen 50. Geburtstag auf | |
der Avalon feiern würde. Jetzt ist er 68. | |
Damals, am 9. November, steht er am Brandenburger Tor, als einer der ersten | |
Männer hindurchläuft und die Arme ausbreitet. Als wären sie Flügel. Werner | |
gelingt in diesem Moment ein ikonisches Motiv, seine Karriere beginnt | |
danach zu fliegen. | |
Mit anderen Fotografen aus der früheren DDR gründet er Ostkreuz, eine | |
Agentur. Die Magazine aus dem Westen überhäufen sie mit Aufträgen, sie | |
wollen Ostdeutschland aus der Perspektive der Ostdeutschen sehen. Werner | |
gründet eine Fotoschule. Arbeitet mit seiner Frau Ute an Serien, sie | |
veröffentlichen Bildbände, stellen aus, werden berühmt. | |
Werner ist der Ältere, aber kleiner als sein Bruder Gernot, die Schultern | |
schmaler, die Hände zarter. Er trägt die Haare weiß und eine Brille mit | |
schwarzem Rahmen, seine Frau Ute auch. Das Boot, sagt er, war immer sein | |
persönlichstes Projekt. | |
„Ich fände es unendlich schade, wenn es einschlafen würde, das wäre eine | |
Niederlage“, sagt Ute. | |
„Das Schiff zu verkaufen auch“, antwortet Werner. „Und wir haben ja noch | |
unsere Kinder.“ | |
„Aber die sind vernünftiger“, sagt Ute. „Ach Wernchen.“ Sie streicht i… | |
über das Gesicht. | |
Als es richtig losgeht mit dem Boot, Ende der 1990er Jahre, sind die Kinder | |
dabei. Paul und Franz und Luis, Söhne und Neffen, sie schuften unter dem | |
Dach der stickigen Halle, lernen, wie es sich anfühlt, etwas mit den | |
eigenen Händen zu schaffen. Die Erwachsenen nennen sie die Jugendbrigade. | |
„Wir waren damals nicht reich, konnten uns so etwas wie das Boot aber | |
leisten“, sagt Werner. „Komischerweise hatten wir auch die Zeit.“ | |
Doch die änderte sich. Die ehemalige DDR ist nach ein paar Jahren | |
durchrestauriert und trotzdem nicht aufgeblüht. Anfang der 2000er Jahre | |
werden die Aufträge für Restauratoren weniger, die Honorare für Fotografen | |
kleiner, die Zeit wird knapper und die Männer älter, bald vielleicht zu | |
alt. Es ist das erste Mal, dass sie ihren Traum aufgeben wollen. Sie fragen | |
die Jugendbrigade, ob sie ihr das Boot schenken dürfen. Die Söhne sind | |
inzwischen erwachsen, manche auch Restauratoren, haben das nötige | |
Handwerkszeug. Sie lehnen dankend ab. | |
Keine Zeit, sagen die Jungen, und: Wir könnten doch so einen Traum gar | |
nicht bezahlen. – Wo ist nur eure Euphorie?, fragen die Alten. | |
## Bernd | |
Bernd sagt: „Wenn man realistisch ist – das Schiff ist gestorben.“ Es ist | |
Januar, Bernd ist auf dem Weg nach Werben, der Stadt, in der er seit 1984 | |
lebt, erst sporadisch, dann fest. Reif glitzert auf den kahlen Feldern, | |
unten an der Elbe steuert Bernd auf die winzige Fähre zu, auf die nur zwei, | |
vielleicht drei Autos passen, deren Kapitän trotzdem jeden Tag akkurat | |
Uniform trägt. Er setzt ihn über, Bernd startet seinen Motor, fährt in die | |
Kleinstadt mit den schiefen Häusern, deren Rettung er zu seinem Lebenswerk | |
gemacht hat, seinem neuen. Er könnte dem wilden Leben von damals, seinen | |
Freunden und dem Boot ferner nicht sein. | |
Wenn Bernd von diesem Damals erzählt, klingt das so: Gernot und er haben | |
miteinander leben gelernt. Ski fahren, segeln, Kapitalismus, die Kunst, das | |
Alte zu verehren und deshalb bewahren zu wollen. In seiner Küche hängt ein | |
Foto, schwarz-weiß, das Porträt eines alten Mannes. Wer das ist? „Noch so | |
eine Geschichte“, sagt Bernd und beginnt, von Kuba zu erzählen. Wie Gernot | |
und er sich in die Altstadt von Havanna verliebten, man könnte sie doch | |
retten, die alten Häuser, dachten sie. Also zogen sie los, suchten | |
