| # taz.de -- EU-Report zur Arbeitsplatzabwanderung: Slowdown der Globalisierung | |
| > Europas Populisten wollen Arbeitslosigkeit durch Abschottung bekämpfen. | |
| > Dabei hat der Aderlass in Richtung Billiglohnländer abgenommen. | |
| Bild: Schluss mit Dumping: In China steigen Lohn- und Transportkosten. Hier ein… | |
| Berlin taz | Die Angst vor der unaufhaltsamen Abwanderung von | |
| Arbeitsplätzen in Niedriglohnländer ist unter den Rechtspopulisten | |
| Westeuropas ein beliebtes Wahlkampfthema. In Frankreich fordert Marine Le | |
| Pen im Geiste Trumps „Sozialabgaben“ auf Billigimporte – seien sie aus | |
| China, Mexiko oder Osteuropa. Das Label „Made in France“ solle | |
| obligatorisch und staatlich bevorzugt werden. Die „wilde Globalisierung“, | |
| so heißt es im Wahlprogramm des Front National, müsse durch „intelligenten | |
| Protektionsimus“ gebändigt werden. Rufe nach Abschottung ertönen auch aus | |
| den Niederlanden (Geert Wilders) und Italien (Beppe Grillo). | |
| Der jüngste [1][Offshoring Report] der EU legt jedoch nahe, dass die Flucht | |
| der westeuropäischen Industrie gen Osten längst nicht mehr so rasant | |
| verläuft, wie oft behauptet. Der European Restructing Monitor (ERM) | |
| ermittelt seit 2003 die offiziellen Zahlen und Motive von Großunternehmen, | |
| die in den EU-Ländern spürbaren Stellenabbau betreiben. Sein Befund: | |
| Offshoring, also die meist lohnkostenmotivierte Verlagerung von | |
| Arbeitsplätzen ins Ausland, ist am wenigsten für Jobverluste in westlichen | |
| EU-Staaten verantwortlich. | |
| Am stärksten betroffen seien immer noch die Automobil- und die | |
| Elektronikbranche. Arbeitskosten von fünf statt 50 Euro die Stunde lockten | |
| seit der Öffnung der Arbeitsmärkte zahllose Hersteller nach Fernost und | |
| Osteuropa. Große Produktionsverlagerungen wie von Volkswagen oder Nokia | |
| zogen dabei immer wieder Aufmerksamkeit auf sich. Tatsächlich aber ging | |
| seit 2010 nur einer von zehn Jobs in den EU-Staaten durch Offshoring | |
| verloren. | |
| Besonders in den EU-Staaten Westeuropas habe sich der Aderlass ans Ausland | |
| seit der Finanzkrise halbiert – in der Autoindustrie zum Beispiel von | |
| insgesamt 27.700 gemeldeten Jobverlagerungen zwischen 2003 und 2009 auf | |
| seitdem 10.525. Viel häufiger mussten Industriearbeiter interne | |
| Einsparungen, Rationalisierungen und expansionsbedingte Restrukturierungen | |
| erleiden – auf ihr Konto gehen drei Viertel des Stellenabbaus in | |
| EU-Ländern. | |
| Der ERM erfasst zwar nur einen Teil aller Abwanderungen: es müssen | |
| mindestens zehn Prozent der Stellen eines Großunternehmens ausgelagert und | |
| dabei nicht in mehrere Richtungen umverteilt werden. Der Trend der Zahlen | |
| verleitet die Autoren der Studie nichtsdestotrotz zu der These eines | |
| „globalisation slowdown“, einer Verlangsamung der Globalisierung. | |
| China, dem Le Pen vergangenes Jahr im Europäischen Parlament vorwarf, die | |
| französische und europäische Industrie „verwüstet“ zu haben, hat seit 20… | |
| tatsächlich nur 8,7 Prozent der aus Westeuropa abgezogenen Jobs abbekommen. | |
| Die Löhne in dem Schwellenland haben sich laut Institut für Weltwirtschaft | |
| (IfW) seit 2008 verdoppelt, im Nachbarstaat Vietnam sogar verdreifacht. | |
| Hinzu kamen in China eine exportbehindernde Aufwertung des Renminbi und | |
