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# taz.de -- Streitschrift zur Ost-Integration: Tolle Straßen, leere Landschaft
> Warum sind die Ostdeutschen so unzufrieden? Petra Köpping hat Geschichten
> eingesammelt und der tiefen Enttäuschung nachgespürt.
Bild: Landstraße und Radweg bei Fürstenwerder
Ein Buch, das den Osten behandelt; das aber, anders als die meisten
Publikationen zu diesem Megathema, etwas fordert: interessant. „Integriert
doch erst mal uns!“ heißt Petra Köppings „Streitschrift für den Osten“.
Dieser Tage kennt man derlei Ausrufezeichen-Semantik aus Gegenden, wo das
Grundgesetz als Sondermüll betrachtet wird und die, die mit Nazis auf die
Straße gehen, sich ein zweites 1989 herbeihalluzinieren.
Petra Köppings „Integriert doch erst mal uns!“ setzt derlei ein kantiges
„Denkste!“ entgegen. Die Frau weiß, wovon sie schreibt. Die SPD-Politikerin
ist Staatsministerin für Gleichstellung und Integration in Sachsen. Als sie
ihr Amt 2013 antrat, begannen in Dresden, einen Steinwurf vom Landtag
entfernt, die Pegida-Demonstrationen. Köpping ging hin, um mit den Bürgern
ins Gespräch zu kommen. Die beschimpften die Frau als Vertreterin „des
Systems“, dem die Flüchtlinge wichtiger seien als sie. „Integriert doch
erst mal uns!“ war ein Satz, der immer wieder kam.
Köpping erwiderte mit einer Gegenfrage. „Wer sind Sie?“ „Und fast in all…
Fällen war recht schnell nicht mehr die ,Flüchtlingsproblematik' das alles
entscheidende Thema“, schreibt Köpping. „Es ging um etwas viel tiefer
Liegendes. Fast alle Gespräche endeten mit den persönlichen Erlebnissen
während der Nachwendezeit. Obwohl seitdem fast 30 Jahre vergangen sind,
offenbarten sich unbewältigte Demütigungen und Ungerechtigkeiten, die die
Menschen bis heute noch bewegen, unabhängig davon, ob sie sich nach 1990
erfolgreich durchgekämpft haben oder nicht.“
„Durchgekämpft“ – was für ein trauriges Wort für einen offiziell zum
historischen Glücksfall erklärten Vorgang wie die deutsche
Wiedervereinigung. Warum begreifen sich so viele Ostdeutsche noch immer als
Verlierer? Petra Köpping unternimmt den Versuch einer Erklärung. Und sie
entwirft einen Plan, wie die ostdeutsche Seele geheilt und mit dem Westen
versöhnt werden könnte. Die Wehleidigkeit der Ostler will sie ummünzen in
die selbstbewusste Forderung nach Teilhabe.
In sechs Kapiteln beschreibt sie das Defizit der Ostdeutschen. Buchstäblich
jeder hat die Wende als persönlichen Umbruch erlebt. Dass damit für viele
eine Erfahrung des Scheiterns verbunden ist, liegt vor allem an der
Treuhand-Anstalt. Der damalige Kanzler Helmut Kohl (CDU) nannte die Behörde
„alternativlos“. Von seinen großspurig in Aussicht gestellten „blühenden
Landschaften“ sind heute in weiten Teilen Ostdeutschlands Regionen mit
überalterten Bewohnern geblieben, der Staat hat sich zurückgezogen. Das
Ganze durchzogen von tipptopp EU-finanzierten Straßen, die ins entvölkerte
Nichts führen.
Man hört derlei nicht gern. Wo bleibt die Dankbarkeit, fragen sich die
Westdeutschen, wo der Optimismus? Köpping nimmt auch diese Fragen in den
Blick. Sie schreibt, den Ostdeutschen sei „nicht zugehört, ihre
Lebensgeschichte nicht gewürdigt worden“. Damit legt sie den Finger auf den
Triggerpunkt der gestörten Ost-West-Beziehung: Seit 1990 wird die
Wiedervereinigung als Erfolgsgeschichte verkauft. Niederlagen werden
beiseitegeschoben mit dem Argument, die Ostler hätten sich den Westen doch
gewünscht.
Zugleich – und das macht dieses Buch zum Glücksfall – entlässt Köpping i…
Leute nicht aus ihrer Verantwortung als Demokraten. „Alle schlechten
Erfahrungen entschuldigen keine faschistischen Positionen“, stellt Köpping
klar. Es ist ein Satz, der gerade dieser Tage auf den Plätzen von Chemnitz,
Heidenau oder Köthen in den ostdeutschen Himmel geschrieben werden sollte.
15 Sep 2018
## AUTOREN
Anja Maier
## TAGS
BRD
Schwerpunkt Ostdeutschland
Wende
Rechtsextremismus
Lesestück Meinung und Analyse
Köthen
Segeln
DDR
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