Verbündete, hatten beinahe einen Termin bei Fidel Castro, behaupten sie | |
heute, und am Ende immerhin die Erlaubnis zu bauen. Das passte gut zum | |
Boot, schließlich könnte man damit Baumaterial aus Florida dorthin | |
verschiffen. Der Mann auf dem Foto erinnert ihn jeden Tag daran, es ist der | |
Alte aus Hemingways Novelle. | |
Über die Freundschaft von früher sagt Gernot: „Wir waren mehr als | |
verheiratet.“ | |
„Das hab ich nie wieder erlebt“, sagt Bernd. „Leute, die Gemeinschaft | |
suchen. Die anderen Vorteile verschaffen.“ | |
Später dann: „Doch, hier in Werben habe ich das wieder.“ | |
Nach der Euphorie der ersten Jahre zieht sich Bernd immer mehr aufs Land | |
zurück. Während Werner seine Fotoschule gründet, Gernot ihm später ein Haus | |
für sie baut, Torsten um Aufträge wirbt, sie alle sich – kurz gesagt – in | |
der neuen Normalität zurechtfinden, verschanzt sich Bernd in Projekten in | |
Dessau, kommt immer seltener ins Atelier nach Berlin, wirbt bei | |
Staatssekretären in Sachsen-Anhalt um Fördermittel für die einfallenden | |
Häuser in Werben. Er überredet Durchreisende zu bleiben und eines der | |
Häuser wiederaufzubauen. Es gibt Zeiten, in denen Bernd seinen Anteil an | |
den laufenden Kosten des Bootes nicht zahlen kann. „Wenn Bernd diese Lücke | |
wenigstens mit Tatendrang füllen würde“, sagt Gernot. | |
Wie viel das Boot bis heute gekostet hat, mag niemand hochrechnen. Wie viel | |
es noch kosten würde? 400.000 Euro vielleicht. Wahrscheinlich mehr. | |
Ihre Frauen fragen von Jahr zu Jahr weniger vorsichtig, ob es nicht an der | |
Zeit wäre, sich vom Boot zu trennen. | |
Ich steige aus, sagt Bernd im vergangenen Jahr zum ersten Mal. Er möchte | |
seinen Anteil ausgezahlt bekommen. Aber was soll das sein, fragen sich die | |
anderen, Bernds Anteil? Die unzähligen Arbeitsstunden in der heißen | |
Arbeitshalle? Der Haufen Metall? Ein paar Quadratmeter vom Grundstück in | |
Polen? Und: Darf er das, aus dem gemeinsamen Traum aussteigen? | |
„Ich fände es schön, die Avalon mal zu segeln“, sagt Bernd an diesem Tag … | |
Januar in Werben. „Wir wüssten ja sonst nie, wie das Schiff segelt.“ | |
„Wir brauchen einen Kapitän“, sagt Gernot, „Bernd ist unser Kapitän.“ | |
## Torsten | |
Der Januar ist fast vorüber, als die vier Männer sich in die eine Ecke von | |
Torstens Werkstatt in Berlin-Weißensee drücken, die ein Holzofen wärmt. Der | |
Tisch wackelt, Gernot verteilt Schokoriegel. | |
Torsten wurde erst ein paar Jahre nach den anderen festes Mitglied der | |
Avalon-Crew. „Mir war schon damals klar, das mit dem Boot wird lange | |
dauern“, sagt Torsten. „Aber ans Scheitern habe ich nie gedacht.“ Da war … | |
Bernd, den er aus der Arbeit im VEB kannte, der jedem verkaufen konnte, | |
dass es morgen, ja, morgen schon losginge. Gernot, der kühle Rechner, der | |
Stratege. Werner, der die Pole zusammenhielt. Und er selbst? „Ich gucke, wo | |
ich Kaffee für uns alle herkriege.“ | |
Torstens Rolle ist die des Seemanns. Gleich nach der Wende haut er ab, nach | |
Lissabon, heuert auf einem Schiff an, Azoren, Island. Einmal, als der | |
Atlantik tobt und der Kapitän ihm zuruft, wer über Bord gehe, könne nicht | |
mehr gerettet werden, sieht Torsten Dunkelheit, die man so nur auf See | |
erlebt. Er spürt den Sog des Meeres und wie schwer es für seinen Körper | |
ist, ihm zu widerstehen. Im Kopf der Gedanke, wie einfach es jetzt wäre | |
nachzugeben, sich dem Meer hinzugeben, sich einfach fallen zu lassen, und | |
alles wäre vorbei. | |
Als der Sturm wieder abflaut, ist er mit dem Leben versöhnt und Seemann. | |
Schließlich hat er schon ganz anderes überlebt, die DDR beispielsweise. | |
