| # taz.de -- Analyse Männer in Ostdeutschland: Der marode Mann | |
| > Der ostdeutsche Mann ist aggressiv, rechts und rassistisch? So einfach | |
| > ist es nicht. Wer ihn verstehen will, muss in die Vergangenheit blicken. | |
| Bild: In der DDR war Solidarität eine Pflicht und keine Herzensangelegenheit | |
| Was ist nur mit dem ostdeutschen Mann los? Angesichts der Ereignisse wie in | |
| [1][Chemnitz], Freital, Köthen könnte man ihn auf Zuschreibungen | |
| zusammenschnurren wie: rechts, populistisch, aggressiv, fremdenfeindlich. | |
| Diese These scheint sich durch das Integrationsbarometer, das der | |
| Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration | |
| gerade veröffentlicht hat, zu bestätigen. Stimmt das so? | |
| Es gibt nicht „die“ und keine einfache Erklärung. Vielmehr handelt es sich | |
| bei dem ostdeutschen Mann, der sich in Chemnitz, Freital, [2][Köthen] auf | |
| fragwürdige Weise entäußert, um den maroden Mann, den machtlosen, | |
| aggressiven, rechten ostdeutschen Mann. Wer den verstehen will, muss diesen | |
| einen berühmten Blick in die Vergangenheit werfen. Denn der marode Mann ist | |
| nicht nur ein Individuum, das für seine Gesinnung und sein Tun selbstredend | |
| die Verantwortung zu übernehmen hat. Sondern auch ein Produkt zahlreicher | |
| historischer, sozialer und regionaler Ereignisse und Besonderheiten. | |
| Nach der Wende hat der marode Mann einiges einstecken müssen. So musste er | |
| zugucken, wie die jungen Frauen und Mädchen, die in der Schule schon besser | |
| waren als er, ihre Sachen packten, in den Westen zogen und Westmänner | |
| heirateten. Der Osten dünnte aus, der marode Mann indes blieb verlassen | |
| zurück. Laut Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung schrumpft der Osten | |
| immer noch, vor allem auf dem Land. 2016 wanderten aus der Peripherie mehr | |
| Menschen ab als dort geboren wurden. Und nach wie vor gehen vor allem | |
| Frauen. | |
| Das macht den maroden Mann sauer, er fühlt sich benachteiligt: als Dörfler | |
| gegenüber den Städtern, als Ostdeutscher gegenüber den Westdeutschen. Diese | |
| gefühlten wie realen Vernachlässigungen machen ihm Angst. Er fürchtet nicht | |
| nur, bis an sein Lebensende allein zu bleiben. Seit einiger Zeit fürchtet | |
| er zudem die männlichen migrantischen Zuwanderer. Männer! Von denen hat er | |
| gehört, dass sie sehr viril und aktiv sein sollen. Er kann das alles zwar | |
| nicht überprüfen, weil er auf der Straße nur wenige von ihnen trifft. Und | |
| er hat schon gar keinen Kontakt zu ihnen. Aber sich an diesem Glauben | |
| festzuhalten, bietet ihm Selbstschutz. | |
| ## Das Versprechen der „blühenden Landschaften“ | |
| Und warum sollte ausgerechnet er „dem Fremden“ helfen und solidarisch sein? | |
| Solidarität fand er in der DDR schon lästig. Solidarität war staatlich | |
| verordnet, eine Pflicht und keine Herzensangelegenheit. Er erinnert sich | |
| noch gut an die Poster über dem Waschbecken im Klassenraum: Ein | |
| vietnamesisches Mädchen mit einem Strohhut schaut ihn ängstlich an, darüber | |
| steht „Solidarität hilft siegen“. Oder das Plakat mit einer Mutter und | |
| deren Sohn, hinter ihnen eine US-Flagge, vor ihnen der Appell: „USA, Hände | |
| weg von Nicaragua und El Salvador“. | |
| Was war der marode Mann froh, das alles hinter sich lassen zu können. Und | |
| jetzt kommt der Staat, der ihm mal „blühende Landschaften“ versprochen hat, | |
| und will, dass er wieder solidarisch ist? | |
| Überhaupt der Staat. Dem hat der marode Mann noch nie vertraut. Damals in | |
| der DDR nicht, wo man selbst gegenüber dem Nachbarn besser verschwiegen | |
| war. Heute kann der marode Mann zwar sagen, was er denkt, der Staat nimmt | |
| fast nichts krumm. Aber das Westpaket, das riecht schon lange nicht mehr so | |
| gut wie in der Erinnerung des maroden Mannes. | |
| ## Druck ablassen am Stammtisch | |
| Der marode Mann hasst Umbrüche. Davon hatte er genug: Land fort, Job | |
| futsch, Frau weg. Wenn jetzt schon wieder alles anders wird, so wie das die | |
| AfD erzählt und wie das Pegida in die Straßen brüllt, dann ist mal Schluss | |
| mit lustig. Nein, noch einen Umsturz will der marode Mann nicht erleben. | |
| Dann doch lieber die AfD wählen und gegen „die Ausländer“ hetzen. Früher | |
| standen „der Ami“ und „der Russe“ vor der Tür, heute „der Afghane“… | |
| Afrikaner“. | |
| Den Druck muss der marode Mann auch mal ablassen. Das kann er gut am | |
| Stammtisch. Manchmal geht ihm das ganz heftige fremdenfeindliche Gequatsche | |
| auch auf die Nerven. Aber was soll er machen? Der Stammtisch ist nun mal | |
| seine Peer Group. Die gibt dem maroden Mann so etwas wie Heimatgefühl. | |
| Doch es gibt leise Hoffnung: Der marode Mann ist – das hat das | |
| Integrationsbarometer ebenfalls herausgefunden – in der Minderheit. Es ist | |
| nicht alles so marode, wie es auf den ersten Blick scheint. | |
| 23 Sep 2018 | |
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| ## AUTOREN | |
| Simone Schmollack | |
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