| # taz.de -- Strategien gegen Migration: Die Wiederentdeckung Afrikas | |
| > Mehrere Gipfeltreffen wollen Afrikas Märkte öffnen und Grenzen schließen. | |
| > Der Kontinent soll unseren Wünschen gehorchen. | |
| Bild: Viele Interessen der EU und der Industrienationen in Afrika sind nicht au… | |
| Im Jahr 2004 widmete die Unesco Afrika eine Tagung. Ihr Titel: „Der | |
| vergessene Kontinent“. Damals war das fast ein Synonym für Afrika. Das | |
| ist vorbei. | |
| Deutschland hat den Kontinent ins Zentrum seiner laufenden | |
| G-20-Präsidentschaft gestellt. Gleich drei deutsche Bundesministerien – | |
| Entwicklung, Wirtschaft und Finanzen – haben eigene Initiativen dazu | |
| präsentiert. Am Montag kommen afrikanische Staatschefs nach Berlin zum | |
| „G-20-Afrika-Partnerschaft-Gipfel“ – ein Novum. In Genf und Brüssel wird | |
| [1][mit Afrika über Migration verhandelt], und Ende Juni steigt schon die | |
| nächste Afrika-Migrationskonferenz in Berlin. Auch Menschen, die | |
| hauptberuflich die Afrikapolitik erforschen, kommen da kaum mit. | |
| In befremdlichem Gegensatz zu dieser Aufregung steht die Ignoranz gegenüber | |
| der [2][Hungerkrise in Ostafrika]. Das Welternährungsprogramm der UN | |
| spricht von einer „beispiellosen Katastrophe“. 20 Millionen Menschen sind | |
| betroffen, zu ihrer Rettung fehlen noch immer Milliardensummen. Niemand | |
| findet sich, der diese bezahlen will. | |
| Die Agenda der aktuellen Afrika-Initiativen klingt teils gleichwohl so, | |
| als sei sie im Eine-Welt-Laden geschrieben worden: „Wir haben Afrika arm | |
| gemacht“, mit solchen Sätzen wirbt Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) | |
| für seinen „Marshallplan mit Afrika“, der die „postkoloniale Ausbeutung | |
| stoppen“ soll. | |
| ## McKinsey sieht in Afrika „Löwen auf dem Sprung“ | |
| Doch so hehr sind die Ziele der neuen Afrika-Initiativen nicht. Ein Grund | |
| für die politische Betriebsamkeit ist: [3][In Afrika ist viel zu holen]. | |
| Noch jedenfalls. Kontinentweit fast 4 Prozent Wachstum im Schnitt der | |
| letzten 10 Jahre. 11 der 20 Staaten mit den höchsten Wachstumsraten der | |
| Welt liegen in Afrika, wenngleich der Rohstoffboom abflaut. Vom „Löwen auf | |
| dem Sprung“ spricht die Unternehmensberatung McKinsey, vom | |
| „Chancenkontinent“ der Bundesverband der Deutschen Industrie. | |
| China hat sich in den letzten Jahren praktisch flächendeckend in Afrika | |
| eingekauft, gigantische Infrastrukturprojekte angeschoben und sich ebenso | |
| gigantische Flächen Land angeeignet. Die Botschaften Pekings in Städten wie | |
| Bamako stellen die nationalen Ministerien wortwörtlich in den Schatten. | |
| China dürfte der alten Kolonialmacht Frankreich den Rang abgelaufen haben. | |
| Die deutsche Wirtschaft dagegen ist zurückhaltend: Etwa 800 deutsche Firmen | |
| sind in Afrika aktiv, die allermeisten in Südafrika oder dem Maghreb. | |
| Der riesige Raum dazwischen – aus Sicht deutscher Investoren liegt er | |
| brach. Selbst die Türkei und Israel investieren mehr in Afrika als | |
| Deutschland. „Die deutsche Wirtschaft verschläft hier einen Markt“, tadelte | |
| Müller kürzlich. | |
| Neu ist die staatliche Befassung mit Afrika freilich nicht. Ihre | |