Torsten ist der Einzige in der Gruppe, der dort nie seinen Platz gefunden | |
hat. Er war aus der FDJ ausgetreten, musste sich verstecken, weil er den | |
Wehrdienst verweigert hat. Seine Freundin zieht mit dem gemeinsamen Sohn in | |
den Westen, und er kann nicht hinterher. Mit dem Mauerfall beginnt sein | |
Leben – mit Techno, neuen Freunden aus Westberlin und Brokkoli, den er bis | |
dahin nicht gekannt hat. Er ist verknallt in die BRD. | |
Die vier sitzen an diesem Januartag in seiner Werkstatt, um sich zu | |
beratschlagen. Der polnische Investor hat sich nie wieder gemeldet, seit | |
dem Sommer ist nichts mehr auf ihrem Grundstück passiert. Die Frau, die | |
dort hin und wieder nach dem Rechten sehen sollte, ist längst dauerhaft ins | |
Haus eingezogen. Vielleicht besser so, denken die Männer, dann kommen keine | |
Diebe. Nur kostet es sie. Vielleicht würden ja auch Touristen kommen, wenn | |
man es dort schön machte? | |
Gernot trägt das Angebot eines Installateurs vor, der eine Heizung einbauen | |
könnte. Schon wieder Zusatzkosten. „Wir haben immer gesagt, wir wollen ein | |
Boot bauen“, sagt er, „mehr nicht.“ Sie entscheiden trotzdem, dass die | |
Heizung installiert wird, für die Touristen, man könnte ja, man könnte ja. | |
Weißt du noch damals, was wir alles konnten? | |
Gernot hat sogar mal mit einem Segelklub in Sankt Petersburg, das er | |
Leningrad nennt, verhandelt und ihm die Baupläne der Avalon geschickt. | |
Statt einer Antwort kam das Paket mehr als ein Jahr später ungeöffnet | |
zurück. | |
Werner erzählt, wie sie bei einem Abendessen vier Freunden vom Boot | |
berichteten und die zusammenlegten, ihm 4.000 Euro gaben. | |
Bernd sagt, sein Sohn könnte ihnen ja eine Website bauen, über die sich | |
Geld sammeln ließe. Crowdfunding, das Wort kommt ihnen nur schwer über die | |
Lippen. Dabei machen sie nichts anderes, seit 30 Jahren. | |
Und was, fragen sie sich, wenn wir das Grundstück in Polen verkauften? Oder | |
das Boot, so wie es ist? | |
Wie viel kostet ein Traum? | |
Da sitzen vier ergrauende Männer und erzählen sich Geschichten, um nicht | |
über die Zukunft reden zu müssen. Bernd sagt später: „Das Leben ist nicht | |
mehr lang. Es gibt nicht mehr viel, was ich machen kann.“ | |
## Avalon III | |
Im Hochsommer dieses Jahres dann die Wendung: Es gibt ein Unternehmen, das | |
das Grundstück in Polen kaufen will. Der Vertrag sei fast | |
unterschriftsreif, heißt es. Die kleine Werft würde dann geschlossen und zu | |
Geld. Startkapital, nicht genug, um das Boot fertig zu bauen, aber | |
ausreichend, um weiterzuträumen. Dieses Mal wollen sie eine Werft | |
beauftragen, die Avalon weiterzubauen. Selbst können die Männer das nicht | |
mehr. Die Knie, die Rücken, die Geduld. Einen weiteren Investor brauchen | |
sie trotzdem noch. | |
„In einem Jahr könnte das Schiff fertig sein“, sagt Gernot, 30 Jahre | |
nachdem Bernd und er in Bobbin standen und vom Reisen auf dem Meer | |
träumten. Werner spricht davon, seinen 70. Geburtstag an Bord zu feiern. | |
Torsten sagt: „Es ist so im Westen: Etwas ist erst dann verkauft, wenn das | |
Geld in deiner Tasche ist.“ | |
Bernd wird nicht mehr dabei sein. Er steigt aus, teilt er den anderen bei | |
einem Treffen im Sommer mit, auf seine Anteile will er verzichten, das | |
werde er bald schriftlich machen, damit alles seine Ordnung habe. Der Brief | |
kommt nicht. | |
Gernots erstes Bild aus seiner Kindheit ist das vom Vater, wie der sich | |
über Holz beugt, Mahagoni, schleift und klebt. Er baut ein Boot. An die | |
erste Fahrt kann Gernot sich nicht erinnern. | |
27 Aug 2018 | |
## AUTOREN | |
Christina Schmidt | |
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