| einige konfliktreiche Arbeitsgesetze. | |
| Der weite Transport schlägt da immer unprofitabler zu Buche und | |
| „Nearshoring“ erlebt eine neue Blüte. „Mittel- und Osteuropa liegen uns | |
| nicht nur geografisch näher“, meint Thomas Hutzschenreuter, Professor für | |
| Internationales Management an der TU München. Die Institutionen in Ländern | |
| wie Tschechien, Polen oder der Slowakei seien uns vertrauter und man könne | |
| von dort aus viel schneller auf Aufträge reagieren, als bei fernöstlichen | |
| Distanzen. Fehlende Flexibilität ist laut ERM-Report der am häufigsten | |
| genannte Grund deutscher Unternehmen, ihre Abenteuer in Asien wieder | |
| abzubrechen. | |
| Der zweithäufigste Grund ist die Qualität. „In der Hochphase des Offshoring | |
| hat es teilweise eine Goldgräberstimmung gegeben“, so Hutzschenreuter. | |
| Viele mittelständische Unternehmen hätten sich von den Billiglöhnen | |
| verführen lassen und am Ende mangelhafte Ware erhalten. Das gilt aber nicht | |
| nur für China: Der deutsche Tresorbauer Format zum Beispiel holte seine | |
| Produktion 2005 wegen des gesunkenen Standards wieder aus Polen zurück – | |
| und weil in Mitteleuropa immer wieder harte Streiks ausgefochten werden. | |
| Die Anziehungskraft Osteuropas für westeuropäisches Offshoring ist seit der | |
| Finanzkrise von 54 auf 35 Prozent gefallen, so der Report. | |
| ## Keine neue Beobachtung | |
| Der Trend zum „Reshoring“ wird nicht zum ersten Mal beobachtet. Seit Jahren | |
| verkündet der Verein Deutscher Ingenieure, die „Milchmädchenrechnung“ der | |
| Billigproduktion im Osten sei nun aufgeflogen. „Made in Germany schlägt Low | |
| Cost“, deklamierte 2012 der damalige Vereinspräsident Bruno Braun. Der | |
| ERM-Report bestätigt, dass seinerzeit auf zwei Auslandsverlagerungen | |
| deutscher Hersteller elektronischen Werkzeugs eine Rückverlagerung | |
| erfolgte. Frankreich ging so weit und gründete 2008 einen Strategischen | |
| Investmentfond, der Rückkehrern mit Krediten beisteht. | |
| Holger Görg, Forscher des IfW zur internationalen Arbeitsteilung, warnt | |
| jedoch davor zu glauben, die Globalisierung hätte ihren Höhenflug hinter | |
| sich gelassen. Nur weil weniger Arbeitsplätze in Niedriglohnländer abzögen, | |
| hieße das nicht, dass uns weniger von dort zugeliefert würde – im | |
| Gegenteil. „Die Autoindustrie hat ihre Auslandsverlagerungen in weiten | |
| Teilen bereits vollzogen und versucht nun, die Zulieferungsanteile zu | |
| optimieren“, so Görg. Ein deutsches Exportauto werde bereits zu einem | |
| Drittel im Ausland angefertigt – im Jahr 2000 war es bloß ein Fünftel. | |
| Von dem Ausbau günstiger Zuliefererfabriken in Mittel- und Osteuropa seien | |
| deutsche Fachkräfte jedoch wenig betroffen, wenn sie sich auf ihr | |
| Kerngeschäft spezialisierten, erklärt der IfW-Forscher. „Deutschland steht | |
| am Ende einer High-Value-Produktionskette. Eine Teilverlagerung der | |
| Fließbandarbeit in ärmere Länder ist sinnvoll und kann dort Entwicklungen | |
| anstoßen“, sagt Görg. Statt Abschottung zu betreiben müsse hier parallel, | |
| wie in China, Weiterbildung betrieben und politisch gefördert werden. | |
| Ein Anstieg von Qualifikation und Qualität in einem Schwellenland ist | |
| derweil kein Garant, dass es auch seinen Status als Billigstandort | |
| verliert. Indiens IT-Fachkräfte zum Beispiel hinken dem deutschen Know-How | |