| „afrikapolitischen Leitlinien“ inklusive der Rede vom „Kontinent der | |
| Chancen“ etwa formulierte die Bundesregierung 2014. Auch bei den | |
| G-8-Gipfeln 2005 in Gleneagles und 2007 in Heiligendamm war Afrika Thema. | |
| Die aktuelle Ballung diplomatischer Betriebsamkeit aber hat zweifellos eine | |
| neue Qualität. Zu erklären ist sie nur mit der zunehmenden Panik vor der | |
| ungesteuerten Migration. | |
| ## Angst vor „Migrationsdruck“ bewegt Politik zum Handeln | |
| Die Bevölkerung Afrikas wächst doppelt so schnell wie die Asiens. 2050 | |
| werden in Afrika 2 Milliarden Menschen leben – fast doppelt so viele wie | |
| heute. Müller fürchtet einen „gewaltigen Migrationsdruck“ in Richtung | |
| Europa. „Dagegen war alles, was wir bisher erlebt haben, harmlos.“ Bei | |
| einer Veranstaltung mit Müller drückte Verteidigungsministerin Ursula von | |
| der Leyen (CDU) es kürzlich so aus: „Die Ereignisse der letzten zwei Jahre“ | |
| – sie spielte auf die Balkanroute an – „waren ein Weckruf, den wir | |
| verstanden haben.“ Werden die Probleme Afrikas nicht gelöst, „machen sich | |
| die Menschen auf den Weg, wenn sie bedroht sind“. | |
| Zu den Problemen zählt von der Leyen den islamistischen Terror im | |
| Sahelraum. Der, so von der Leyen an anderer Stelle, bedrohe auch die | |
| Versorgung Europas „mit strategisch wichtigen Gütern“ sowie „strategische | |
| Handelsinteressen“. Müller wies darauf hin, dass bewaffnete Konflikte heute | |
| die Hauptursache von Nahrungskrisen seien. Müllers und von der Leyens | |
| Rezept: mehr militärisches Engagement und „Ertüchtigung“ des afrikanischen | |
| Militärs. Getrieben von der Angst vor der Einwanderung aus Afrika, | |
| verschmelzen Migrations-, Sicherheits-, Wirtschafts- und | |
| Entwicklungspolitik so zunehmend. | |
| Die ebenfalls von den Ereignissen auf der Balkanroute ausgelöste | |
| Afrika-Offensive der EU, seit Ende 2015, setzt auf die Verstärkung von | |
| Grenzkontrollen innerhalb Afrikas und auf Rücknahmeabkommen. | |
| Entwicklungshilfe wird konzentriert auf die Staaten, die in Sachen | |
| Flüchtlingsstopp von Bedeutung sind. Am weitesten, wenn auch keineswegs an | |
| ihr Ziel gekommen ist die EU in Niger. Letzten Oktober war Bundeskanzlerin | |
| Angela Merkel dort zu Besuch. Seither wurden dem zweitärmsten Land der Welt | |
| mehrere Hundert Millionen Euro zugesagt. | |
| Niger war der EU so lange gleichgültig, wie es als Transitstaat keine Rolle | |
| spielte. Heute steht das Militär an den wenigen Quellen in der Sahara, auf | |
| dem Weg Richtung Norden. Wer nach Europa will, muss Wege gehen, an denen es | |
| kein Wasser gibt. | |
| ## Nicht alle Staaten lassen sich vereinnahmen | |
| Vor zwei Wochen preschte Italien vor. Es vereinbarte mit Libyen, Niger und | |
| Tschad die Errichtung von Internierungslagern für Migranten in diesen | |
| Ländern. | |
| Doch nicht alle Staaten Afrikas lassen sich auf diese Weise vereinnahmen. | |
| Zu wichtig ist Migration für sie. Dieser Umstand spielt im neuen Bemühen um | |
| Afrika auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik eine wichtige Rolle. | |
| Milliardeninvestitionen sollen nach Afrika gelotst werden und dort eben | |
| nicht nur Rendite bringen, sondern auch Jobs schaffen für junge Afrikaner, | |