| heute kaum hinterher, wohl aber dem Lohnniveau. 2008 gingen bereits zwei | |
| Drittel der von Deutschland outgesourcten IT-Aufträge an Indiens viel | |
| kostengünstigeren Arbeitsmarkt – ohne Transportkosten, ohne Zölle. Nach | |
| Einschätzung Görgs sind in der IT-Industrie noch enorme Offshoringwellen zu | |
| erwarten. Die „wilde“ Globalisierung – sie wird vermutlich so schnell vom | |
| Programm nicht verschwinden. | |
| 16 Mar 2017 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.eurofound.europa.eu/publications/annual-report/2017/erm-annual-… | |
| ## AUTOREN | |
| Patrick Jütte | |
| ## TAGS | |
| Globalisierung | |
| EU | |
| Arbeitslosigkeit | |
| Osteuropa | |
| China | |
| Arbeitsplätze | |
| Auto-Branche | |
| Streik | |
| Globalisierung | |
| Arbeitsmarkt | |
| Freihandel | |
| Erneuerbare Energien | |
| Soziale Gerechtigkeit | |
| Automobilbranche | |
| Dieselskandal | |
| Arbeitslosengeld | |
| Opel | |
| Mauer | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Unfaire Löhne in der Slowakei: VW-Mitarbeiter beenden Streik | |
| Die Volkswagen-Arbeiter in der Slowakei fühlten sich gegenüber ihren | |
| deutschen Kollegen unterbezahlt. Ihr erster Streik zahlt sich aus. | |
| Debatte Globalisierung und Populismus: Angriff der Moderne | |
| Nur ein Teil des überfälligen Abschieds von einer liberalen Weltordnung: So | |
| sieht man populistische Strömungen im Westen von Asien aus. | |
| Arbeitsmarktprognose 2017: Job-Boom im Wahljahr erwartet | |
| Arbeitsmarktforscher sagen eine Rekordbeschäftigung für 2017 voraus. | |
| Flüchtlinge beeinflussen die Arbeitslosenstatistik nur gering. | |
| Merkel und Abe bei der Cebit-Eröffnung: Ein Plädoyer für Freihandel | |
| Die Kanzlerin und Japans Ministerpräsident Shinzo Abe distanzieren sich von | |
| Trumps Isolationismus. Sie wollen das EU-Japan-Freihandelsabkommen schnell | |
| besiegeln. | |
| Firma zieht's zum Markt: Wohin der Wind auch weht | |
| Windanlagenbauer Senvion streicht 780 Arbeitsplätze und schließt Standorte | |
| in Husum und Bremerhaven. Grund: Der Markt wächst am anderen Ende der Welt | |
| Studie zu Lohnsteigerungen in der EU: Es funktioniert nur in Deutschland | |
| Viele verdienen heute sogar weniger als zu Beginn der Finanzkrise, zeigt | |
| eine Studie. Die Ergebnisse widersprechen den Erfolgsmeldungen der EU. | |
| Ignoranz der Autobauer für China: Elektrisch? Och nö | |
| China ist für die Autobranche der größte Markt. Doch die Regierungspläne | |
| für mehr Elektroautos sorgen für Widerstand. | |
| Kalifornische Umweltbehörde: VW-Skandal wohl kein Einzelfall | |
| Die Abgas-Affäre bei Volkswagen kam in den USA ans Licht. Eine | |
| Chef-Aufklärerin sprach nun vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestags. | |
| Änderungen der Agenda 2010: Q wie Qualifizierung | |
| Die SPD beschließt die Forderung nach Verbesserungen beim Arbeitslosengeld | |
| I. Weiterbildungen sollen früher und länger möglich sein. | |
| Europäische Autoindustrie: PSA kauft Opel für 1,3 Milliarden | |
| PSA und GM haben sich auf einen Kaufpreis geeinigt. Der französische | |
| Autobauer will mit der Übernahme von Opel zur Nummer zwei in Europa werden. | |
| Kommentar Hochtief und Mexiko: Niemand hat die Absicht … | |
| Deutsche Kernkompetenz? Echte Nachhaltigkeit? Hochtief pfeift drauf und | |
| verkündet, Trumps Mauer zu Mexiko doch nicht bauen zu wollen. |