| damit diese künftig „eine Zukunft in Afrika haben“, wie es im Marshallplan | |
| heißt – also nicht hierherkommen. | |
| Ein weltfremder Blick auf Migration: Wirtschaftswachstum bedeutet in | |
| Afrika keinen Rückgang, sondern oft eine Zunahme von Migration; Nigeria | |
| ist dafür das beste Beispiel. | |
| Gleichwohl: Afrika soll nicht nur in Sachen Migrationskontrolle und | |
| Terrorbekämpfung eingepasst werden, sondern auch im Bereich der Wirtschaft. | |
| Die am Montag startenden „Compacts mit Afrika“ des | |
| Bundesfinanzministeriums ernennen zunächst sieben reformwillige Staaten zu | |
| Partnern. Ihnen sollen ausgewählten G-20-Staaten und die Weltbank helfen, | |
| Investoren anzulocken – vorausgesetzt, sie leiten Reformen ein. | |
| ## Ungleichheit innerhalb Afrikas wird verstärkt | |
| Auch der Marshallplan von Entwicklungsminister Müller setzt auf Anpassung: | |
| „Wir wollen Reformpartnerschaften mit Reformchampions eingehen“, so Müller. | |
| Dabei gehe es vor allem um „gute Regierungsführung, Rechtssicherheit, | |
| Korruptionsabbau“. Die Entwicklungszusammenarbeit werde sich künftig „auf | |
| reformwillige Staaten konzentrieren. Für die gilt: more for more.“ | |
| Voraussetzung für staatliche Hilfen seien künftig „sichtbare Fortschritte“ | |
| und „eine messbare Entwicklung“. Exakt so spricht die EU über ihren aus | |
| Entwicklungsgeldern bezahlten milliardenschweren Fonds für Länder, die | |
| beim Grenzschutz mitmachen. | |
| Anders als dieser Fonds ist der Marshallplan bislang eine Luftnummer – er | |
| ist mit genau null Euro ausgestattet. Real hingegen sind die bald in Kraft | |
| tretenden Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (EPA) der EU mit Afrika. Sie | |
| setzen die landwirtschaftliche und industrielle Produktion der | |
| afrikanischen Länder der Konkurrenz mit den wettbewerbsfähigeren Produkten | |
| aus der EU aus. | |
| Afrika hat eigene Vorstellungen von seiner Zukunft formuliert, vor allem | |
| im Kontext der Afrikanischen Union. Die will vor allem mehr Integration. | |
| Gerade hier fallen europäische und afrikanische Interessen auseinander: | |
| Der Wunsch nach mehr Grenzkontrollen ist mit dem nach innerafrikanischer | |
| Freizügigkeit unverträglich. Die Aussicht auf westliches Kapital ist | |
| gleichermaßen für Staaten verlockend, die wenige Rohstoffe besitzen oder | |
| unter dem Rohstoffpreisverfall leiden. Was aber ist mit den ganz armen | |
| Ländern, die Hilfe am nötigsten haben? Sie können sich im Wettbewerb um das | |
| beste Investitionsklima kaum durchsetzen. Was ist mit den Staaten, die | |
| keine Rolle spielen für das Grenzmanagement? Sie treten in den Hintergrund. | |
| Die Ungleichheit innerhalb Afrikas wird so verstärkt. Europa und die | |
| Industriestaaten fördern dies – und formen Afrika so einmal mehr nach | |
| ihren eigenen Wünschen und Vorstellungen. | |
| 11 Jun 2017 | |
| ## LINKS | |
| [1] /European-migration-policy-in-Africa/!5417087 | |
| [2] /Hungersnot-in-Ostafrika/!5398695 | |
| [3] /EU-und-Afrika-bleiben-ungleiche-Partner/!5407771 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Jakob | |
| Simone Schlindwein | |
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